V. Siedlungsgeschichte.

Eine sehr große Anziehungskraft hat die auf geschichtlicher Grundlage geförderte Siedlungskunde bewährt. Es ist dabei vorerst einiger Schriften zu gedenken, die in allgemeiner Orientierung dieses Forschungsgebiet behandeln. Ein erster Versuch der Zusammenfassung liegt in R. Mielkes ( 367) »Siedlungskunde des deutschen Volkes« vor. Mit hellem, feinem Verständnis für die bauliche Eigenart und Schönheit der Siedelweise in Stadt und Land hat M. sein Buch geschrieben. Treffend hebt er die Unterschiede des Siedlungsbildes hervor, die sich weit und breit in deutschen Landen beobachten lassen, und bewährt offenen Blick für das Wesen volkstümlicher Siedlungssitte und die glückliche Einpassung in die Landesnatur. Nicht im gleichen Maße befriedigt die Behandlung des Geschichtlichen; ein deutliches Bild des Werdeganges und der Ausbreitung deutscher Siedlung in ihren geschichtlichen Zusammenhängen wird kaum gegeben, auch die Erklärung der Siedlungsformen (Einzelhof, Haufendorf, Straßendorf, Rundling u. a.) bedarf eines verstärkten geschichtlichen Unterbaus. Einer in historisch - geographischer Hinsicht vertieften Auffassung des Siedlungswesens streben »Die deutschen Siedlungsforschungen« zu (Rud. Kötzschke in Leipzig dargebracht) ( 359). Herausgegeben sind sie von W. Uhlemann, der in einem einleitenden Überblick den gesamten Aufgabenkreis vergleichender Siedlungsforschungen für das deutsche Volksgebiet umschreibt (natürliche Gegebenheiten, Siedelräume, Ermittlung geschichtlicher und volkstümlicher Tatsachen, Wesen und Verbreitung der Siedlungsform, Wüstungsproblem). Daran schließen sich Erörterungen R. Martinys über »Morphologische Siedlungsforschung«, in denen eine theoretische Durchdringung des Formenproblems zum Zwecke klarer Typenbildung unternommen wird. Über neue Wege einer induktiv-vergleichenden Methode zur Förderung der siedlungsgeschichtlichen Fragen berichtet Fr. Walter ( 365) auf Grund von Erfahrungen, die an Studien über das meißnisch-sächsische Elbland gewonnen wurden; die Herstellung einer großen Anzahl von Karten über Bodenart und Bodenanbau, Klima und Wirtschaftsformen in der Gegenwart hat zur Unterscheidung von Verbreitungsgebieten geführt, deren Bedeutung für die Siedlungsverhältnisse älterer Zeiten sich durch die Bodenfundforschung, durch die Orts- und Flurnamen und die Nachrichten der Agrargeschichte erweisen läßt. Auch die Methode völkerkundlicher Forschung ist auf die Siedlungsfragen unseres


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Landes mit Erfolg anwendbar, wie Fritz Krause ( 402) an dem Beispiel der Ortsformen und der Anlage von Haus und Gehöft zeigt, indem er zugleich die von ihm praktisch gehandhabte Methode volkskundlicher Ermittlungen in Leipzigs unmittelbarer Umgebung kennzeichnet. Auf andere Beiträge zu diesem Werk wird nach dem sachlichen Zusammenhang hingewiesen. Über die große Bedeutung der deutschen Bevölkerungsgeschichte und die mannigfaltigen sich dabei ergebenden Aufgaben handelt ein Vortrag E. Keysers ( 360); auch auf die Wanderungen und Ansiedlungen wird dabei eingegangen, besonders ist die Notwendigkeit planmäßiger, umfassender Forschungen zur Bevölkerungsstatistik und das dafür von verschiedenen Seiten her notwendige Zusammenarbeiten betont.

In großer Zahl liegen Einzelbeiträge zur Siedlungsgeschichte bestimmter Landschaften vor. In nicht wenigen unter ihnen werden Beobachtungen mitgeteilt, denen wirklich allgemeine Tragweite zukommt. Eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung wird von Fr. Steinbach ( 370) in einem Aufsatz »Gewanndorf und Einzelhof« erörtert. Indem er von Beobachtungen in der heutigen Rheinprovinz ausgeht, kommt er auf die auch für Württemberg von Gradmann festgestellte Tatsache, daß sich die großen Dörfer mit Gewannfluren in den ältesten großflächigen Siedelräumen, den »Börden«, finden, während das Vorherrschen des Einzelhofes am Niederrhein durch andere Bodenart begründet ist. Doch will St. (mit Dopsch) den Gewannflurtypus nicht aus der altgermanischen Flurverfassung mit Feldgemeinschaft erklärt sehen, betont vielmehr die jüngere Entstehung der Gewannverfassung am Nieder- und Mittelrhein, in Gegenden, wo vorerst Hofverfassung bestand. Es wird gewiß mit Recht betont, daß die Siedlungsforschung auch den Wandlungen in jüngeren Zeiten mehr ihre Aufmerksamkeit zuwenden muß; sicher darf man sich eine Gewannanlage im frühen MA. nicht einfach nach dem Bilde neuzeitlicher Flurkarten vorstellen. Doch lehrt die Erfahrung, daß auch bei eintretendem Wandel der ältere Siedlungs- und Flurtypus nachzuwirken pflegt. Das Dasein eines feldgemeinschaftlichen Momentes bei den Germanen nach dem Recht der gemeinsamen Arbeit bei der Landnahme (agri ab universis occupantur) ist jedenfalls durch Tacitus so deutlich zum Ausdruck gebracht, daß auch die Auslegung nach der jetzt »herrschenden« Lehre es nicht zu erschüttern vermag. Eine wichtige Beobachtung zur Wirtschaftsgeschichte teilt Phil. Hammer ( 1480) mit; er weist nämlich im Unterelsaß eine Anzahl von Dorffluren nach, in denen bis in neueste Zeiten hinein Zweifelderwirtschaft betrieben worden ist. Darin glaubt er ein Zeugnis für sehr altertümlichen Brauch erweisen zu können: Nicht die wilde Feldgraswirtschaft, sondern die Zweifelderwirtschaft (mit schwarzer Brache) soll das Ackerbausystem der Germanen gewesen sein, wie es bei Tacitus, ja schon in den Nachrichten Cäsars bezeugt sei. Ursprünglich war das genutzte Anbauland nur klein, auf dem besten Boden der Flur; allmählich ward der eine wie der andere Feldschlag vergrößert, wobei die Verteilung nach Losstücken geschah. Die Nachkommen der germanischen Stämme (Triboker und Nemeter), die sich auf dem linken Rheinufer schon in Cäsars Zeit festgesetzt hatten, hielten, wie H. meint, an ihrer alten Wirtschaftsweise fest, während anderwärts später bei der Niederlassung die Dreifelderwirtschaft sofort zur Anwendung gekommen sei, deren Einführung etwa bis um 350 angenommen werden kann. Die starre Bewahrung der einmal in Betrieb befindlichen Felderwirtschaft


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wird mit den Schwierigkeiten einer Änderung bei der verwickelten Besitzverteilung nach dem herrschenden Gewannsystem erklärt. In der Tat verdient die hier beobachtete Erscheinung bei einem künftigen Aufriß der gesamten deutschen Siedlungs- und Agrargeschichte sorgsame Beachtung.

Einige lehrreiche Arbeiten liegen für das westfälisch-niedersächsische Gebiet vor, deren Ergebnisse in siedlungsgeschichtlicher Hinsicht in den Grundzügen übereinstimmen. Die Besiedlung des Osnabrücker Landes hat Joh. Vincke ( 393) behandelt. Mit Recht erklärt er dieses Gebiet als eines der ältesten deutschen Kernlande. Die Ursiedlung vollzog sich, wie dargelegt wird, in Dorfschaften; nur örtlich mag sich einmal eine Bauernschaft durch Aufteilung eines alten Stammhofes entwickelt haben. Die sog. Sadelhöfe, deren Inhaber Beisitzer in den Godingen waren, sind als sehr alte Höfe in der Regel anzusehen, aber nicht schlechthin als die Stammeshöfe, da sie auch jüngeren Ursprungs sein können; die Meierhöfe werden als jüngere Gründungen gekennzeichnet. Danach wird näher auf die Verhältnisse der Mark, Hufe und Hof, die Erben, die Kotten u. a., auch die besonderen Besiedlungsarten (z. B. Kirchdörfer) eingegangen. Wertvoll ist die Beigabe eines Viehschatzregisters von 1490. Den gemeinen Marken im Fürstentum Osnabrück hat Rud. Middendorf ( 1433) eine ausführliche Untersuchung gewidmet, der eine Behandlung der ältesten Besiedlungsgeschichte vorausgeschickt wird. Bei der Begriffsbestimmung der Mark wird zweierlei unterschieden: die Mark im weiteren Sinne (die bei der Ansiedlung unberührt liegen gebliebenen Ländereien, die einem unbeschränkten Kreise von Nutznießern zur unbeschränkten Nutzung dienen) und die Mark im engeren Sinne, die unter einer bestimmten Nutzungsverfassung liegt, nicht im Privateigentum stehende, unbebaute Ländereien und Liegenschaften (meist Weide, Wald und Ödland), die sich im Eigentum einer gemeindeähnlichen Körperschaft (Markgenossenschaft) befinden und den Mitgliedern dieser Körperschaft (Markgenossen) als Gegenstand von allerhand Nutzungsrechten dienen. Der Begriff der Markgenossenschaft tritt also erst mit Ausbildung einer korporativen Verfassung am Markboden ins Leben. Für die Zeiten altgermanischer Siedelweise wird Ackerbau in einer Art von Feldgemeinschaft und Nutzung an der Mark im weiteren Sinne angenommen; daraus entwickelte sich erst später die sächsische Hofverfassung und die Ausbildung der organisierten Markungen, wie es schon Schotte annahm. Diese markgenossenschaftliche Verfassung wird sodann im einzelnen geschildert; sehr genau stellt der Verfasser den Verfall seit Ende des 16. Jhds. dar, der später noch einmal bekämpft worden ist, bis die Markenteilungen des ausgehenden 18. Jhds. und mehr noch des 19. Jhds. der älteren Markverfassung ein Ende bereiteten. Bemerkenswert ist, daß beide, Vincke wie Middendorf, die Fluranlage in Eschen als älter, die Kämpe als jünger erklären, ein Ergebnis, zu dem schon Rothert und Martiny für den deutschen Nordwesten gekommen waren. Eine gute Einzelstudie bietet C. Baasen ( 395) für das Oldenburger Ammerland, im Grunde nur für ein einzelnes Amt, Westerstede, das aus drei ma. Vogteien zusammengefügt worden ist, dafür aber in sehr gründlicher Erörterung, namentlich mit guten Beobachtungen über Bodenart und Landwirtschaftsbetrieb. Nach einer Schilderung der Landesnatur, des älteren Zustandes der Wege und der Zeugen vorgeschichtlicher Besiedlung geht Verf. auf die Entstehung und Entwicklung der Siedlungsformen ein, wobei die Gewannsiedlungen mit den Eschfluren und


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die jüngeren Kampsiedlungen geschieden werden. Als Wirtschaftssystem wird Einfelderwirtschaft nachgewiesen mit Anbau verschiedener Getreidearten; die Entstehung der Eschflur ist so zu denken, daß zunächst nur eine sehr kleine Fläche bestellt und ganz allmählich die Gewanne in den feldmäßigen Anbau einbezogen worden sind. Als jüngere Siedlungen erweisen sich die mit Fluranlage in Kämpen, wobei wiederum solche einer älteren Gruppe von den zwischen den Dörfern in neuer Zeit angelegten Feldsiedlungen und den ganz jungen Fehnsiedlungen geschieden werden. Geschichtliche Nachrichten über die einzelnen Dörfer und die darin befindlichen Bauernstellen schließen sich an, sowie originelle Ausführungen über Entstehung der Familiennamen als siedlungsgeographisches Problem. Die Siedlungsverhältnisse Ostfrieslands hat N. Harders ( 396) zum Gegenstand einer Studie unter geographischem Gesichtspunkt gemacht, mit Berücksichtigung von Stadt und Land. Eine Übersichtskarte der Siedlungen ist beigefügt (1:200 000), leider keine Auswahl von Kartenbeispielen für die Orts- und Flurform. Bemerkenswert ist die Schilderung der Warfdörfer; der Begriff der Schwarmsiedlung wird eingeführt, anscheinend in etwas anderem Sinne als dies Martiny getan hat. Auch auf die Geschichte der Besiedlung wird eingegangen, im wesentlichen mit Hilfe der Ortsnamenforschung nach den von Schlüter aufgestellten Perioden. Mit Recht wird gesagt, daß die Siedlung der Altmarsch, mag sie auch von der See her erfolgt sein, nicht älter ist, als die Besiedlung der Geest (losere Haufensiedlung, mit einst gewannähnlicher, doch in Kämpe umgewandelter Flur); die Polder- und Deichreihensiedlungen der Neumarsch und die Fehnsiedlungen sind natürlich auch hier jüngerer Entstehung. Einzelsiedlungen (Plaatsen) finden sich überall in Marsch und Geest eingestreut. Für Württemberg, dessen Siedlungskunde seit den Forschungen Gradmanns so glücklich gefördert ist, liegt eine sorgfältige Studie Dietr. Webers ( 382) vor, die den Wüstungen des Landes gilt. Einer sorgsamen Verzeichnung aller jetzt feststellbaren Wüstungen (insgesamt 1920) mit Angaben über die Lage und, wo es möglich ist, über Siedlungsform, Zeit und Ursache der Verödung folgt eine Beschreibung der Teilgebiete des Landes im Hinblick auf das Wüstungsproblem. Den Abschluß bildet eine Gesamtbetrachtung und Erörterung der verschiedenen Theorien über Ursachen des Wüstwerdens (Kriegstheorie, Fehlsiedlungstheorie, Theorie Grunds über Wirksamkeit spätma. Wirtschafts- und Agrarkrisis, Theorie der Siedlungsverlegung, wie mit einem glücklich gewählten Ausdruck neu gesagt wird), wobei der zuletzt genannten Erklärungsweise -- freilich in Verbindung mit der Krisentheorie -- die größte Bedeutung beigelegt wird. Die Frage müßte einmal daraufhin untersucht werden, ob sich in den großen Dörfern mit ihren Gewannfluren ein Aufgehen wüster Orte mit Flurzubehör nachweisen läßt. Erläuternde Kartenskizzen sind beigegeben.

Als eine wissenschaftliche Leistung von großer weittragender Bedeutung sowohl für die historische politische Geographie wie auch für die Siedlungsgeschichte ist ein Werk von Otto Stolz ( 373 a) zu würdigen: »Die Ausbreitung des Deutschtums in Südtirol«; zunächst liegt der 1. Bd. vor, nach einer Einleitung die »Geschichte der dt.-italienischen Sprachen-, Völker- und Staatenscheide im Etschtal«. Eine außerordentlich gründliche Arbeit in wissenschaftlichem Geist ist darin niedergelegt, mehrfach in scharfer Auseinandersetzung mit ungegründeten, ja bisweilen oberflächlichen und entstellenden Behauptungen


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italienischer Autoren (N. Tolomei, C. Battisti). Der Verf. stellt die Entwicklung der politischen Gebiete vom frühen MA. bis in neuere Zeiten dar und zeigt dabei, wo die Grenzen des langobardischen Reichs gegen das bajuvarische Herzogtum, später die Grenze des dt. Reichs und der zu ihm politisch gehörigen Territorien (Hochstifter Trient und Brixen im 11. bis 13. Jhd., seit 1250 Grafschaft Tirol) gegen das Königreich Italien, zeitweilig gegen die Republik Venedig lagen und so fort bis in die jüngste Vergangenheit. Hauptaufgabe ist, die wirklich in den Quellen erkennbare deutsche Siedlung zu erweisen. Sehr sorgsam werden alle Zeugnisse verschiedenster Art (Urkunden, geschichtliche Nachrichten, die Rechtsbekenntnisse von Einzelpersonen, Orts- und Flurnamen) daraufhin geprüft, ob sie Aufschlüsse über das dte. Volkstum zu geben vermögen. Diese Untersuchungen sollen für die verschiedenen Einzellandschaften durchgeführt werden. Zunächst geschieht es für das südlichere Etschgebiet. Deutsche, d. h. bajuvarischer Abstammung gab es im Lande um Trient schon im 8. und 9. Jhd.; aber durchgedrungen ist deutsches Volkstum dort nicht, zumal da die Langobarden in ihren Kriegersiedlungen zum Grenzschutz, den Arimannien (teils Grundherren, teils selbständige freie Bauern auf zugewiesenem Staatsland), wohl schon früh der Romanisierung verfielen. Während die Lande südlich des Brenner, das Eisacktal, das Pustertal und das obere Bozener Becken, schon seit dem frühen MA. deutsch besiedelt worden waren, sind etwas später im 12. und 13. Jhd. auch das Bozener Unterland und Überetsch durch die Ausbreitung bayerischer Siedlung ganz überwiegend dem Deutschtum gewonnen bis zur Salurner Klause. Auch im Bistum Trient fand das Deutschtum weite Verbreitung. Ein Rückstoß der Italienität erfolgte im Trentino seit dem 16. Jhd., dort blieben nur deutsche Sprachinseln zurück; ja es drang dieser Stoß auch über Welschtirol hinaus weiter nordwärts vor, so daß sich italienische Minderheiten bis in die Gegend von Bozen vom 17. bis 19. Jhd. bildeten. Es ist also nicht richtig, zu behaupten, daß das Deutschtum um Bozen erst eine künstliche Schöpfung der österreichischen Regierung in der Neuzeit gewesen sei. Ein sehr interessanter Abschnitt ist der Ausbildung der Idee »Italien bis zum Brenner« (Italia el fino Brennero) gewidmet. Im MA., auch bei Dante, besteht der Gedanke noch durchaus nicht. Erst um die Mitte des 16. Jhds. taucht er in einem geographischen Werk auf (bei J. Pincius); er begann dann in der napoleonischen Zeit eine Rolle zu spielen, bis er erneut von Mazzini aufgegriffen und zur politischen Losung seit 1848 gemacht wurde: nicht begründet in der Landesnatur wegen der wirklichen Bedeutung der Wasserscheide am Hauptkamm der Alpen, auch nicht in der Geschichte der Staatenbildung und des Volkstums; sondern eine wissenschaftlich eingehüllte Forderung italienischer Machtpolitik. -- In diesem Zusammenhange sei sogleich auch eine kleinere lehrreiche Schrift von O. Stolz ( 375) erwähnt »Zur Verkehrsgeschichte des Jaufen« (Paß von Sterzing nach dem Passeier- und oberen Etschtal). Der schon durch die Geschichte des »Tiroler Rodwesens« bekannte Verfasser schildert hier nach Quellen seit dem 13. Jhd. anschaulich den Frachten- und Personenverkehr, wobei besonders auf die mit Saumtieren über Land bis über den Brenner hinausziehenden »Samer« von Passeier eingegangen wird.

Eine lebhafte Forschung hat sich der Siedlungsgeschichte des deutschen Ostens zugewendet. Einen neuen Überblick über die ostdeutsche Kolonisation des MA. bringt K. Hampe ( 406), wobei die Eigenart der Besiedlungsvorgänge


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und die darauf wirkenden Einflüsse in den einzelnen Landschaften einsichtig beleuchtet werden; die Schrift ist unter geopolitischen Gesichtspunkten abgefaßt, zugleich um die Lage des heutigen Grenzlandsdeutschtums im Osten aus der Geschichte verstehen zu lehren. Auf der Konferenz landesgeschichtlicher Publikationsinstitute in Breslau 1926 war die Förderung der ostdeutschen Siedlungsgeschichte zur Erörterung gestellt worden. Die dabei gehaltenen Vorträge liegen nunmehr im Druck vor: Fritz Curschmann ( 362) umschreibt in allgemeiner Übersicht »Die Aufgaben der Historischen Kommissionen bei der Erforschung der mittelalterlichen Kolonisation Ostdeutschlands«. H. Witte ( 361) berichtet über den Fortgang des unter seiner Leitung bestehenden Unternehmens der »Forschungen zur Geschichte des Deutschtums im Osten«, wobei der Nachdruck auf die Momente gelegt werden soll, die einen Schluß auf die Volkszugehörigkeit gestatten. -- Die schon oben erwähnte Arbeit des Freiherrn v. Guttenberg ( 186) hat auch nicht geringe Bedeutung für die Siedlungsgeschichte der Obermainlande. Er betont die Fortdauer vorfränkischer germanischer Besiedlung, schränkt die Ausbreitung und Stärke der slawischen Siedlung -- im Vergleich zu den Ausführungen Marg. Bachmanns -- nicht unwesentlich ein und schildert die ostfränkische Kolonisation seit Ausgang des 7. Jhds., die sich durch Anlage von Königsgütern und Herrenhöfen mit zahlreichen Eigenleuten, aber auch durch Ansiedlung freier Grundeigentümer vollzog. Dem Bistum Bamberg wird eine bedeutsame kolonisatorische Tätigkeit nicht zugeschrieben.

Der Meinungsstreit über den Ursprung des Deutschtums in den Sudetenländern wird fortgeführt. Seine Auffassung des Fortbestehens germanischer Besiedlung hat B. Bretholz ( 429) erneut an einer Stelle dargelegt, wo er sich an einen weiteren deutschen Leserkreis wendet, wieder mit entschiedener Ablehnung von »Palackys Kolonisationstheorie«. Dies hat den Anlaß dazu gegeben, daß Joh. Leithold ( 430) in eine Prüfung der einschlägigen geschichtlichen Quellenzeugnisse eintrat, in ruhig sachlicher Darlegung, freilich ohne auf die schon früher gepflogene kritische Erörterung der angezogenen Nachrichten Rücksicht zu nehmen. Die Fragestellung »Kolonisation oder Kontinuität« ist überhaupt allzusehr zugespitzt. Das Verbleiben germanischer Volksbestandteile in Böhmen und Mähren wird von den Historikern, wenigstens auf deutscher Seite, durchaus zugegeben; schon wird mit Erfolg nachgespürt, wo dies in bestimmtem Ausmaß erweisbar sein dürfte. Aber damit ist noch nicht entschieden, ob das gesamte Deutschtum, wie es sich später in Böhmen und Mähren findet, darauf zurückzuführen ist. Das in den Randlandschaften breitsiedelnde deutsche Volkstum ist ohne Zuwanderung und Kolonisation auf einst unangebautem Boden nicht zu erklären; die Mundarten, die Ortsnamengebung, die Siedlungsformen, auch einzelne geschichtliche Nachrichten sprechen deutlich für Ausbreitung von den Nachbargebieten her im Westen und Osten. Ein gewichtiges Wort zu der Frage wird die Archäologie zu sprechen haben. In dieser Hinsicht sind lehrreich die Mitteilungen Ad. Mahrs über die spätesten Reste vorhistorischen Germanentums in Böhmen (Mitt. Anthrop. Gesellsch. Wien 57, 71--80). Geschildert werden die Funde in den Brandgräbern der Kulturstufe Pičhora (bei Ellbogen; Dobřichov I) und Dobřichov II (Třebicka, 200 bis etwa 420) und danach die merovingische Kultur nach Gräbern mit Skelettbestattung (Wießen und Vinařice). Als Träger dieser Kultur wird eine germanische


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Bevölkerung in Böhmen angesehen, die als ein Stammesgemenge unter sächsischer Führung erscheint; sie war nicht sehr dicht verbreitet (im Mittelgebiet der Elbe und am Unterlauf ihrer westlichen Zuflüsse), konnte sich nach dem Abzug der Langobarden nach Italien (568) nicht mehr halten und mag um 600 erloschen sein. -- Eine aufschlußreiche und auch methodisch beachtenswerte Arbeit hat Joh. Leipoldt ( 408) zur Geschichte der ostdeutschen Kolonisation des Vogtlandes (im weiteren Sinne) abgefaßt. Die Untersuchung gründet sich, nach vorausgeschickten Darlegungen über die Landesbeschaffenheit, auf die Erforschung der Siedlungsformen. Orts- und Flurform wird dabei kombiniert, wie dies schon Gradmann getan hatte; doch wird in der Unterscheidung örtlich verschiedener Grundformen eine möglichste Verfeinerung angestrebt. Ein neuer Flurtyp, der als ein Grundbegriff in der Siedlungskunde allgemeiner Eingang finden könnte, ist der des Gelängetypus; darunter versteht L. Gliederung der Flur in lange Stücke, welche Feld, Wiese und Wald enthalten, wobei mehrere solcher Gelänge zu einem Besitztum gehören, nicht nur ein einheitlich geschlossenes Nutzland, wie dies bei den Waldhufen der Fall ist. Die Tatsachen der Verbreitung der Siedlungsformen werden mit denen der Mundart, charakteristischer Orts- und Flurnamen, auch der politischen Bezirke (Herrschaften) verglichen und darauf die Darstellung der Besiedlungsgeschichte von vorgeschichtlichen Zeiten bis zum Ausgang der ostdeutschen Kolonisation aufgebaut. Auch dieser Arbeit sind Übersichtskarten und Skizzen beigegeben. Die Besiedlung des sächsischen Elbkessels hat O. E. Schmidt ( 413) darzustellen versucht. Er betont dabei stark den deutschen Einfluß (im Gau Nisani), etwa seit 1144 und erklärt den Rundling geradezu als das »Sinnbild der neuzugewanderten deutschen Gemeinde«. Manche neuen hier geäußerten Gedanken sind anregend, bedürfen aber kritischer Nachprüfung, insbesondere auch was die Namenserklärungen betrifft. Fester begründet sind die Darlegungen über die Entstehung der Städte; sicher richtig ist es, daß Dresden als Stadt erst nach Ausbreitung deutscher Kolonisation im Elbtalbereich als ein »Bindeglied« zwischen Freiberg und dem Verkehr auf der Hohen Straße begründet worden ist. Ein Aufsatz H. Beschorners ( 505) befaßt sich mit den Orts- und Flurnamen in Sachsen, namentlich im Erzgebirge und bringt eine wertvolle Zusammenstellung der bisherigen Arbeiten über die Wüstungen Sachsens. Eine wertvolle Veröffentlichung zur Siedlungsgeschichte Schlesiens bietet W. Bretschneider ( 1691), der das wichtige Gründungsbuch des Klosters Heinrichau in deutscher Übersetzung einem weiteren Leserkreise vorlegt, nebst einführenden Bemerkungen über die geschichtliche Bedeutung dieser einzigartigen Quelle. Die Entstehung der Posener Kulturlandschaft hat. W. Maas ( 427) behandelt in einem Beitrag zur Siedlungsgeographie, jedoch mit Eingehen auf die geschichtliche Entwicklung von den Zeiten der Lausitzer Kultur über die gotische und die Zeit slawischer Zuwanderung bis in die Epoche der deutschen Kolonisation hinein. Auch das Städtewesen und die neueren Zeiten sind berücksichtigt. Dabei findet eine freilich nicht zureichende Auseinandersetzung mit der polnischen Forschung statt. Beachtenswert sind die Mitteilungen über Unterschiede der polnischen und der deutschen Flurverfassung, wofür sogar ein klarer, urkundlicher Beleg (für Opolczyk 1378) angeführt werden kann. Nach slawischem Brauch liegen die Feldstücke inmitten von Wald und Wiesen wie Inseln, in unbestimmter Anordnung

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der Felder, wie dies bei bevorzugter Viehzucht und wenig umfangreichem Feldbau verständlich ist. Doch begegnen auch Gewanne von unregelmäßiger Form (niwy), die in Anteile (płosa) zerlegt sind; weiter abseits liegen die regellosen kępy in Wäldern und Wiesen. Die Gewanne nach deutscher Form hingegen sind regelmäßig, groß und lang, sichtlich planvolle Schöpfungen. Die beigegebene Hauptkarte zeigt die Städte nach Jahrhunderten ihrer Entstehung mit Eintragung des Waldes und des Offenlandes. Eine etwas rohe Karte der Dorftypen weist die Anger- und Waldhufendörfer auf, ohne Berücksichtigung der anderen von M. selbst unterschiedenen Formen (Straßen-, Kreuz-, Gitterdorf u. a.). -- Hingewiesen sei auf eine Königsberger Dissertation von W. Schulz ( 422) »Über die Siedlungsgeographie des deutschen Oberlandes« in Ostpreußen. Auf den äußersten Nordosten Preußens und der angrenzenden Landstriche beziehen sich die Beiträge, die Gertrud Mortensen ( 426) über die »Nationalitäten- und Siedlungsverhältnisse von Pr.-Litauen« geliefert hat; eingegangen wird dabei besonders auf die Landschaften Sudauen, Nadrauen und Schalauen. Aus urkundlichen Quellen, namentlich auch mit Hilfe aufschlußreicher Wegeberichte, wird die einstige Westgrenze der Litauer und zugleich die Ostgrenze der Wildnis gegen das preußische Gebiet bestimmt. Es erweist sich (entgegen der Meinung Bezzenbergers), daß einst ganz Ostpreußen altpreußisches Land war und die Einwanderung der Litauer in das östliche Grenzgebiet hinein erst in historischer Zeit, seit dem Spätmittelalter, erfolgt ist. Entsprechende Ergebnisse trägt Hans Mortensen ( 421) in größerem geschichtlichen Zusammenhange über die litauische Wanderung vor; es wird nicht mehr schlechthin davon zu sprechen sein, daß der Deutsche Orden durch seine kriegerischen Maßnahmen die Völkervernichtung in jenen Gegenden bewirkt habe. Die Besiedlung der breiten, einst siedlungsleeren Wildnis auf ostpreußischem Boden war noch um 1540 nicht völlig abgeschlossen.

War schon bei den vorerwähnten Arbeiten mehrfach auf Berücksichtigung der städtischen Siedlung hinzuweisen, so ist nun noch im besonderen der Untersuchungen zu gedenken, die der Städtekunde auf geschichtlicher Grundlage gewidmet sind. Im Anfang einer Geschichte des deutschen Städtewesens steht das Problem der »Römerstädte«, des Zusammenhangs frühma. Stadtanlagen an Donau und Rhein mit städtischem Dasein aus provinzialrömischer Zeit. Erörterungen darüber hat Herm. Aubin ( 369) angestellt. Eine gewisse Siedlungskonstanz von der römischen zur fränkischen Zeit wird auch von ihm angenommen; aber er bringt einige Beispiele (Xanten, Bonn, Kreuznach und Saarbrücken), bei denen deutlich gezeigt werden kann, daß die später sich weiter entwickelnde Stadt nur auf einem Teil des schon in römischer Zeit in die Bewohnung einbezogenen Geländes, ja nur in Nachbarschaft der Siedlung zur Römerzeit entstanden ist, also eine gewisse Verlegung des Siedelplatzes, eine Umsiedlung stattgefunden habe. Den Städten und Märkten des bayerischen Donaugebietes hat Maria Recknagel ( 378) eine sorgfältige Bearbeitung gewidmet; die Absicht war dabei vornehmlich auf siedlungsgeographische Übersicht gerichtet, wobei das Augenmerk zumal den Problemen der Lage und der Grundrißform zugekehrt ist (mit kartographischen Beilagen). Der Stadt Meißen gilt eine wohl überlegte Untersuchung H. Grögers ( 407). Der Verfasser stützt sich dabei nicht nur auf die geschichtlichen Quellen, sondern auch auf scharfe Beobachtung der Bauform und des Geländes, besonders der in der Stadtsiedlung


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zusammentreffenden und von ihr ausstrahlenden Verkehrswege. So vermag er die einzelnen Siedelteile zu scheiden, aus denen die Gesamtsiedlung zusammengewachsen ist, und macht diese Ergebnisse topographischer Ermittlung für die Verfassungs-, Rechts- und Wirtschaftsgeschichte Meißens fruchtbar (Begründung der eigentlichen Bürgerstadt um 1200). -- Eine interessante Frage hat sich Joh. Langer ( 412) vorgelegt, der eine flurgeographische Untersuchung über die ältesten Besiedlungsverhältnisse der sächsischen Bergstadt Freiberg durchführt. Er glaubt nämlich in der Freiberger Flur rings um die Stadt 24 Hufen (nach dem üblichen Maß der fränkischen Hufe 24--25 Hektar) nachweisen zu können und bringt dies mit den »24 de civitate«, die bei den Anfängen der Stadt und des Bergbaues eine Rolle gespielt haben, zusammen. Damit wäre eine These aufgestellt, die der Herleitung der Stadtgemeinde aus der Landgemeinde (nach v. Belows Theorie) sehr entgegenkommt; indes ist der Zusammenhang der Hufenzahl mit der Zahl jener 24 in Stadt und Bergwerk Berechtigten nicht hinlänglich erwiesen. -- Über den niederdeutschen Anteil an der Bevölkerung Alt-Danzigs hat H. Strunk ( 419) lehrreiche Nachweise aus den Quellen erbracht, wobei er das Jahr 1135 als Zeit für Bestimmung der Grenze zwischen dem westlicheren Niederdeutschland und dem kolonialen Osten nimmt. Danzig stellt sich dabei als eine verhältnismäßig rein niederdeutsche Stadt dar. Zuzug ist dahin aus 64 Hansestädten erfolgt, wobei an erster Stelle Köln steht; war die Zuwanderung der Neubürger aus Städten und Dörfern anfänglich fast gleich, so stellten später die Dörfer mehr Zuziehende als die Stadt. Den größten Anteil an der Zuwanderung hatte Niedersachsen (73,2 ', während Niederfranken minder stark (16,4', Friesland nur schwach vertreten waren. Ein Verzeichnis der Namen und Herkunftsorte nach den Bürgerbüchern ist beigegeben. Aussichten für die künftige Forschung bietet ein Bericht E. Keysers über »Die ost- und westpreußischen Stadtpläne«, deren Bearbeitung durch die Historische Kommission für Ost- und Westpreußen ins Auge gefaßt ist; nachgewiesen sind bis jetzt 1400, dazu 114 aus der Literatur, im ganzen 2700 Einzelpläne. -- Ein umfassendes Werk über die Geschichte des Städtebaus hat P. Lavedan ( 363 a) geschrieben; nach ausführlicher Würdigung der Städte antiker Kultur geht er auf das MA. ein, zuerst auf Frankreich, dann knapper auf England und Deutschland. Es handelt sich wesentlich um die Probleme des Stadtgrundrisses in sehr verschiedenartiger Form, überhaupt um das Stadtbild; doch wird die Erörterung in verfassungs-, rechts- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge hineingestellt. Die Gestalt der natürlich gewachsenen (spontan gewordenen) und der planmäßig geschaffenen Städte in ihren Haupttypen und mannigfachen Variationen wird an Einzelbeispielen und in zusammenfassender Betrachtung erörtert. Die deutsche wissenschaftliche Literatur hat Berücksichtigung gefunden, freilich ungleichmäßig; es fällt auf, daß Hoenigs Arbeit »Über die Städte Böhmens« sehr ausgiebig verwertet ist, wobei Böhmen dem Bereich ostdeutscher Kolonisation, sagen wir des ostdeutschen Kulturbodens, zugerechnet wird. Manche Aufstellungen entsprechen nicht mehr dem gegenwärtigen Stand deutscher Wissenschaft, so z. B. wenn allgemein das slawische Runddorf (dediny) und das rechteckige Platzdorf (Lhoty), aus dem 12. bis 13. Jhd. einander gegenübergestellt werden. Die These, daß der ostdeutsche Stadtgrundriß aus einer Verbindung des slawischen Rundbaus mit der römischen Schachbrettanlage hervorgegangen sei, ist allzu konstruktiv gedacht. Nicht verständlich

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ist, weshalb die Bildbeigaben aus deutschen Städten fehlen. Indes das Buch verdient die Beachtung der Siedlungsgeographen und der Historiker, schon wegen des mannigfaltigen, lehrreichen Materials, das darin zur Anschauung gebracht wird, und ist, auf das Ganze gesehen, eine ernste wissenschaftliche Leistung.

Das Buch Franz Prechts ( 368) über »Die Haustypen und ihre Verbreitung« enthält nicht, wie erwartet werden könnte, eine volks- und siedlungskundliche Erörterung der Formen ländlichen oder städtischen Wohnbaus. Es faßt vielmehr Haus im weitesten Sinn: Wohn-, Gottes- und Totenhaus und vergleicht vom Standpunkt des Architekten die im Abendland und Orient auftretenden typischen Gestaltungen, die Zierstile und die eigentümliche Schönheit der Typen -- gedankenreich, aber mehr Betrachtungen theoretisierender, ja kunstphilosophischer Art, als einfach geschichtliche Erörterung.


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