V. Siedlungsgeschichte.

Der geschichtlichen Siedlungsforschung ist nach wie vor eine nicht geringe Zahl von Arbeiten gewidmet worden. Die inneren Beziehungen der Siedlungsgeschichte zur Volkskunde und die Möglichkeit gegenseitiger Förderung hat Ad. Helbok in einer Arbeit untersucht, die auf Grund des gegenwärtigen Standes der Forschungsergebnisse eine Fülle von Mitteilungen zusammenfaßt und methodologische Erwägungen anstellt ( 268). Der Verfasser ist dabei besonders von Beobachtungen aus dem Alpenland ausgegangen, wo die Zustände ein ungewöhnlich starkes Beharrungsvermögen aufweisen; aber er überblickt auch andere deutsche Landschaften und zeigt Verständnis für die dort größere Beweglichkeit. Die Betrachtung gilt den Forschungen über Hausbau, Arbeitsweise und Gerät, Volkskunst, Tracht, Sitte und Brauch, Volksglaube, auch Heiligenverehrung, Sage, Sprichwort u. dgl., im letzten Grund die Volksart überhaupt. Kritisch erörtert wird nun die Möglichkeit einer Auswertung solch volkskundlicher Beobachtungen für die Siedlungsgeschichte, wie andererseits auch die Bedeutung siedlungsgeschichtlicher Feststellungen, z. B. der Kolonisationsgrenzen, für die Erklärung des volkskundlichen Beobachtungsstoffes. Obschon mit starker Umbildung im Verlaufe der geschichtlichen Entwicklung gerechnet werden muß, spricht der Verfasser die Erwartung aus, daß die Volkskunde bei sorgsamer Entfaltung


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ihrer Forschungsmethoden »noch viel weitergehend als bisher die Sprachforschung in die Lage setzen kann, in die alten Schichtungen des Volkslebens hineinzuleuchten«. Allerdings wird dabei gefordert, daß nicht nur ein Teilgebiet der Volkskunde herausgegriffen wird, sondern sie voll überblickt und beherrscht werde. -- R. Martiny, der schon verschiedene Beiträge zur Siedlungskunde ost- und westdeutscher Landschaften geboten hat, legt jetzt eine Arbeit über die Grundrißgestaltung der deutschen Siedlungen vor ( 273), in der der Versuch gemacht wird, die Aufgabe einer morphologischen Untersuchung der Kulturgebilde in der Kulturgeographie allgemein für die Siedlungsformen in Deutschland zur Durchführung zu bringen. Nach einleitenden Darlegungen zur Theorie der Grundrißgestaltung bespricht er die moderne Siedlung, das westdeutsche Dorf, den Flecken, die Stadt, die planmäßigen Gründungsdörfer und endlich das ostdeutsche Dorf und seine Fortwirkungen in Flecken und Stadt; eine Tafel mit Planskizzen ist beigegeben. Dem Verfasser ist eine bedeutende Kenntnis der Siedlungsanlagen in Deutschland, zumal auf Grund umfassenden Kartenstudiums, eigen; er betont auch die Notwendigkeit und den Wert des genetischen Verstehens. Sicher ist es förderlich, die mancherlei Beobachtungen über Unterschiede typischer Grundrißgestalt durchzudenken und den Blick dafür sich zu schärfen; einzelne seiner neugebildeten Begriffe verdienen dauernde Aufnahme in die siedlungskundliche Typologie. Indes ist zu befürchten, daß dabei ein Weg beschritten wird, der allzu sehr in eine formale, ja figurale Klassifikation der Bauweise hineinführt und die bei der Typenbildung so wichtige Rücksicht auf die Lebensgrundlage der Siedlung im umgebenden Raum, auf die innerliche Bedingtheit im ganzen Wirtschafts- und Gesellschaftsaufbau zurücktreten läßt. Bei den ländlichen Siedlungen zeigt sich dies schon darin, daß auf die Fluranlage, d. h. also die Art der Nutzung des dörflichen Lebensraums, nur wenig eingegangen wird. Auch besteht die Gefahr, in großem Überblick formale Unterschiede einseitig herauszuheben. So scheint es mir richtiger, wenn der Gegensatz von Westen und Osten, was schon O. Schlüter gezeigt hat, bei der Land- und Stadtsiedlung nicht überspannt wird. -- Für die eigentliche Siedlungsgeschichte ist ein Gedanke wichtig, den Fed. Schneider ausführt ( 276) über staatliche Siedlung im frühen MA. Nachdem er bei seinen Studien in Nord- und Mittelitalien Kolonisation auf Staatsgut der Langobarden mit bestimmten Merkmalen (Bodenabgabe bei persönlicher Freiheit, Stellung des Schultheiß [sculdahis, centenarius], in den Arimanniaverbänden, genossenschaftliche Nutzung von Gemeinschaftsbesitz) festgestellt hatte, wird jetzt gefragt, ob Entsprechendes auch nördlich der Alpen auftritt. In der Tat scheint dies der Fall zu sein, indem auch eine fränkische Staatskolonisation nachweisbar ist. Dies wird zunächst an dem lehrreichen Beispiel der Schweizer Urkantone gezeigt; freilich ergibt sich dabei, daß nicht alle Einrichtungen auch hier in gleicher Weise kenntlich sind. So tritt in den dortigen Talgemeinden in charakteristischer Weise die Genossenschaft freier Bauern (universi homines) auf, während die Hundertschaft fehlt, die gerade in den alt-alemannischen Kernlanden begegnet. Es wird sicher fruchtbar sein, die Einwirkungen fränkischer Staatssiedlung auf fränkischem Boden weiter aufzuspüren; doch bedarf das Verhältnis zur volksmäßigen Siedlung noch unfassender Untersuchung und Klärung. Für Westfalen sei auf Fr. Philippis (†) kleine zusammenfassende Studie über die gemeinen Marken hingewiesen ( 1014). --

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Die wertvollen, auf genaue Urkundenforschung gegründeten Darlegungen in dem Werk von O. Stolz über Deutschtum in Südtirol, deren schon im letzten Jahresbericht gedacht war, haben ihre Fortsetzung gefunden ( 278), der zweite vorliegende Band behandelt einzelne Gebiete: das Bozener Unterland und Überetsch, auch die deutschen Gemeinden in Nonsberg und im Fleimstal, in genauester Einzelforschung, Gemeinde für Gemeinde mit Untersuchung der Landesverfassung, der Geschlechter-, Hof- und Flurnamen, der urkundlichen Zeugnisse und anderer Nachrichten für das Dasein deutscher Bevölkerung bis in den Beginn des 19. Jhds. Eine Nebenfrucht der Studien von Stolz ist sein quellenmäßig begründeter, ebenso sprach- und kulturgeschichtlich wie geographisch lehrreicher Beitrag über die Kenntnis der Tiroler Alpen, ihrer Geländeformen, Gebirgsgruppen, Gletscher, Bergnamen, Hochgebirgssagen und die Art der Bergbesteigung bis zur jüngsten Vergangenheit ( 279).

J. Folkers handelt über die mittelalterlichen Ansiedlungen fremder Kolonisten in Nordwestdeutschland, namentlich über die bekannten Niederlassungen von Holländern und den von ihnen eingeführten Siedlungstyp (Volk und Rasse 3, 28--39). -- Bedeutung über die Ortsgeschichte hinaus hat eine Arbeit von E. Gäbler über das Amt Riddagshausen bei Braunschweig ( 292). Es wird darin zunächst das Amt selbst, seine Verfassung und Verwaltung beschrieben. Besonders eingegangen ist auf die dörflichen Siedlungen, deren Orts- und Flurformen genau untersucht und aus der Agrargeschichte erklärt werden. Dabei findet eine Auseinandersetzung mit dem Begriff des Haufendorfs statt; es wird gezeigt, wie die Dörfer aus ursprünglich anderem Kern durch Anwachsen entstanden sind. Die feldwannenmäßige Einteilung in der Flur erweist sich als älter im Vergleich zu den blockförmigen Kämpen; beteiligt darin sind die Inhaber der alten Ackerhöfe (Meier), so daß eine kleine Genossenschaft mit gewannähnlicher Flur sich als das Ursprüngliche ergibt. -- Eine sehr vorzügliche siedlungsgeographische Arbeit ist die von G. Pfeifer für die Landschaft Angeln verfaßte Untersuchung des Siedlungsbildes ( 289). Sie ist ein Musterbeispiel echt historisch-geographischer Forschung; für die aufeinanderfolgenden Hauptzeitalter wird jeweils aus den Quellen die »kulturgeographische Situation« zur Darstellung gebracht und in diesem Zusammenhang der Siedlungszustand gekennzeichnet. Auf diese Weise wird die Entwicklung der Siedlungsverhältnisse vom Hochmittelalter bis in die jüngste Vergangenheit, zugleich mit den Wandlungen des Landschaftsbildes gründlich und anschaulich vorgeführt, mit gleich gutem Blick für die Geschichte wie für die Siedlungsgeographie. Von besonderem Interesse ist dabei das Ergebnis für die älteste, in geschichtlichen Quellen faßbare Zeit, die Siedlung des 13. Jhds., deren Ausbreitung sich mit der vorgeschichtlichen deckt, aber schon auf Böden zweiter Wahl greift. Das Dorf, das klein zu sein pflegt (bis 10 Baustätten), erweist sich als eine genossenschaftliche Siedlung; der umgebende Lebensraum zeigt eine Zweiteilung: dauerndes Ackerland und Dauerweide, dazwischen aber ein Wechselland, wo feldmäßige Nutzung für mehrere Jahre (Haferanbau) und Weide abwechseln, was im Verhältnis von Natur- und Kulturlandschaft zum Ackerland zu stellen ist. -- R. Gradmann behandelt in einem Aufsatz die Anwendung seiner zunächst für das württembergische Schwaben ausgebildeten siedlungsgeographischen Methode auf das Frankenland, zumal im Maingebiet und in den Landen um das Fichtelgebirge ( 274). Auch hier läßt sich eine Scheidung


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altbesiedelter und später durch Rodung gewonnener Räume durchführen, wobei sich ähnliche Verschiedenheiten der Siedlungstypen herausstellen; einbezogen in die Beobachtung wird die Bauart der Häuser. Auch auf die Städte, namentlich Nürnberg, geht der Verfasser in siedlungsgeographischer Untersuchung kurz ein. Den Ansiedlungen der Niederländer im deutschen Osten gilt ein Aufsatz von R. Huss, der einen allgemeinen Überblick nach den urkundlichen und anderen Nachrichten nebst beigefügter Kartenskizze gibt ( 298). Als eine Folgeerscheinung des flandrischen Vorstoßes werden die Wanderungen aus benachbarten mosel- und rheinfränkischen Gegenden bezeichnet; so wird auch die Einwanderung nach Siebenbürgen in diesem geschichtlichen Zusammenhang aufgefaßt. --Joh. Langer bietet flurgeographische Studien, die in methodischer Hinsicht allgemeinere Bedeutung haben, zur Siedlungsgeschichte des Erzgebirges ( 294); er bespricht dabei die verschiedenerlei auftretenden Siedlungstypen in lehrreichem, das Wesentliche heraushebenden Überblick: die Weilerformen am nördlichen Gebirgsrand (aus slawischer Zeit), die großen Waldhufendörfer in ihren charakteristischen Anlagen und Vermessungen, sowie die Dörfer der Nachkolonisation und die Restsiedlungen. Auch auf die Studien von W. Jungandreas zur Besiedlungsgeschichte Schlesiens auf Grund der Mundartenforschung, wobei auf die Herkunft und Zusammensetzung der Bevölkerung nach dem Stammestum im weiteren Rahmen kolonisationsgeschichtlicher Zusammenhänge der Nachdruck gelegt wird, ist hinzuweisen ( 306); die Ergebnisse bedürfen zunächst der Nachprüfung von germanistischer Seite (vgl. auch S. 143). Allgemeine Beachtung verdient ein Aufsatz von H. F. Schmid, worin die Entwicklung der Forschungen über die deutschrechtliche Siedlung auf polnischem Boden behandelt wird ( 1154). Im Eingang wird auf die sehr ergiebige Quellenüberlieferung in diesem Untersuchungsgebiet hingewiesen, die eine ungewöhnlich günstige Grundlage für die Forschung gewährt. Die Darlegungen Schm. sind deshalb bedeutungsvoll, weil sie die Möglichkeit bieten, einen lehrreichen Einblick in die Leistungen und Auffassungen der polnischen Gelehrten, die in der deutschen Forschung bisher nicht genügend berücksichtigt worden waren, zu erlangen; es wird damit der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und Prüfung der bisherigen Anschauungen ein wesentlicher Dienst geleistet. Der Begriff der deutschrechtlichen Siedlung, an sich in der Forschung nichts Neues, tritt hier in dem Sinne auf, daß auf dem Boden eines nichtdeutschen Staates ländliche und städtische Ortschaften mit einem Recht und einer Gemeindeverfassung deutschen Ursprungs ausgestattet werden, ohne daß damit über die Nationalitätsverhältnisse Bestimmtes ausgesagt ist. Die Ausbreitung solchen Rechtes und die Einwirkung auf die Kulturzustände Polens steht zur Erörterung. Hervorgehoben seien die Darlegungen über die altpolnische Sozial- und Wirtschaftsverfassung vor dem Einfluß der deutschrechtlichen Siedlung (altslawische Siedlung der vicinia [opole], Grundherrschaft mit Fronhofsverfassung), sodann über ihre Art und Bedeutung selbst, über das Schulzenamt und die weitere Entwicklung der Schulzengüter im Verhältnis zur späteren Gutsherrschaft, ferner über entsprechende Siedlungsvorgänge auch während der Neuzeit, lehrreich endlich der Vergleich mit dem walachischen Recht. Im Anschluß daran werden wichtige Mitteilungen über die jüngste Organisation der westslawischen Forschung in Polen gemacht. Für jüngere Zeiten sei eine Arbeit von Joh. Schultze erwähnt ( 299), die sich auf die Bevölkerung

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der Priegnitz nach dem 30 jährigen Kriege bezieht; es wird Ort für Ort eine Beschreibung geboten nach einer sog. Landvisitation von 1652, der ersten, die der Große Kurfürst angeordnet hat. Seit 1640 hat schon eine gewisse Aufsiedlung des im Krieg wüstgewordenen Landes und somit eine Bevölkerungsvermehrung, etwa auf das Vierfache, stattgefunden, teils durch Anwachsen der heimischen Bevölkerung, teils durch Zuwanderung, ein bemerkenswertes Zeugnis für den Aufschwung im ersten Jahrzehnt der Regierung des Großen Kurfürsten.

Was die Städtetopographie betrifft, so sei hier auf die Berichterstattung für die Wirtschaftsgeschichte verwiesen. Hervorgehoben sei um der kolonisationsgeschichtlichen Bedeutung willen eine Arbeit von P. Mylius über die Entstehung und Entwicklung der Liegnitzer Stadtgemarkung ( 312). Dem Verfasser ist es gelungen, die 100 Hufen im sog. Dornbusch, die bei der Stadtgründung 1252 zugewiesen worden sind, in der Stadtflur nachzuweisen; es sind nämlich die sog. Liegnitzer Vorwerke und Konsortengüter, die in einer Beschreibung von 1451 angeführt werden, mit jüngeren Nachweisungen verglichen und auf der Gemarkungskarte von 1809 deutlich verzeichnet. Die Größe der ausgetanen Güter beträgt 2--4 Hufen, wobei bei der ursprünglichen Zuweisung die schlesische Hufe (= flämischer, etwa 17 ha) zugrunde gelegt, die Zuteilung aber tatsächlich nach einer größeren Hufe (etwa 22 ha) erfolgt ist. Die Arbeit bietet zugleich Aufschlüsse für die Geschichte der Stadt überhaupt, namentlich für die Vorstädte von Liegnitz. Auch das Ergebnis einer Untersuchung des Stadtgrundrisses von Brüx, durch Al. Ott, sei mitgeteilt ( 313). Unter dem Schutz der Burg Gnewin (1040), beim Zusammentreffen der Verkehrswege von Saaz und Prag, entstand ein Burgvorort [Most, d. i. Brücke] mit Markt, der sich später im 16. Jhd. als »Böhmischer Ring« (böhmisches Viertel) nachweisen läßt; die bald nach 1250, unter Ottokar II., daneben gegründete Stadt ist von Deutschen angelegt und besiedelt worden. Diese Arbeit ist über die ortsgeschichtliche Bedeutung hinaus allgemeiner wichtig, weil auf dem Boden des nördlichen Böhmen sich hier interessante Aufschlüsse aus der Stadttopographie für die Frage der Nationalität ergeben und Brüx wegen seiner Lage für den Verkehr von Gegenden nördlich des Erzgebirges nach dem Sudetenraum schon von alters bedeutsam war.


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