I. Allgemeines. Sprache.

Vor allem interessiert wohl das Schicksal des Thesaurus lat. m. aevi. Man glaubte, daß die Vorarbeiten für diesen in erfreulichem Fortgange seien, und erfuhr vor einiger Zeit mit Überraschung aus dem Arch. l. m. aevi ( 317), daß zwischen den Vertretern der beteiligten Nationen außerordentliche Meinungsverschiedenheiten entstanden seien. Bekanntlich hatte man als Endtermin etwa das Jahr 1000 festgesetzt, die vor diesem Jahre liegenden Texte sollen genau exzerpiert werden; nach 6 Jahren hat nun der Vertreter von Belgien (Pirenne) mit denen mehrerer anderer Länder zusammen einen Antrag gestellt, angesichts der »inconvénients pratiques de l'entreprise« den Plan umzustoßen. Das Jahr 1000 als Terminus ad quem entspreche politischen, aber nicht literarischen oder sprachlichen Gesichtspunkten, ein so beschränkter


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Thesaurus werde auf eine geringe Zahl von Interessenten zu rechnen haben und namentlich für Historiker und Juristen verhältnismäßig geringen Nutzen bringen. Darum sei die Grenze bis zur Renaissance vorzurücken, aber nur die wichtigsten (les plus importants) Texte seien zu berücksichtigen und aus diesen nur die interessantesten Wörter auszuziehen. Dieser Antrag hat natürlich starken Widerstand gefunden, namentlich von seiten Italiens (Ussani), und es ist nicht ohne Berechtigung u. a. betont worden, daß damit der Willkür Tür und Tor geöffnet sei. Schließlich hat Pirenne den vermittelnden Antrag gestellt 1. die Arbeit soll nach der bisher befolgten Methode fortgeführt werden, 2. daneben sollen die Ausschüsse der einzelnen Länder Sorge tragen, daß durch neu zu gewinnende Mitarbeiter auch die Texte bis zur Renaissance exzerpiert werden. Die Art und Weise, wie das zu geschehen hat, solle durch die National- Ausschüsse studiert werden (Arch. l. m. ae. 1928, 90). In der Sitzung vom Januar 1929 (Arch. S. 172 f.) hat man dann weiter darüber verhandelt, aus dem Protokoll geht aber nicht klar hervor, was nun werden soll. Seit Juli 1929 ist auffallenderweise kein Heft des Archivum erschienen, ob und wie man sich geeinigt hat, ist mir nicht bekannt. (Im Mai 1930 geschrieben.) -- Hervorzuheben ist aus den Berichten noch, daß Italien, das schon immer besonders regen Eifer für diese Dinge gezeigt hat, fortfährt, die Eigennamen zu registrieren, die ja im Thesaurus wegfallen sollen, und daß England in 5 Jahren sein Lexikon der Latinität nach 1000 fertiggestellt zu haben hofft. -- Über den Plan des Thesaurus im allgemeinen berichtet kurz V. Ussani, Il Dizionario del latino medievale, Roma 1928 (Tipografia poliglotta Vaticana), und an einen weiteren Leserkreis wendet sich auch F. Ermini ( 316). Einleitend wiederholt er seinen Vorschlag 6 Perioden des m.lateinischen Schrifttums anzusetzen (vgl. Jberr. 2, S. 206, Nr. 631) und entwickelt dann, offenbar angeregt von dem im Jberr. 1, S. 185 f., Nr. 624 besprochenen Aufsatz von P. Rumpf, den Gedanken, daß die Kultur des MA. nicht eine ungeordnete Masse ist, sondern eine ungeheure Reihe von Geschehnissen, die eine Idee beherrscht, Rom und das römische Reich. Diese Einheit spiegelt sich in der Geschichte der Literatur wieder, die klassische Tradition nährte das M.latein und durch dies die Vulgärsprachen und Literaturen, und es ist Aufgabe der m.lateinischen Philologie diese Fäden aufzuzeigen. Er schließt mit dem Ausdruck des Bedauerns, daß, während in Deutschland, Frankreich, England, Amerika diese Studien in steigendem Maße blühten, sie in Italien, dem Zentrum der Latinität, noch immer stark vernachlässigt würden.

Über die verbreitete Bezeichnung Küchenlatein handelt P. Lehmann ( 319). Während der verächtliche Ausdruck Mönchslatein wohl in den Kreisen der Reformatoren entstand, ist Küchenlatein schon älter, Begriff und Wort kommt nach Lehmanns Meinung aus Italien von Gelehrten des 15. Jhds. Es hat mit der Klosterküche nichts zu tun, geht vielmehr auf die alte Tradition zurück, die Küche und Küchenpersonal ebenso wie Handwerker und Gewerbetreibende mit dem Makel der Unbildung und Niedrigkeit behaftete. -- Als ein Hilfsmittel für jemand, der den Wunsch hat, sich erstmalig eine Übersicht über das weite Gebiet des M.lateins zu verschaffen, ist das kleine Buch von K. Strecker gedacht ( 320). Es handelt auf 42 Seiten über Sprache, Lexikon, Wortbildung und Wortbedeutung, Prosodie und Betonung, Aussprache und Orthographie, Form in Vers und Prosa, Literaturgeschichte, Texte, Bibliotheken, Palaeographie und Überlieferungsgeschichte. Daß es einem Bedürfnis entsprach, geht daraus hervor,


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daß im Laufe eines Jahres 1929 eine 2. Aufl. erscheinen konnte, in der geäußerte Wünsche nach Erweiterung einzelner Teile usw. berücksichtigt worden sind. -- Äußerst wertvoll für unsere Studien ist es, daß E. Faral die wichtigsten lat. Poetiken des 12. Jhds. in einem Bande bequem zusammengestellt und mit lehrreichen Vorreden versehen hat. Der Wert des Buches wäre aber verdoppelt worden, wenn er einen reichhaltigen, womöglich vollständigen Wortindex beigegeben hätte. Diese empfindliche Lücke füllt wenigstens bis zu einem gewissen Grade W. B. Sedgwick ( 343), indem er aus den bei Faral vereinigten Autoren ein Glossar zusammenstellt, das gelegentlich durch Hinweise auf andere Quellen etwas ergänzt wird: wenn auch die Auswahl natürlich lückenhaft ist, wird sie doch sehr nützlich sein. Einleitend handelt er über Grammatik und Stil, Metrik und Prosodie in den zugrunde gelegten Texten. -- Mit einem einzelnen Denkmal befaßt sich I. Cahour ( 323), der aus der Vita Caroli in Halphens Ausgabe die Wörter und Wendungen auszieht, die nicht klassisch sind »ou peu conformes à l'usage class.« Diese hat er mit dem Lexikon von Quicherat, zuweilen mit Forcellini verglichen und angegeben, wenn dort eine klassische Stelle verzeichnet ist; auch wird die betreffende Stelle der Vita übersetzt. Viel Nutzen verspreche ich mir von dem Büchlein nicht, zumal kein rechtes Prinzip zu erkennen ist, vor allem auch die nötige Sorgfalt und wohl auch Kenntnis vermißt wird. Schon ein Vergleich mit dem doch recht knappen Index von Holder- Egger zeigt, daß die Sammlung nicht ausreicht, z. B. hätte tyranni wohl nicht fehlen dürfen. Um so wertvoller ist die Boethiuskonkordanz von L. Cooper ( 322), wie nicht ausgeführt zu werden braucht. Zugrundegelegt ist die Ausgabe von E. K. Rand 1918. Das Werk ist mit größter, teilweise vielleicht zu großer Sorgfalt gearbeitet, selbst für et, est, esse usw. scheinen sämtliche Stellen aufgeführt zu sein, wenn natürlich auch in solchen Fällen nicht wie sonst die ganzen Sätze ausgeschrieben sind. Das dicke Buch ist vorzüglich ausgestattet und leitet die Buchserie der Mediaeval Acad. of America glückverheißend ein. -- Sehr angenehm ist es, daß der Überblick über die Erscheinungen auf unserem Gebiet für Amerika erleichtert wird durch Willards jährliche Berichte ( 321), von denen 1928 das 6. Bulletin erschienen ist. -- Das Archivum lat m. ae. ( 317) bringt naturgemäß in der Hauptsache Glossographisches. H. Goelzer führt seine lexikographischen Bemerkungen über S. Avitus zu Ende, Nicolau d'Olwer berichtet über Glossare in Ripoll. Besonders seien hervorgehoben die Ausführungen von P. de Labriolle über die Entwicklung des Begriffes papa. Lindsay setzt in Anknüpfung an das Wort baro in starker Polemik gegen Goetz seine Auffassung von den Glossaria latina auseinander. -- Im Speculum 3, 580 ff. zeigt J. Balogh, Rex a recte regendo, daß das MA. die so verbreitete Etymologie und den auf sie aufgebauten Gedanken der Antike verdankt und Augustin der Vermittler war. -- Über saltuarius (Förster) handelt A. Schreibmüller, Pfälzisches Museum -- Pfälzische Heimatkunde 1928 11 ff. -- Einem einzelnen Wort persona hat H. Rheinfelder ( 318) ein ganzes umfang- und inhaltreiches Buch gewidmet. Zwar gilt es in erster Linie den romanischen Sprachen, aber natürlich muß es überall, vom Klassischen ausgehend, die Bedeutungsentwicklung im M.lateinischen aufzeigen und wird so zu einem beachtungswerten Hilfsmittel für das Verständnis der lat. Sprache des MA., wie auch ein eigener kurzer Abschnitt sich über die Bedeutung des M.lateins für semantische Forschungen auf dem Gebiet der romanischen Sprachen verbreitet.

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Um eins hervorzuheben, so wird sehr eingehend über persona als geistlicher Würdenträger, Pfarrer, gehandelt. Auch sei persona in der Rechtssprache, in der Sprache der christlichen Dogmatik erwähnt.


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