III. Lyrik.

Wenn ich oben hervorheben konnte, daß es ein Genuß ist, den lichtvollen Ausführungen E. K. Rands zu folgen, so ist von Allens Buch ( 354), das man unwillkürlich mit jenem vergleicht, zu sagen, daß das Studium eine schwere Arbeit bedeutet. Er setzt eine ungeheure Fülle von Gedanken in Bewegung, bringt auf Schritt und Tritt blendende Einfälle, überraschende Verbindungen, aber oft ohne den Versuch, sie zu beweisen oder auch nur plausibel zu machen. Es ist unmöglich, schon jetzt im einzelnen Stellung zu nehmen oder auch nur kurz eine Übersicht über den Inhalt zu geben. Unter 'romanesk' wird die lat. Lyrik verstanden, die man im Gegensatz zu der im klassischen Latein als galloromanisch bezeichnen kann, die, mit Petronius anhebend, einer Kultur entsproß, auf die die Kulturen der Völker von Indien bis zu der irischen Insel -- Syrer, Goten, Iren und zahllose andere -- Einfluß ausgeübt haben. Das Buch ist überall anregend, aber nicht überall überzeugend, zuweilen ist der Leser geradezu fassungslos, z. B. bei Kap. VIII Fortunatus (Der Ritter der Radegunde) und die platonische Liebe, die jenem offenbar durch die Araber übermittelt ist. Mit wirklicher Zustimmung habe ich bisher eigentlich nur Kap. XIII gelesen, wo der wie es scheint noch vielfach herrschenden unklaren Vorstellung über Mimus im MA. energisch zu Leibe gegangen wird. Man wundert sich, daß die Cambridger Lieder den Schluß des Bandes bilden, bis man erfährt, daß er nur


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der Vorläufer eines zweiten ist. Eingestreut sind zahlreiche lyrische Proben in Übersetzung von H. M. Jones, über die mir ein Urteil nicht zusteht, die Originale sind am Schluß zusammengestellt (ich würde die umgekehrte Ordnung vorgezogen haben), leider mit vielen bösen Druckfehlern. Es war mir interessant, im Speculum 1929, 218 auf eine Besprechung von Sedgwick zu stoßen, der einen ähnlichen Eindruck zu haben scheint wie ich.

Die Einzelerscheinungen, die ich zu nennen habe, beziehen sich vor allem auf die Lyrik des 12. Jhds. Aufs ganze geht B. Jarcho ( 347), der zu dem Ergebnis kommt S. 577 »die Richtung der ma.lichen Poesie, die man als Goliardenoder Vagantendichtung bezeichnet, war in allen wesentlichen Punkten (außer der Liebeslyrik) bereits im 9. Jhd. angedeutet« und S. 574 »wir wiederholen und betonen, daß diese epikureischen Poeten in der karol. Welt einen festen gesellschaftlichen Typus darstellten, gegen den die ehrbaren Klosterdichter mit dem Kampfschrei 'vae tibi Bache pater' auftreten mußten. Wer wie ich und andere diese zusammenfassende Bezeichnung Goliardendichtung ablehnt, wird diesen Ausführungen nur mit Mißtrauen entgegentreten, zumal wenn er sieht, wie der Verfasser eine höchst bedenkliche Behauptung als Ausgangspunkt wählt. Er hat sich von J. W. Thompson einreden lassen, daß das bekannte Statut des Konzils von Sens unter Erzb. Walter ins Jahr 913 fällt, was ich überhaupt nicht für diskutabel halte. Hatte Thompson noch die Möglichkeit zugestanden, daß die Wendung qui vulgo dicuntur de familia Goliae interpoliert sei, so hält Jarcho diese Annahme nicht mehr für nötig, weil aus einer Stelle des Sedulius Scottus hervorgehe, daß zu seiner Zeit gens Goliae in ähnlichem Sinne gebraucht worden sei. In dem bekannten Gedicht gegen den Hammeldieb ruft Sedulius aus: (Poetae 3, 205, 43) Quidam latro fuit nequam de gente Goliae, also müsse nach J. dies ein allgemeinverständlicher Ausdruck gewesen sein, der sich auf eine bestimmte Sorte von Leuten bezog und komisch wirken konnte. Er vergißt aber hinzuzufügen, daß die folgenden Verse lauten: Aethiopum similis, Cacus et arte malus, terribilis forma vultu piceusque maligno usw. De gente Goliae steht parallel zu dem folgenden: »Ein rechter Teufelsbraten ist das gewesen« (Golias in dem bekannten Sinne, auch Aethiopes sind ja die Teufel), mit Goliarden und Vaganten hat das nicht das Geringste zu tun. Und man bedenke: Sedulius wird von J. im folgenden als Typus dieser Goliarden des 9. Jhds. dargestellt, so würde man also annehmen müssen, er hätte gesagt, »dieser Hammeldieb war ein Goliarde wie ich einer bin«. So sind denn auch die aufgeführten Parallelen mit der Lyrik des 12. u. 13. Jhds. im ganzen wenig überzeugend. Vor allem ist es m. E. fehlerhaft, daß Sedulius nicht als Person, sondern als Typus gewertet wird, denn was sonst aus zeitgenössischer Literatur angeführt wird, besagt nicht viel für die Behauptung, daß er Vertreter eines festen gesellschaftlichen Typus sei. Doch hat die Arbeit ihren Wert durch die Vergleichung der karoling. und der Lyrik des 12. Jhds. Daß letztere plötzlich und ohne Vorbereitung emporgeschossen sei, wird kein Verständiger annehmen wollen und wird nicht überrascht sein, wenn verschiedene der späteren charakterischen Eigentümlichkeiten schon bei Sedulius auftreten z. B. gegen den Hammeldieb Vers 3 Multo multones multiplica- vit. Solche Spielereien, das weiß man längst, sind eben nicht im 12. Jhd. erfunden, sondern nur weitergebildet, wohl schulmäßig behandelt worden. So braucht man es weder für Zufall zu halten, noch auf direkten Zusammenhang des Apokalypsendichters


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mit Sedulius zurückzuführen, wenn bei beiden mit modus -- modius gespielt wird, während es sicher Zufall ist, wenn der Halbvers scribere non valeo bei Sedulius und dem Erzpoeten steht. Der Aufsatz ist ganz interessant, aber bewiesen oder auch nur wahrscheinlich gemacht ist das Thema nicht, weil mit unklaren Begriffen gearbeitet wird. -- S. 560 sagt Jarcho: »Außer dem Bilderschatz läßt sich noch manches rein Stilistische herausheben, was die dichterische Sprache des Sedulius mit der Goliardendichtung vereint. Hat doch bereits Müllenhoff festgestellt, daß wir bei Sedulius zum erstenmal die Form des späteren Liebesgrußes finden.« (Ist etwa der Ruodliebdichter auch ein Goliarde?). Daß der Verfasser hier stark daneben haut, sieht jeder, der ein wenig von mittellateinischer Dichtung gelesen hat; wie stark der Irrtum ist, erkennt man aus den dankenswerten Darlegungen von H. Walther ( 360). Er unterscheidet 1. Quot-tot-sprüche, 2. Dum-sprüche, 3. Si-sprüche und zeigt an einer erdrückenden Fülle von Beispielen, daß dies nicht, wie vielfach angenommen wird, Reste uralt-gemeinsamer Dichtung sind, sondern daß vielmehr eine fast lückenlose Tradition von der Antike, besonders Ovid her sich nachweisen läßt. Veranlaßt wurde der Verfasser zu diesen Untersuchungen durch eine Sammlung von 26 poetischen Grüßen aus einer Hs. von St. Florian, die er zu Anfang abdruckt (14,2 doch wohl gaude, 18,2 infixum cordi 'halte fest im Herzen'). In einem Nachtrage Zs. f. d. A. 66, 68 druckt er eine ähnliche kürzere Grußsammlung aus einer Baseler Hs. -- Aus J. Boltes Abhandlung ( 357) sei hervorgehoben, daß er De vagorum ordine dicam vobis iura nach 5 Hss. des 15. Jhds. und dem Codex Buranus clm. 4660 ediert. Er hätte vielleicht darauf aufmerksam machen sollen, daß Str. 12, 13 aus der Beichte des Erzpoeten stammen.

Von »vagantenhafter Lyrik« spricht Engels ( 345), der Nachweis »daß eine Übereinstimmung zwischen dem Stil der Vagantenlieder und verwandter Erzeugnisse klerikaler Lyrik und Gottfrieds Tristan besteht«, wird mit großer Sorgfalt in drei Abschnitten geführt: 1. Alliteration, 2. Wortwiederholung und Wortspiel, 3. Antithesen. Anderes wie Parallelismus, Vergleiche u. a. a. ist auch untersucht, aber in der Arbeit nicht ausgeführt. Die Nachweise sind sicherlich für den Germanisten wertvoll, auch für den Mittellateiner, doch wird letzterer ein unbehagliches Gefühl nicht los; die Unsicherheit, die sich im Titel ausdrückt, beherrscht die ganze Arbeit. Was hat man sich unter 'vagantenhafter Lyrik' vorzustellen? Das hätte in der Vorrede auseinandergesetzt werden sollen. Verfasser spricht gelegentlich von der lat. Profandichtung der Kleriker, von Vagantendichtung, die an sich schon ein buntes Mischprodukt ist, neben der Gottfried auch Elemente der Kirchen-, Hymnen-, Schulpoesie zugeführt wurden, auch von der internationalen lat. Gelehrtendichtung. Das Letztere ist das Richtige, Verfasser hätte sich nicht auf das Vagantenhafte beschränken, sondern sagen sollen, »in der lateinischen Dichtung seiner Zeit«; vieles würde er z. B. in der Susanna des Petrus Riga, in der Alexandreis des Walter v. Chatillon usw. gefunden haben. Und nützlich wäre es gewesen, wenn er sich etwas um die theoretischen Darlegungen der Zeit gekümmert hätte. Über diese handelt H. Brinkmann ( 344). Die beiden ersten Kap. waren schon in GRM. erschienen, vgl. Jberr. 1927, S. 165, Nr. 435 und sind jetzt zu einem umfangreichen Buche ergänzt worden, von dem für das Lateinische vor allem Kap. 3 in Frage kommt. Es läßt sich nicht leugnen, daß die Darstellungsweise die Lektüre nicht gerade angenehm macht


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und wohl manchen abschrecken wird (vgl. R. Newald, Dt. Lz. 1929, 858 ff.). Zu S. 45 sei aufmerksam gemacht auf das Commentum Bernardi Sylvestris super sex libros Eneidos Virgilii primum edidit G. Riedel, Diss. Gryphisw. 1924. -- Zum Erzpoeten ist eine Neuigkeit zu verzeichnen, die ich letztesmal schon andeutete. Ich habe mich Jberr. 3, S. 164 etwas über Stapel mokiert, der den Erzpoeten den Gelehrten entreißen wollte, aber ich war im Unrecht, man sollte den Archipoeta wirklich vor Mißhandlungen durch Gelehrte schützen. In Fortführung seiner Arbeit über das fingierte Privileg Karls d. Gr. z. Aachen (Zs. d. Aachener Geschichtsv. 47, 1927, 179 ff.) legt M. Buchner ( 583 a) dar, daß Pseudoturpins Historia Caroli Magni eine im Auftrage Reinalds von Dassel am Vorabend der Kanonisation Karls mit höchstem Raffinement angefertigte Fälschung ist, die ein Dokument für die Heiligkeit des Kaisers liefern und Paschalis III. für diesen Akt gewinnen sollte. Dabei bleibt dahingestellt, -- Verfasser ist mindestens sehr geneigt, die Frage zu bejahen, -- ob die Historia, die auch als 4. Stück des Liber s. Jacobi (Codex Calixtinus der Kapitelsbibl. v. Compostella) erhalten ist, diesem eingefügt ist oder ob Psturpin den ganzen Liber gefälscht hat. Die These wird mit großer Gelehrsamkeit bewiesen, ich habe nicht die Zeit, den ganzen Fragenkomplex nachzuprüfen, und lasse den Historikern gern den Vortritt, doch will ich nicht verschweigen, daß mir vieles recht zweifelhaft ist. Vor allem scheint mir, daß der Verfasser Dinge, die zu seiner Annahme nicht stimmen wollen, nicht recht würdigt. Wenn z. B. Psturpin S. 57 von dem Namen der Franzosen gesagt wird Francus liber dicitur, quia super omnes gentes alias decus et dominatio illi debetur, so vermisse ich den Nachweis, daß eine derartige Anschauung in einem für Reinald geschriebenen Werke Platz finden konnte (vgl. z. B. d. Ludus de Antichristo). Bevor solche weittragenden Behauptungen aufgestellt werden können, müßten wir zunächst eine, dringend nötige, kritische Ausgabe der Historia haben, die auch an den Quellen nicht vorbeiginge (z. B. Physiologus, Hymnen). Mich interessiert natürlich besonders die Behauptung, daß der Erzpoet der Verfasser der Historia und wohl auch des ganzen Liber s. J. ist, daß er wohl mit dem Mainzer Erzbischof in Spanien war und dort sein Material sammelte usw. Ich kann den Einzelheiten nicht nachgehen, sondern nur allgemein sagen, daß ich diese Behauptungen als geradezu furchtbar empfinde. Man lese einmal die Historia mit Rücksicht auf Stil und Darstellung: das soll ein gottbegnadeter Dichter geschrieben haben! Man vergleiche die Geschichte von den über Nacht festgewurzelten Lanzen S. 12 u. 15 bei Castests, vergleiche etwa die Einzelkämpfe S. 28 f. mit dem Waltharius. Verfasser spricht davon, daß Psturpin und Erzpoet besonderes Interesse auf dem Gebiet der Poesie und Musik zeige und ersterer in die Historia an mehreren Stellen Lieder aufgenommen habe. Diese Lieder sind das Epitaphium Rotholandi (S. 49), das aus den üblichen Phrasen zusammengestoppelt ist (nunc tenet aula poli -- nulli secundus -- largus pauperibus u. a. a.) und drei nichtssagende Distichen über Rolands Tod S. 51, teils ungereimt, teils mit einsilbigen Reimen. Schlimm ist, was über die Vagantendichtung gesagt wird, die natürlich wieder als eine einheitliche Masse gilt, daß der Verfasser es fertig bringt, Giesebrechts Behauptung zu wiederholen, Archipoet und Walter v. Ch. seien identisch, daß von dem ausgesprochenen und notorischen Anschluß des Erzpoeten an die Dichtform Abaelards gesprochen wird, daß das Vorkommen des Wortes gerra als Beweis für französische Abkunft des Dichters angeführt wird usw.

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Mit einem anderen Archipoeta, dem wandernden Clericus Heinrich von Avranches, von dem man bis vor wenigen Jahren nur wenig wußte, beschäftigt sich J. C. Russell in einer dankenswerten Studie. 1926 lieferte er eine Dissertation Master Henry of A. (Harvard Univ.) Leider ist sie ungedruckt, aber der Verfasser gibt jetzt ( 359) einen Überblick über das Leben des vielgewanderten Mannes. Freilich empfindet man es schmerzlich, daß uns die Gedichte selbst nur zu einem kleinen Teile bekannt sind, und es ist zu hoffen, daß uns bald ein Corpus des Ganzen vorgelegt wird. Für den Fall, daß der Verfasser eine Ausgabe plant, möchte ich den Wunsch aussprechen, daß diese anders aussieht, als die wenigen eingestreuten Proben, denn diese sind vielfach schlechterdings nicht zu lesen oder zu verstehen; ob es sich um Druck- oder Lesefehler handelt, ist oft nicht zu entscheiden. Wenn S. 45 der Hex. steht Invigilans tanti mensuram novam imples, so ist es klar, daß novam aus nominis verlesen ist, was auch allein Sinn gibt. S. 52 Pendopoeta ist natürlich Pseudo- poeta (so schon Hilka, Degeringfestschr. S. 140). Ich stelle kurz zusammen, was ich mir notierte: S. 37 unten dux bone. S. 38 oben probum: l. pronum; im folgenden Vers mihi ohne Komma. Mitte der Seite spes in magna nocet: l. mihi (m). S. 39, 4 l. Es, proparte mea casusuterque facit. V. 5 alumnus, V. 8 habes omnibus, ergo V. 9 Ergo si proprie dicaris gratia summi, S. 40 unten V. 2 Simque V. 4 quod S. 45 V. 3 odore, V. 4 fragrat V. 5 flagratque coruscans; V 6 signisque S. 46 V. 1 mundus V. 3 Quod V. 8 domuit: l. floruit. S. 52 l. reprehendendis S. 54 Scientia tante -- Fullers neue Ausgabe der Versus et ludi des Hilarius habe ich noch nicht gesehen ( 346), K. Young, Spec. 1930, 113 hat allerlei daran auszusetzen. -- Das Gedicht gegen die Bauern Si quis scire vult naturam, das Novati, Carmina med. aevi 1883, 25 ff. aus dem Marcianus Jt. 66, 16. Jhds. gedruckt hatte, gibt L. Suttina ( 349) in einem besseren und vollständigeren Text aus dem Rossianus 729, 15. Jhds. unter Heranziehung des Veronensis Bibl. Com. No. 1393, Ende 15. Jhds., von neuem heraus. Er hat übersehen, daß L. Bertalot, Humanist. Studienheft eines Nürnberger Scholaren, 1910, S. 82 ff. es aus demselben Veronensis und dem Jenaer Codex Buder q. 105, 15. Jhds., den er aus Pavia stammen läßt, ediert hat. Die Verse sind nicht immer ganz verständlich. Ich hebe nur hervor, daß V. 14 das Komma hinter nauta den Sinn verdirbt und V. 33 Bertalot statt des zweiten sunt ohne Bemerkung non hat, was zweifellos richtiger ist.

Sehr viel gelesen und verbreitet wurde im 12. und den folgenden Jhd. die sogenannte Apokalypse des Golias; sie war aber bisher in keiner brauchbaren Ausgabe vorhanden und auch schlecht zugänglich, so habe ich sie von neuem in einem kleinen Heft ediert ( 351). Leider verbot die Sammlung, in der sie erschienen ist, einen ausführlichen Apparat und Kommentar zu geben, doch konnte ich wenigstens die wichtigsten Varianten und auch einige ganz knappe Noten zufügen. In der Vorrede wird über Hss., Dichter, Heimat das Nötigste gesagt. Zu den 68 aufgeführten Hss. kommen noch Prag, Metrop. Nr. 1233 u. 1545 (beide gehören z. deutschen Gruppe u. nennen als Dichter den Alanus), eine nicht numerierte Hs. des Stadtarchivs zu Goslar fol. 88, Bodlejanus 538 und eine Hs. aus Mons vgl. Archiv 8, 470. Meine Annahme, daß als Heimat England anzusehen ist, wird von Edw. Schröder, Anz. f. d. A. 47, 154 gestützt. Ebenso habe ich ( 350) das aus Wright, Pol. Songs, S. 206 ff. bekannte hübsche Gedicht


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Meum est propositum gentis imperitae, in dem der Gedanke entwickelt wird, daß das Studium der Rechtswissenschaft wegen der großen materiellen Vorteile, die es bietet, dem der Artes vorzuziehen sei, nach den drei bekannten Hss. mit knappem Kommentar neu herausgegeben. Es stammt nicht von Walter v. Ch., ist aber von ihm beeinflußt. Die Schlußzeile lautet Dat Galienus opes et sanctio Justiniana. Über die Entwicklung dieses Spruches plaudert H. Simon, Die Medizinische Welt 1928, Nr. 23 u. 26. -- Dem alten Liede vom Turmhahn Multi sunt presbyteri widmet H. Rheinfelder ( 352) eine eingehende Untersuchung und stellt weitere Forschungen in Aussicht. Er zählt 30 Hss. auf und teilt einen, sehr verwahrlosten, Text (12 Strr., außerdem hinter 2 eine Plusstrophe), aus Vaticanus lat. 9989 (aus d. Würzburger Augustinerkloster 15.--16. Jhds.) wörtlich mit, aus einem Dutzend anderer Hss. werden Varianten beigefügt. Der Text ist dadurch interessant, daß jeder Str. eine deutsche Nachdichtung beigegeben ist. Die Zahl der Hss. läßt sich sicherlich stark vermehren, wie der Verfasser selbst schon vermutet, z. B. in Erfurt, Kopenhagen, Petersburg, Prag, Wolfenbüttel. Übersehen ist der Abdruck von O. Dobiasch-Roschdestvenski aus Petersburg lat. O. ch. XIV, No. 11 in d. Analecta medii aevi 1, 1925, 36 ff. -- Unsere Kenntnis der Visio Philiberti ist durch V. de Bartholomaeis ( 353) nicht wesentlich gefördert worden, weil er H. Walther, das Streitgedicht nicht kennt. Er spricht von 19 bisher bekannten Hss., während letzterer deren 132 aufzählt. Immerhin ist es nützlich, daß er den Text Noctis sub silentio aus der Hs. 1531 U. B. Bologna, die schon Walther nennt, abdruckt, außerdem ein Fragment aus Macerata 13. Jhds. Am interessantesten ist wohl eine beigegebene toskanische Übersetzung aus Vaticanus lat. 4840. --Helfenberger ( 358) druckt drei Gedichte aus St. Gallen 1008, 13. Jhds., vielleicht Südfrankreich. Die beiden ersten über den Sieg Karls v. Anjou über Manfred und Conradin (I. Isti rismi, so, nicht zu ändern, sunt de victoria regis Caroli, Vagantenstrophen, Inc. Letare Jerusalem, gaude plebs moderna und II. Letum carmen aro, unisone Distichen) sind schon von A. Busson 1890 veröffentlicht worden und werden hier mit eingehendem hist.Kommentar und einigen textlichen Verbesserungen wiederholt. Das dritte, ohne Überschrift, Inc. Licet mundus varia (Vagantenstrophen mit Auctoritas) hält der Verfasser für unbekannt. Das ist ein Irrtum. J. Werner hat es schon 1914, Festschr. f. H. Blümner, S. 857--873 bekannt gemacht, und dieser erste Druck ist wesentlich besser. Ich führe nur ein paar Stellen an: 6,4 intus W, 10,3 veridico W; Helfenbergers Ovidico schon deshalb verfehlt, weil er das Ovidzitat nicht nachweisen kann, 17,4 modico W, medico H, 18,4 ultima W, II, 3,2 tinniens W, nach H. hätte die Hs. tinnieus, er druckt tinnulus, II, 11,1 wohl richtig predo a. preda korr., H. III 7,2 W korr. richtig excelsi, ebenso III 7,4 antrum f. atrum, III, 16,1 frater: celitus beizubehalten W, IV, 2,2 Tamen W, tantum H. IV, 15,2 colletatur W usw. Aus Werners Aufsatz sind auch einige Verbesserungen für die beiden ersten Gedichte zu gewinnen, namentlich I, 40,1 Pasimensis = Passim ensis, nicht Parvus amnis. -- Interessant ist, daß I, 26,3 das beliebte Zitat aus Hiob hier umgedreht ist luctus est in citaram conversus. Das Gedicht schließt: non loquar ulterius, terminetur prosa. -- Noch sei erwähnt, daß auch das Certamen anime des Raymundus Astucus schon von Werner publiziert ist, vgl. NA 35, 707 ff., 36, 550 ff. -- In der unten zu Nr. 371 zu

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erwähnenden Hs. aus Pavia hat die moralische Satire Ad terrorem am Schluß 10 weitere sonst unbekannte Strophen, die ich Zs. f. d. A. 65, 93 ff. bekannt gemacht habe, wobei zugleich zu Str. 1--20 die varia lectio aus Paris 11 867, Digby 166 u. Laurentianus 36, 34 mitgeteilt wird. -- Die Vermutung von Dreves, daß Dic, Christi veritas von Philippe de Grève ist, fand N. Fickermann durch einen Eintrag in Berlin theol. fol. 312, 15. Jhs., bestätigt vgl. Neophilologus 1928, 71. -- Der Facetus Cum nihil utilius, den Hugo von Trimberg im Registrum als Supplementum Catonis bezeichnet, ist, wie Boas ( 334) zeigt, in höherem Maße von Cato abhängig als K. Schröder in seiner Ausgabe annahm, und zwar ist es ein Cato, der mit der außervulgatischen Bearbeitung zusammenhängt. -- Den Contemptus mundi Cartula nostra tibi bespricht G. Bertoni, Nota sopra uno poemetto scolastico medievale, il »de contemptu mundi«, Archiv. Romanicum 12, 136 ff. Der ihm vorliegende Text hat 850 Hexameter, d. h. an das Original ist ein anderes ebenfalls bekanntes Gedicht angehängt worden: In re terrena nihil aliud est (1. est aliud) nisi pena. Da in der Pariser Hs. 3549 aus Limoges, 13.--14. Jhd., am Schluß steht Hos DCCC et XXIII versus scripsit Bernardus Iterii armarius ... anno MCCVII, ist d. Vf. geneigt, Bernard Ithier v. Limoges für den Dichter zu halten. Leider hat er sich um die Literatur nicht gekümmert, Hauréau, Poèmes attribués à S. Bernard und Edw. Schroeder, Ein niederrheinischer Contemptus mundi u. s. Quelle, Nachr. d. Göttinger Ges. d. W. 1910, 335 ff. würden ihm wichtige Fingerzeige gegeben haben. Wertvoller als eine solche Arbeit wäre zunächst einmal eine Übersicht über die vielen Hss., die das Gedicht überliefern, und ihre Prüfung. Bevor wir hier klarer sehen, ist es müßig, den Dichter feststellen zu wollen. -- In frühe Zeiten führt uns F. Ermini, I canti latini degli alunni delle scuole di Roma nel medio evo ( 331 a). Über die Geschichte der Schulen Roms im frühen MA. ist gar wenig bekannt, und Vf. sucht durch genaue Interpretation der leider schlecht überlieferten kleinen Gedichte, Poetae 4 S. 657 f. Nr. 98--100 einiges Licht zu gewinnen. In dem ersten Stück Audite pueri, quam sunt dulces littere glaubt er ein dramatisches Element zu finden, indem das Wort des Lehrers den Gesang der Schüler unterbreche. Den doppelt überlieferten Vers Et nos felices usw. hält er für einen Refrän. Über den Zweck des Stückes vermutet er, daß es Versus ad suscipiendum sind, wie wir sie aus späterer Zeit aus St. Gallen haben; vielleicht seien es Verse zur Begrüßung eines Revisors am Gründonnerstag. Klarer ist Nr. 99, ein Lied, mit dem man ABC-Schützen in der Schule empfange und ihnen Lust zum Lernen machen wolle. Nr. 100 schließlich, ein Gebet um Regen, will er ebenfalls in die Schule verlegen. Die Bitte aus dem Munde der unschuldigen Kinder werde bei Gott größere Aussicht auf Erhörung haben.

Eine neue hübsche lyrische Sammlung hat St. Gaselee zusammengestellt ( 361), der schon 1925 eine originelle Anthology of medieval Latin geschaffen hat. Aber während er dort Vers und Prosa vereinigte und das ma.liche Latein von Petronius bis z. J. 1916 reichen ließ, beschränkt er sich jetzt auf Versdichtung vom 4. Jhd. (Hymnum dicat turba fr.) bis zu dem Hymnus auf Thomas von Aquino Pange lingua gloriosi dogmatis mysterium um 1500. Die Anordnung ist rein chronologisch, profane und geistliche Lyrik sind nicht getrennt. S. erklärt, er habe nicht die besten, sondern besonders charakteristische Stücke ausgewählt, als Engländer habe er Lieder englischer


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Provenienz bevorzugt. Über eine solche Auswahl läßt sich natürlich immer streiten, man findet unter den 111 Nummern vieles, was man zu finden wünscht, vermißt natürlich auch mancherlei. Die etwas kärglichen Anmerkungen zeigen, daß der Sammler die wissenschaftliche Literatur verfolgt hat.

Auf das Gebiet der geistlichen Lyrik führt der Aufsatz von Gilson ( 356). Bekanntlich hatte B. Hauréau die sämtlichen dem hl. Bernhard von Clairveaux zugeschriebenen geistlichen Lieder diesem als seiner unwürdig abgesprochen. Gilson analysiert eingehend den berühmten Hymnus Jesu dulcis memoria und zeigt, daß die verschiedenen Überschriften, die man ihm gegeben hat, unzutreffend sind, daß man vielmehr den Inhalt knapp und treffend mit der Überschrift des bekannten Traktates von Bernhard de diligendo deo wiedergeben könne. Es sind dieselben Gedanken, ja, vielfach ist wörtliche Übereinstimmung nachzuweisen. Wenn man also auch nicht mit unbedingter Sicherheit behaupten könne, daß Bernhard der Dichter sei, so ist es andererseits außer Zweifel, daß der Hymnus sich ganz in seinem Ideenkreise bewegt. Wenn er selbst nicht der Dichter ist, so ist es mindestens ein treuer Anhänger seines Mystizismus. -- In einer kurzen, sehr gelehrten Studie macht es A. Wilmart ( 363) höchst wahrscheinlich, daß drei in der Confessio fidei, die er Alchvine ab und Johann von Fécamp (1028--1078) zuspricht, überlieferte Distichen aus dem nur bruchstückweise erhaltenen Ferculum Salomonis des Hincmar von Reims (Poetae 3, 414 f.) stammen. -- In der Beschreibung eines Breviariums von Fontanelle, 13. Jhd., teilt P. Volk, Rev. Bénédict. 40, 1928, 244 f. außer den bekannten Versen über das Trinubium der hl. Anna, Inc. Nupta fuit Joachin weitere 11 noch unbekannte mit. Sie sind teilweise verderbt.

Als Reimsequenzen bezeichnet B. Jarcho ( 355) die Sequenzen, die in mehr als 50 % aller Versikel Reim aufweisen. Er untersucht Qualität und Umfang des Reims, Reimstellung, Melodie, Länge der Versteile usw. und stellt die einzelnen Erscheinungen nach Prozenten dar; mit großer Mühe hergestellte und mit ebensolcher Mühe zu lesende Tabellen dienen zur Veranschaulichung. Das ganze Verfahren erscheint mir nicht ganz einwandfrei. Die Beschränkung auf Sequenzen mit mehr als 50% Reim ist doch recht willkürlich, und man vermißt auch ein eigentliches Ergebnis. Wertvoller wäre es m. E., allgemein die Entwicklung des Reimes in den ältesten Sequenzen bis 1000 zu prüfen, vielleicht würden sich Anhaltspunkte für Datierung und Lokalisierung ergeben. Vf. bezeichnet den schon 1923 niedergeschriebenen Aufsatz als ein Prolegomenon zu einer größeren Hrotsvitstudie, es bleibt abzuwarten, was sich aus dieser für die Kunst der Dichterin ergibt. -- Schließlich sei hier auf eine neue Behandlung der Inschriften der Kirche von Reichenau-Oberzell hingewiesen. Sie wurde dadurch bisher empfindlich erschwert, daß die Verse schlecht leserlich waren und teilweise völlig zerstört sind. Aus Anlaß der Zwölfhundertjahrfeier sind sie gereinigt und gute Photographien hergestellt worden, und Ahrens ( 362) kann einen in vieler Hinsicht besseren und sichereren Text bieten als er uns bisher zu Gebote stand. Ganz sicher scheint freilich auch jetzt das Erhaltene nicht wiedergegeben zu werden, in dem Abdruck II fehlt volo, das bis jetzt nicht bezweifelt worden ist und mit dem der Vf. nachher selbst operiert. Im Anschluß an den jedenfalls im ganzen authentischen Abdruck macht er neue Deutungsversuche, die Förderung bieten, wenn auch manches, wie er selbst betont, subjektiv ist. In dem Verse, der schon so viel Kopfzerbrechen gemacht


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hat, Rumpe moras mortis hoc dat imago pa ergänzt er pa zu paris (so in dem mir freundlichst übersandten SA. korrigiert, der greuliche Druckfehler patris macht das Verständnis fast unmöglich) und setzt hoc dat imago in Klammern; »die Lehre muß sich an den Beschauer wenden und will den Sünder mahnen, den Todesschlaf zu brechen, der ihn gleichwie den toten Lazarus im Grabe schon so lange umfängt.« Die Deutung erscheint nicht unbedenklich, eine solche Mahnung an den Leser stände ganz isoliert in diesen Distichen, und da im Hexam. Lazare steht, fällt es wirklich schwer, ihn hier nicht als Angeredeten zu verstehen. Recht einleuchtend ist die Annahme, daß in II zwei Distichen durcheinander geraten sind, die dann vermutungsweise hergestellt werden. Zu VI, 2 ist die Änderung von fasce in faece abzulehnen, fascis, die Last, ist eine ganz gewöhnliche Vokabel und paßt hier ausgezeichnet. Betreffs des Alters dieser Verse stimmt d. Vf. mir zu, daß sie schwerlich aus dem Ende des 10. Jhds. stammen, doch verstehe ich nicht recht, warum er ihnen nicht karolingische Entstehung zubilligen will, er legt doch selbst die Zeit, in der solche Form, wenn auch selten, gepflegt wurde, zwischen 870--920 fest. An frühere Zeit glaube ich natürlich im Grunde auch nicht.


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