V. Einzelne Autoren und Denkmäler.

Mit großer Gelehrsamkeit und glänzender Darstellungsgabe entwirft Tardi ( 365) ein fesselndes Bild des Venantius Fortunatus. Er schreibt in erster Linie für seine Landsleute, wenn er sich mit großer Schärfe gegen die vielen Phantastereien wendet, die man über den Mann in Umlauf gesetzt hat. Doch auch bei uns wird man das Buch nicht ohne Nutzen, freilich oft mit innerem Widerstreben, lesen. In einer Anzeige in Stud. Med. 2, 1929, 457 ff. habe ich gezeigt, daß die bekannten Ausführungen von W. Meyer sehr mit Unrecht und sehr zum Schaden für das Buch nicht hinreichend gewürdigt sind, und daß der dritte Teil, Grammatik und Stil, auch was über das Fortleben des Dichters gesagt wird, dürftig und oft recht verfehlt ist. -- Es ist oft bedauert worden, daß B. Linderbauer in seinem vortrefflichen philologischen Kommentar zur Regula s. Benedicti 1922 dem Text der Regel nicht auch einen kritischen Apparat beigegeben hatte. Diese Lücke wird durch die gute Ausgabe ( 335), die wissenschaftlichen, nicht monastischen Zwecken dienen soll, ausgefüllt. Es ist selbstverständlich, daß dem Zweck entsprechend der Sangallensis 914 zugrunde gelegt wird. Ob der Herausgeber recht daran getan hat, in gewissen orthographischen Fragen zu normalisieren, dürfte fraglich sein. Die Prolegomena berichten über die Textgeschichte, wo selbstverständlich auf Traubes Buch eingegangen und auch darauf hingewiesen wrid, daß dieser in einzelnen Punkten korrigiert worden ist, über die Hss. und ihr Verhältnis zu dem Original, über die Latinität des hl. Benedict, die Ausgaben und sonstige Literatur. Ein ausgiebiger Apparat gibt nicht nur die Lesarten von S. G. 914, sondern auch die wichtigsten Abweichungen anderer Hss., von denen die aus Montecassino hervorgehoben seien. Sehr angenehm ist, daß auch die Quellen mitgeteilt werden, wo dem Herausgeber die mittlerweile in 2. Aufl. (1927) erschienene Ausg. v. C. Butler, wie er selbst sagt, wenig zu tun übrig gelassen hat. (Über Cassians Einfluß auf die Regel handelt Paul Albers, Stud. u. Mitteilg. 46, 1928, S. 12 ff., 146 ff.; über den Prolog E. Heufelder ebenda S. 361 ff., der wahrscheinlich machen will, daß er stückweise entstanden ist.) Eine Reihe von Hss. hat der Herausgeber selbst verglichen, für andere hatte er Kollationen von E. Schmidt; für S. 914 hat er sich auf die bekannte Wiedergabe von A. Amelli und G. Morin, Montiscasini MCM verlassen und nur bei einzelnen Stellen in St. Gallen angefragt. Ich zweifle, ob er gut daran getan hat, nach Notizen, die ich mir vor Jahrzehnten machte, habe ich den Eindruck, daß diese Wiedergabe nicht überall exakt ist, vor allem sind die Rasuren nicht hinreichend beachtet. Eine genaue Nachvergleichung wäre recht erwünscht, z. B. wüßte ich gern, ob zu Anfang steht, IN NOMINE oder INOMINE; f. 14, 34 suam oder sua, f. 59, 35 f. o/opus usw. Im Anschluß daran mache ich auf die Schriftproben aus der Oxforder Regelhs. aufmerksam, die wir E. A. Lowe verdanken Regula s. Benedicti. Specimina selecta e codice antiquissimo elegit ... E. A. L., Oxonii 1929 5 Tafeln. Er datiert die Hs. um 700. Schriftheimat Canterbury. -- Unser Wissen vom hl. Pirmin ist durch Gall Jecker ( 1262) sehr erheblich gefördert worden. Im Anschluß an eine Neuausgabe des Scarapsus, für die außer der bisher allein beachteten Einsiedler Hs. 199 zwei ungefähr gleichzeitige Parisini aus St. Amand und Corbie herangezogen,


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aber eigentlich nicht recht verarbeitet werden, bietet er sehr eingehende Untersuchungen über die Quellen des Traktates und findet die schon früher namentlich von L. Traube geäußerte Vermutung bestätigt, daß Pirmin, dessen Name romanisch ist, aus Spanien oder wahrscheinlicher Südfrankreich stammte; durch das Vordringen der Sarazenen sei er aus seiner Heimat verdrängt worden und habe dann eine reiche Tätigkeit zuerst in Nordfrankreich (Meaux), dann am Oberrhein entfaltet. Sehr erwünscht wäre es gewesen, wenn auf die streng philologischen Fragen, die sich überall ergeben, eingegangen wäre, z. B. die Frage nach dem Latein, das der Heilige schrieb, hätte erörtert werden sollen (S. 81, 22), die Frage, wie weit der Text der oft wörtlich zitierten Quellen durch den Scarapsus gefördert wird u. a. a. Sehr wichtige Nachträge liefert P. Lehmann, Dicta Pirminii (Stud. u. Mitt. 1929, 47 ff.). Er weist 2 weitere Hss. (Cheltenham und Oxford) nach, die für die Rezension ausgenutzt werden müssen, und fordert ferner mit Recht, daß man die Dicta P. nicht isoliert behandelt, sondern in Betracht zieht, daß der Traktat in der Einsiedler-Hs. als integrierender Teil eines großen Homiliars erscheint, daß der von Pirmin zitierte Bibeltext untersucht wird, das Verhältnis zur 17. Eligiushomilie festgestellt wird u. a. a. --

Aus karolingischer Zeit ist eine sehr wichtige Publikation zu verzeichnen. Der irische Grammatiker Clemens ist bisher neben seinem älteren Zeitgenossen und Kollegen Alchvine stark vernachlässigt worden, und Tolkiehns Erstausgabe ( 336), füllt eine oft empfundene Lücke aus. Sehr klar und belehrend ist die ausführliche Vorrede. Da die Hs. der grammatischen Werke des Cl., die in Bobbio war, verloren ist, kommt vor allen Dingen neben einer Münchener die Bamberger Hs. M. V. 18 s. X. in Betracht. In dieser stehen f. 1--70 vier Traktate grammatischer Art, und am Schluß folgt eine metrische Widmung des Clemens an Kaiser Lothar, so daß die Annahme nahe liegt, alle vier stammten von ihm. Der Herausgeber weist nach, daß dies nicht richtig ist, nur die beiden ersten gehören Clemens, das Gedicht ist fälschlich an den Schluß des vierten gesetzt worden. Sehr wertvoll ist auch die Behandlung der zahlreichen Quellen, die im einzelnen nachgewiesen werden. Hervorzuheben ist die Erkenntnis, daß Clemens oft einen besseren Text vor sich gehabt hat, als wir ihn lesen, sein Werk also zur Emendation des Alchvine, Virgilius Maro u. a. a. herangezogen werden muß. Am interessantesten ist wohl das Verhältnis zu Isidors Etymologien. Das Exemplar des Cl. wich von unserem Text oft ab, der Herausgeber wird nicht unrecht haben, wenn er dies auf die Rezension des Braulio zurückführt. Die Ausgabe gibt unten sehr sorgfältig die benutzten Quellen an, dann die Zitate und schließlich die varia lectio. Über die Orthographie des Bambergensis, z. B. praescianus hätte man gern in der Vorrede eine zusammenfassende Erörterung gehabt. Zu bannita, S. 19, 5, vgl. Traube, Wölfflins Arch. 6, 266, dessen Vermutung, daß das Wort aus Irland stammt, durch das Auftreten bei Clemens bestätigt zu werden scheint. -- In der umstrittenen Frage nach der Zeit und dem Adressaten der Via regia des Smaragdus kommt Laistner ( 333) zu dem Ergebnis, daß der Abt v. St. Mihiel das Werk zwischen 813 und 816 an Ludwig den Frommen gerichtet hat. -- Mit dem Waltharius beschäftigt sich Brinkmann ( 367), der, wie er es liebt, neue Momente für das Verständnis findet, über Betrachtung der individuellen Leistung zur gattungsmäßigen Einordnung schreitet, fruchtbare Gesichtspunkte gewinnt usw. Ich habe den kurzen Aufsatz mehrfach gelesen und empfinde immer wieder eine große Unklarheit.


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Zuerst glaubt man, daß er im Gegensatz zu Neckel steht. Damit lassen sich aber verschiedene Äußerungen schlecht vereinigen, und man erfährt nicht, wie der Verfasser sich die Sachlage eigentlich vorstellt. Viele Behauptungen sind ohne Begründung hingeworfen, z. B. daß der Biterolf irgendwie mit dem W. im Zusammenhang steht, daß das Gedicht vom Sachsenkrieg nach Anlage und Stil vom W. beeinflußt ist usw.; so sollte man über den W. nicht mehr schreiben, zumal vor einem Leserkreise, der in der Mehrzahl diese Behauptungen kaum nachprüfen kann. Was soll ein Satz wie »Fluchtschilderung muß beliebt gewesen sein, ich finde sie auch bei Lambert von Hersfeld.« (Wertvoller wäre vielleicht ein Hinweis auf Gregor v. T. gewesen.) Daß der Dichter von Fortunatian abhängig ist, dürfte ein Irrtum sein, es ist wohl Fortunat gemeint. Durchaus zustimmen kann ich, wenn Verfasser die Wertung der Schlußszene als »spielmännisch« ablehnt. -- Einen hübschen hagiographischen Beitrag liefert Hilka ( 366) mit der Ausgabe einer metrischen Vita Marine. Über die Form habe ich NA. 48, S. 306, Nr. 410 einiges gesagt, wo auch ein paar kritische Anmerkungen gegeben sind. -- In seiner Ausgabe der Elegie des Heinrich v. Septimello (vgl. Jberr. 2, S. 210) hatte Marigo den Namen des angeredeten Longepres als Longus presbiter gedeutet, allerdings dahinter ein sehr berechtigtes Fragezeichen gesetzt. Monteverdi ( 368) lehnt diesen Unsinn natürlich ab und sieht in dem Wort einen Namen, den der Dichter aus provenzalischen Bestandteilen (Provenzalisch war damals in Italien Mode) geschaffen habe 'Lungi e presso', und er bedeute: ein Freund, der körperlich getrennt, aber im Geist mit ihm verbunden ist. (Verfasser hätte noch zufügen können, daß dieser Gedanke im MA. häufig ist.) Wer ist der Angeredete? In einer der ältesten Hss. steht die Notiz Dirigit librum suum ad dominum longepres episcopum ultramarinum. Monachus, Erzbischof von Cäsarea, später Patriarch von Jerusalem, war ein Florentiner und weilte 1187 -- 1189 in der Heimat. Damals werde, so meint Monteverdi, der Freundschaftsbund geschlossen und erneuert worden sein. Man wird die Vermutung jedenfalls als höchst einleuchtend bezeichnen dürfen. Die erwähnte Ausgabe Marigos unterzieht V. Ussani, Stud. Med. 1, 1928, S. 540--545 einer scharfen Kritik und stellt eine Anzahl von Stellen richtig. Ich darf vorausnehmen, daß ich Stud. Med. 2, 1929, 110--133 Henricus Septimellensis u. d. zeitgenössische Literatur nachgewiesen habe, wie sehr der Dichter von Walter v. Ch. (Alexandreis u. moral.Gedichte), Tobias des Matth. v. Vendome und anderen Gedichten der Zeit beeinflußt ist, wovon der Herausgeber nichts ahnt. Gleichzeitig hat Gius. Spagnolo, La cultura letteraria di Arrigo da S., Giorn. stor. d. letteratura ital. 93, 1929, 1 ff. viele übersehene Parallelen zu antiken und auch ma.lichen Autoren nachgewiesen, von denen aber manche wohl zu streichen sind. -- Der Novus Aesopus des Italieners Baldo ist von Du Méril und Hervieux ziemlich fehlerhaft herausgegeben worden. Außerdem ist die bisher allein bekannte Wiener Hs. 303 lückenhaft, sie enthält nur 28 Fabeln, während Jeremias v. Montagnone eine Sammlung von 35 Nummern gekannt hat. Hilka ( 369) hat festgestellt, daß die Hs. Hl. Kreuz 112 (in der auch die Marina, Nr. 366, steht) sie vollständig enthält und auch für die schon bekannten Stücke einzelne Ergänzungen bietet. Mit Benutzung beider Hss. gibt er eine neue Ausgabe mit eingehender Darlegung der literar. Form. Baldos Verse sind nicht immer leicht zu verstehen, auch wo sie richtig erhalten zu sein scheinen, aber zuweilen wird durch kritische Eingriffe weiter

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zu kommen sein. 15,7 scheint mir ein Hexameteranfang Postulat temporum socius kaum möglich. Ich würde vorschlagen Poscit tantorum. 15,13 möchte ich das Komma hinter rostro tilgen und corpus regale verbinden. 15,21 Discat ab hoc. 15,22 Ęquus et est si quis, caveat. 6,5 f. würde ich verstehen, wenn V. 5 hec f. hic, V. 6 Hicque gesetzt würde. 6,13 l. pandit, 6,14 intro? 7,19 halte ich In pectus f. richtig. 10,2 Rite per antiquum verstehe ich nicht und lese R. perantiquum = eine ganz alte u. erfahrene Maus. 10,3 Komma hinter semina, hinter caute zu tilgen. 26,5 ceu usw. -- Im zweiten Teil der Beiträge macht Hilka eine lat. Übersetzung der griech. Version des Kalilabuches v. Simeon, Sohn des Seth, bekannt, die in 2 Hss. des 15. Jhds., Budapest, Nr. 99 u. Wien 13 650 steht. Sie enthält sämtliche drei Prologe. Die Übersetzung schließt sich sehr eng an die griech. Vorlage an und kann für die Textkritik derselben verwertet werden. Über Zeit und Provenienz scheint nichts festzustehen. Anmerkungen am Schluß der Ausgabe weisen auf Übersetzungsfehler und Abweichungen hin. -- Nützliche Neue Beiträge zur Geschichte der Sieben weisen Meister im Orient und Okzident gibt die Kölner Dissertation von M. Schmidt (1928). --Petrus v. Cluni verfügt, wie Manitius ( 341) nachweist, über eine ausgedehnte Belesenheit in der Väterliteratur; neben Augustinus, Ambrosius, Paulinus von Nola kennt er auch den wenig gelesenen Tertullian. Besonders wichtig ist er, wie sich herausstellt, für die Gregorüberlieferung. -- Der Aufsatz von Mckeon über Thomas Aquinas ( 342) gehört in den Abschnitt über Scholastik u. Mystik d. MA. Thorndikes kleiner Aufsatz ( 340) gibt einen Nachtrag zu Speculum 1, 1926, 101--103. Baldwins Buch ( 338) hat mir noch nicht vorgelegen, ebensowenig Ottavianos Aufsatz über Alchvine ( 332). Über Forseys Ausführungen ( 339) werde ich berichten, sobald ich S. J. Crawfords Ausgabe Bridiertus Monachus Ramesiensis, Manual 1929 gesehen habe. Zum Schluß weise ich darauf hin, daß B. L. Ullmann, Tibullus in mediaeval Florilegia, Classical Philology 23, 128 bis 174, Auskunft gibt über die im MA. vorhandenen Tibullflorilegia, die in zwei Gruppen zu teilen sind.


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