I. Sprachgeschichte (und Urkundensprache).

Von Pauls Grundriß der germanischen Philologie, der in seiner neuen Form in Einzelausgaben erscheint, sind für das Berichtsjahr zwei wichtige Neuerscheinungen zu erwähnen. O. Behaghels Geschichte der deutschen Sprache ( 374) bringt in ihrer fünften Auflage außer einer starken Erweiterung auch eine Bearbeitung hauptsächlich unter zwei Gesichtspunkten. Einmal sind die modernen Ergebnisse der Sprachgeographie übernommen, dann aber setzt sich der Verfasser mit dem neuerdings vielerörterten Satz auseinander, »daß Sprachgeschichte Bildungsgeschichte, Geistesgeschichte sei«. Der Verfasser bestreitet ihn und legt dafür größeres Gewicht auf die Betonung der verschiedenartigen »Mächte, die auf den Sprachwandel einwirken können«. -- Eine Neuerscheinung im Rahmen des Grundrisses ist die Einführung in die Geschichte der Sprache und Kultur der Germanen von T. E. Karsten ( 376). In fünf Kapiteln werden hier behandelt: Urverwandtschaft; die indogermanische Spracheinheit, ihre Träger und ihre Urheimat;


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die Urgermanen und ihre Heimat; die germanische Ursprache und unsere Quellen ihrer Erkenntnis; die Auflösung der germanischen Ursprache. Wodurch sich das Buch von den früheren Abhandlungen über »deutsche« Stammes- und Altertumskunde unterscheidet, ist die gleichmäßige Berücksichtigung aller germanischen Stämme und Gruppen und ihrer kulturellen Ausstrahlungen; gerade Nord- und Nordosteuropa (Finnland, baltische Gebiete) kommen dabei auch zu ihrem Recht, wobei sich der Verfasser auch mit neuen anthropologischen Theorien (z. B. der Blutgruppenforschung) auseinandersetzt. Das Buch stellt (vgl. Neckel, Dte. Lit.-Ztg. 28, 1596 ff.) die beste Ergänzung zu Muchs enger gefaßter Deutscher Stammeskunde dar, das es durch seine breitere Anlage und die reicheren Literaturangaben glücklich ergänzt.

Obwohl indirekt auch die Namenforschung fördernd, sind zwei Arbeiten von Schatz und Baesecke doch wesentlich der Grammatik und Sprachgeschichte zugewandt. -- J. Schatz ( 389) stellt aus altbairischen Urkunden hauptsächlich Belege für die verschiedenartigen Formen flektierter und (wirklich oder scheinbar) unflektierter zweiter und erster Namenbestandteile zusammen. G. Baesecke ( 377) untersucht in Weiterführung seiner Studien über das Kloster Reichenau die hauptsächlich durch Beyerle edierten Mönchslisten auf ihren Ertrag für die Sprachgeschichte. Neben wichtigen Einzelergebnissen -- Spannung zwischen geläufiger Form und offizieller Orthographie, zwischen Kanzleitradition und Schreibart für andere Zwecke; individuelle Eintragungen in offiziellen Listen verwischt; Scheidung von Personen durch verschiedene Formen des gleichen Namens (z. B. Tuto und Tuato); Durchkreuzung lautgeschichtlicher Entwicklungen durch die Geschichte von Einzelworten -- ist dann von besonderem Wert das allgemeine Ergebnis, daß alle Namen vor 825 modernisiert sind und darum kein geeignetes Mittel zur Datierung der frühen Reichenauer Denkmäler und ihre Scheidung von den St. Gallischen abgeben. Wichtig ist ferner die Feststellung, daß zu dem allgemeinen fränkischen Einfluß, der sich durch die Stellung des Klosters im Reich und die Art seiner Zusammensetzung erklärt, noch ein festumgrenzter hinzutritt, indem sich die Kanzlei bis 782 eines fränkischen Deutsch bedient, das wohl erst bei der Verleihung der Immunität durch stärkeren alemannischen Einschlag abgelöst wurde.

Die Sprache der Reichskanzlei des Königs Wenzel in Prag untersucht H. Bindewald ( 384) in ihrer Greifswalder Dissertation. Nach einer ausführlichen Darstellung über ihre Sprache, die sich auch auf Syntax, Stil und Wortschatz erstreckt, ordnet die Verfasserin die Kanzlei in die allgemeine sprachliche Entwicklung der Zeit ein. Sie bestätigt dabei die Beobachtung früherer Forscher, »daß sich unter den lützelburgischen Kaisern eine nahezu einheitliche Kanzleisprache ausgebildet habe, die zumal in den späteren Jahren Karls IV. immer deutlicher hervorgetreten und von Wenzel beibehalten bzw. nur wenig weitergebildet worden sei«. Wichtig erscheint auch das in der Schlußbetrachtung nicht wiederholte Resultat einer Arbeit Moureks (vgl. S. 214), daß zwischen dem Prager Deutsch des 14. Jhds. und der Reichskanzlei unter Karl IV. und Wenzel eine starke Übereinstimmung bestand.

Eine Sprachgeschichte in ihrem Gesamtablauf bietet das Buch von A. Lasch über Berlin ( 382), das zwar für weitere Kreise bestimmt ist, aber doch auf der soliden Grundlage fachlicher Kennerschaft ruht. In großen Zügen wird die Zusammensetzung der ältesten Bevölkerung geschildert, für deren Hauptmasse


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elbostfälische Heimat angenommen wird. Zu der so sich ergebenden mnd. Sprachgrundlage kommt im 15. Jhd. durch Handel, römisches Recht und Humanismus ein starker Einschlag von gesprochenem Obersächsisch, das allerdings z. T. vom Volke seinen Artikulationsgewohnheiten entsprechend umgewandelt wird. Der Begriff der »Mischung«, der in der Sprachgeschichte lange nicht mehr den ominösen Klang hat wie früher, wird allerdings doch wohl nicht so völlig auszuschalten sein, wie die Verfasserin es möchte. Das Produkt aus nd. Kette und obersächsischem Einschlag ist das »Berlinisch«, das vom 16. Jhd. an allmählich immer allgemeinere Gültigkeit in der Stadt erhält, bis es gegen Ende des 17. Jhds. sogar Hofsprache wird; »Berlinisch« ist in dieser Zeit Allgemeinsprache der Stadt, nicht Dialekt einer Unterschicht. Zu diesem wird es erst gegen Ende des 18. und noch mehr im 19. Jhd., als die Gebildeten sich der stärker normalisierten Schriftsprache zuwenden. Das Besondere der jüngsten Zeit ist eine starke Zersetzung des Berlinischen durch die Schriftsprache, dazu starke Wandlung des Wortschatzes; als Charakteristikum bleibt für Berlin nur noch der Wortschatz und eine besondere Ausdrucksform, wozu aber wohl auch noch eine spezifische Klangfarbe und Melodie der Sprache zu rechnen sein werden. Wortschatz und Grammatik des Berlinischen werden als ergänzende Darstellung geboten.

Einem größeren Mundartbezirk ist die breitangelegte Arbeit von W. Jungandreas ( 306) gewidmet, der es unternimmt, die Besiedlungsgeschichte Schlesiens und die Entwicklungsgeschichte der schlesischen Mundart einer Lösung näherzubringen. Der Verfasser stellt sich dabei von vornherein die Hauptaufgabe festzustellen, ob das Schlesische mehr dem thüringisch-obersächsischen oder dem ostfränkischen Sprach- und Kolonisationsgebiet angehört. Material des Beweises sind ihm Herkunftsfamiliennamen, Ortsnamen und am stärksten die Mundart. Der ersten Gruppe mißt der Verfasser selbst einen verhältnismäßig geringen Wert zu, da die bisher publizierten Herkunftsbezeichnungen nur eine geringe Zahl gegenüber der Gesamtzahl der deutschen Einwanderer ausmachen und die in den Urkunden erwähnten Altschlesier oft dem Adel angehören, dessen Einwanderung sich teilweise unter anderen Bedingungen vollzogen haben wird wie die Gruppeneinwanderung der Bauern. Relativ geringen Umfangs ist auch das Ortsnamenmaterial; hier gelingen konkrete Nachweise am ehesten da, wo es sich um Gruppen typischer Namenbestandteile (vgl. z. B. die -seifen-Orte) oder um Gruppensiedlung handelt, die in den Stammlanden in gleicher Zusammensetzung wiederkehrt (vgl. die glätzische Gruppe Roms, Reinerz, Rückers, der die südlich Fulda gelegene Rommerz, Reinhards, Rückers entspricht). Das Hauptstück der Vergleichung baut leider auf durchaus unzulänglichen Grundlagen auf. Der Verfasser schafft sich in der Einleitung die -- durchaus falsche -- Prämisse, daß sich die westlichen Mundarten in den letzten 6--7 Jhd. ebensowenig in erheblichem Umfange geändert hätten wie das Schlesische, was dann natürlich den Vergleich des heutigen Schlesisch mit den heutigen westlichen Mundarten ermöglicht. Richtig ist das allgemeine Resultat, daß Obersachsen-Thüringen tatsächlich den größten Teil der Einwanderer gestellt haben wird, richtig auch, was J. über den geringen Einfluß der benachbarten Mundarten und Sprachen nach Abschluß der Besiedelung sagt, des Slavischen, Obersächsischen, Brandenburgischen; dabei unterschätzt J. aber die Bedeutung der Prager Kanzlei, der Schlesien zum mindesten die nhd. Diphthonge


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für î, û, iu verdankt. Falsch ist des Verfassers Meinung, der im Gegensatz zu v. Unwerth (und dem Berichterstatter) in Abrede stellt, daß das Schlesische einem inneren Ausgleichsprozeß unterworfen gewesen ist. Was an dem Buche für den Historiker Wert behält, das ist außer der übersichtlichen Darstellung über Umfang und Gliederung des Gesamtschlesischen (mit Einschluß der östlichen Sprachinseln) das Material an historischen Beziehungen, Namen, Urkunden.

Mit einem engeren Problem, der Untersuchung über die Ostgrenze des Alemannischen, die frühere Arbeiten fortsetzt, verbindet K. Bohnenberger ( 378) eine Erörterung über Grundsätze und Methoden der Mundartforschung, z. T. in Auseinandersetzung mit den »Sprachlandschaften« des Berichterstatters (vgl. 1927, Nr. 480 und S. 169 f.). Der Aufsatz gibt, vorsichtig abwägend, vielfach Meinungen wieder, die nicht nur für den Verfasser, sondern auch für andere süddeutsche Mundartforscher charakteristisch sind. Zugleich zeigt er, daß der Abstand der Auffassungen über Dialektbildung in Deutschland nicht mehr so unüberbrückbar erscheint wie noch vor zwei oder drei Jahrzehnten, daß vielmehr in der praktischen Arbeit und in der Interpretation der Tatsachen eine weitgehende gegenseitige Annäherung zwischen Nord und Süd zu konstatieren ist. Wogegen Berichterstatter seine Bedenken allerdings aufrecht erhalten muß, das sind: die Vermischung praktischer Gesichtspunkte mit theoretischen bei der Abgrenzung der Mundarten, d. h. Spracheinheiten (S. 59); ferner der Circulus zwischen postulierter Stammesgrenze und Sprachgrenzen, die in der Nähe der Stammesgrenze gesucht und dann zum Beweise des Einflusses der frühgeschichtlichen Grenze gebraucht werden. Der wirkliche Charakter einer Dialektgrenze -- und daß der Lech eine solche ist, darüber sind ja Verfasser und Berichterstatter durchaus einig --, die Breite der Übergangsmundarten ergeben sich nicht aus einem ausgewählten Beweismaterial; das zeigt der Vergleich von B.'s Karte mit Sprachatlas, Fischers Atlas und Kranzmayers Arbeit. Denn der Einstrom östlicher Formen nach Schwaben beschränkt sich keineswegs auf Bayrisch-Schwaben, wie allein schon die Verdrängung von s (aus hs) durch östliches ks erweist (vgl. Sprachlandschaften Deckbl. 6, Fischer Karte 20). Wenn B. die Zweiteilung des Berichterstatters in »aktive« und »passive Sprachlandschaften« durch die Begriffe der »nichtausstrahlenden« und »nichtübernehmenden« erweitern möchte, so handelt es sich dabei um Formen, die einesteils mit den »passiven« zusammenfallen, andernteils als existierend bisher weder durch B. noch sonst irgendwo in Deutschland erwiesen sind. Was schließlich die Arten der Mundartenaufnahme angeht, so glaubt Berichterstatter, daß wir zu einer »Ferndeutung« auf Grund gedruckten und handschriftlichen Materials -- und für Schwaben sind wir keineswegs schlecht dran -- im Interesse einer Gesamtbetrachtung der deutschen Sprachentwicklung nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sind.

Auf dem Gebiete der Wortforschung setzt W. Seelmann die von ihm und H. Teuchert geführten Untersuchungen über mittelniederländische Wörter in der Mark Brandenburg fort (Jb. Ver. nied.dte. Sprachforsch. 26, 52, 31--40). -- Das seit langem vergriffene Mnd. Handwörterbuch von Schiller-Lübben wird durch die Neubearbeitung von C. Borchling und A. Lasch ( 380a) ersetzt, von der bisher drei Lieferungen erschienen. Von dem verstärkten Interesse für das Mittelniederdeutsche zeugt auch der in jüngster Zeit in Münster geplante


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Neudruck des großen Wörterbuchs von Schiller-Lübben. -- Sprach- und kulturgeschichtlich verspricht reiche Ausbeute der Plan A. Wredes ( 380), den Altkölnischen Sprachschatz vom 12. bis zum Anfang des 19. Jhd. in einem umfangreichen Wörterbuch herauszugeben.


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