I. Hilfsmittel und Arbeiten allgemeinen Inhaltes.

In dem letzten Bericht wurde darauf aufmerksam gemacht, daß sowohl die ständige starke Vermehrung des vor- und frühgeschichtlichen Fundstoffes wie auch das wachsende Interesse an ihm eine Neu- und Ausgestaltung des Schrifttums der Vorgeschichtsforschung verlangen. Die Berichtsspanne von dem Umfang nur eines Jahres ist zu kurz, als daß heute schon wesentliche Erfolge in dieser Richtung genannt werden könnten. Immerhin gibt die rege Arbeit auf allen Teilgebieten der vaterländischen Archäologie zu erkennen, daß die Entwickelung zwangsläufig zu einem Ausbau der Hilfsmittel führen wird, den eine innere Umgruppierung der bereits vorhandenen begleitet. Daß dieser Vorgang eine Reihe von Jahren benötigt, ist selbstverständlich.

Das Vorgeschichtliche Jahrbuch ( 420) hat seinen Umfang wiederum wesentlich vergrößert. Es gibt zu erkennen, daß jetzt überall in Europa eifrig gearbeitet wird, und daß nicht nur bei uns in Deutschland das Bestreben herrscht, die neuen Beobachtungen sobald als möglich der Fachwelt zugänglich zu machen. Anderseits zeigt es deutlich, wie im Zusammenhang hiermit das Schrifttum immer mehr anwächst und sich in steigendem Maße entlegenerer Sprachen bedient. Damit aber bietet das Jahrbuch zugleich die Rechtfertigung sowohl seines Daseins wie auch der Art seiner Anlage; die über den Inhalt jeder Arbeit unterrichtenden knappen Referate ersparen dem Benutzer ebensoviel Zeit wie die Zusammenstellung der Titel. Das Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit ( 421) ist mit seinen beinahe jeden Monat erscheinenden Heften das Band, welches die Forscher und das Heer der freiwilligen Helfer enger als alles andere zusammenschließt. Neben Nachrichten über wichtigere neue Funde bietet es Aufsätze zu den Tagesfragen der praktischen Denkmalpflege, über größere wissenschaftliche Unternehmen, besondere Ergebnisse, sowie die Stellung und Vertretung der vaterländischen Archäologie nach außen hin. So ist die Zeitschrift das Sprachrohr sämtlicher Belange des Faches, und die Zunahme ihres Umfanges spiegelt seine vielseitige Entwickelung wider. Die drei großen Zeitschriften ( 422--424) sind in dem gewohnten Umfang weiter herausgegeben worden; ein stattlicher Ergänzungsband zum Mannus ist die von Freunden und Schülern dargebrachte Festgabe für den 70jährigen Gustaf Kossinna. Die bisher ausschließlich der Eiszeitforschung dienende Zeitschrift hat ihre Plattform vergrößert ( 425) und ist zu einem Jahrbuch für Erforschung des vorgeschichtlichen Menschen und seines Zeitalters geworden. So bietet sie jetzt neben den Beiträgen zu Eiszeit und paläolithischer Kulturentwickelung


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einen umfangreichen Aufsatz über eine spätneolithische Fundgruppe in Niederösterreich ( 470). Die Erweiterung ihres Arbeitsgebietes wird der Entwickelung der Zeitschrift sicher dienlich sein; aber man darf doch wohl hoffen, daß über dieser neuen Aufgabe die alte nicht zu sehr in den Hintergrund tritt. Die gesamte Eiszeitforschung ist viel zu weit verzweigt, als daß sie eines Mittelpunktes entraten könnte, der zuverlässig über alle ihre Strömungen unterrichtet; mehrere Naturwissenschaften und die Archäologie sind in gleichem Umfang auf sein Vorhandensein angewiesen, zumal sie gerade auf dem Gebiete der Eiszeitforschung einander viel zu geben haben. Die Stellung der Tagungsberichte der deutschen Anthropologischen Gesellschaft ( 426) im Rahmen des Schrifttums der heutigen Vorgeschichtsforschung ist schon im letzten dieser Berichte erörtert worden. Es liegen jetzt die Veröffentlichungen über die beiden Versammlungen in Köln und Hamburg vor. Dem ersten der beiden Berichte kommt besondere Bedeutung zu, da er ausführlich auf die in Köln veranstaltete Sonderausstellung deutscher Altertümer aus der mittleren Steinzeit eingeht, welche ja eine sehr gute Übersicht über den ganzen heute vorliegenden Fundbestand bot. Im übrigen gilt hinsichtlich dieser Berichte und der ihr zugrunde liegenden Veranstaltung das im vergangenen Jahr über sie Gesagte; da jedoch die Versammlungen der deutschen Anthropologischen Gesellschaft heute noch immer die einzigen Veranstaltungen sind, welche die Vorgeschichtsforscher ganz Deutschlands vereinigen, so muß auch noch weiterhin mit dem Erscheinen dieser Tagungsberichte gerechnet werden. Die Römisch-germanische Kommission hat zwei neue Berichte herausgegeben ( 427) und ihre Zeitschrift ( 428) ist das Sprachrohr der Forschung an Rhein und Donau.

Das Reallexikon der Vorgeschichte nähert sich der Vollendung; es fehlen von ihm nur noch einige Lieferungen der letzten beiden Bände ( 429). Eine neue Reihe kleiner Quellenschriften ( 430) hat die Aufgabe, geschlossene Funde und Fundgruppen in gemeinverständlicher Form weiteren Kreisen zugänglich zu machen. Indem sie sich zwischen die Zeitschriften und die bereits vorhandenen Schriftenfolgen einschiebt, sichert sie sich nicht nur ihren Bestand, sondern dient sie zugleich der Fachwissenschaft, welcher diese Arbeiten nicht minder willkommen sind. Ebenso wird man den Beginn eines anderen Unternehmens begrüßen, welches lediglich der Veröffentlichung von Quellen dienen soll ( 431). Der vorgeschichtliche Fundstoff wird in unserem gegenwärtigen Schrifttum in der Regel nicht um seiner selbst willen, also als ein Baustein, veröffentlicht; nur sehr wenige Fundberichte zeigen, daß man der guten Beschreibung von Fund und Fundumständen einen selbständigen wissenschaftlichen Wert zuerkennt. Die große Menge des Stoffes findet in irgendeinem Zusammenhang ihren Platz; indem ihr hier aber in der Regel eine bestimmte Aufgabe zukommt, ist die Fundbeschreibung oftmals nicht nur lückenhaft, sondern auch von einer vorgefaßten Meinung beherrscht. Das neue Unternehmen ist der beredte Ausdruck eines Verlangens, welches die Vorgeschichtsforschung der Gegenwart schon seit einiger Zeit beschäftigt, und zwar nach einer scharfen Trennung von Fundbericht und Verarbeitung, sowie des Wunsches der Bekanntgabe umfangreicher, in den Museen aufgespeicherter und bisher kaum zugänglicher Sammlungsbestände. Die Festschrift für P. W. Schmidt ( 432), eine stattliche Vereinigung von kleineren Aufsätzen der verschiedensten Richtungen, zeigt die Vorgeschichtsforschung im Bunde mit der Völkerkunde. Die


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Fühlung beider Gebiete ist noch nicht so eng, daß sie in planmäßiger Zusammenarbeit einem gemeinsamen Ziele zustrebten; sie beschränken sich vorläufig im wesentlichen auf die Übernahme einzelner Beobachtungen und Ergebnisse. Trotzdem aber sind zahlreiche Gemeinsamkeiten ihrer Fragestellung die Vorboten der zukünftigen Entwickelung. So muß die Festschrift auch von der deutschen vorgeschichtlichen Forschung sehr beachtet werden, obwohl die von ihr gebotenen Aufsätze prähistorischen Inhaltes die Vorzeit Mitteleuropas kaum betreffen; denn ein gewisser Einfluß der von dem Jubilar vertretenen Anschauungen macht sich heute schon in ihr geltend.

Eine Reihe von Arbeiten ist der Geschichte und Methode des Faches gewidmet. Jacob-Friesen ( 438) sucht ein System der urgeschichtlichen Wissenschaft zu bieten, ohne doch ihr Wesen als Geschichtswissenschaft in den Mittelpunkt seiner Untersuchung zu stellen. Denn die Vorgeschichte ist Geschichtswissenschaft; sie arbeitet mit ihren archäologischen Methoden an derselben großen Aufgabe, an welche die völkerkundliche Universalgeschichte mit den ihrigen herantritt. Darum sollte man annehmen, daß dieses Ziel und die zu ihm führenden Wege der Gegenstand der Darstellung sind. Aber das Verhältnis der Vorgeschichte zur Völkerkunde wird nur gelegentlich gestreift, und erst im Schlußwort geht der Vf., und auch hier nur mit wenigen Worten, auf die eigentlich historische Auswertung des Stoffes ein. Dem entspricht es, daß von den Beziehungen der Bodenforschung zur alten Geschichte und derjenigen des MA., welche für die deutsche Archäologie heute im Vordergrunde des Interesses stehen, nicht gesprochen wird. Auch hinsichtlich der Behandlung der methodischen Probleme klafft in dem Werk manche Lücke. Eine Reihe von Fragen mehr nebensächlicher Art wird breit erörtert, während man die Behandlung gerade derjenigen vermißt, welche heute überall zwischen den Zeilen unserer Veröffentlichungen geschrieben stehen. Vergeblich sucht man nach einer Erörterung der Frage, ob die uns geläufige Auffassung von der Bedeutung der typologischen Entwickelungsstufen für die relative Chronologie nicht einer grundsätzlichen Wandlung bedarf; das Problem der bodenständigen, die Völkerwanderungen überdauernden Bevölkerungsschicht, welches heute am Rhein und in Mitteldeutschland an zahlreichen Beispielen erörtert wird, findet man nirgends erwähnt, und nicht minder vermißt man die Behandlung der damit zusammenhängenden Frage, ob uns die Funde die Gesamtheit der vorgeschichtlichen Bevölkerung vor Augen führen oder nur einen sozial gehobenen Teil. -- Ein Aufsatz von Wahle ( 439) sucht die Entwickelung der vorgeschichtlichen Forschung im Rahmen der allgemeinen Geistesgeschichte zu verstehen. Einige Gesichtspunkte hierzu bietet auch Kiekebusch ( 435), während Sprockhoff mit der Veröffentlichung einer der Mitte des 18. Jhds. angehörenden Handschrift ( 440) einen unmittelbaren Einblick in die damalige Auffassung der vorgeschichtlichen Funde gestattet. Mehrere Aufsätze behandeln Einzelfragen der Methodologie ( 436, 437) und der Organisation der Forschung ( 433, 434); Brøgger ( 435) mahnt, nicht in einseitiger, starrer Typologie aufzugehen, sondern hinter dem Fundstoff geschichtliches Leben zu suchen.

Die sprachwissenschaftlich-historische Forschung legt eine Reihe neuer Arbeiten vor. Karstens Darstellung ( 442) gibt zu erkennen, welche Fortschritte in der germanischen Philologie seit Bremers »Ethnographie der germanischen Stämme« zu verzeichnen sind. Im Gegensatz zu Bremer, der eine sehr eingehende


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Untersuchung bot und mit der Fülle von Einzelheiten fast erdrückend wirkte, werden bei Karsten die Tatsachen nur so weit herangezogen, als sie für die Geschichte der germanischen Sprache und Kultur Bedeutung haben. So entsteht ein groß angelegtes Bild der Entwickelung; die Ergebnisse der Archäologie, welche Bremer als zu unsicher noch ganz ablehnte, sind in ihm ausgiebig verwertet, und sogar die Blutgruppenforschung ist neben der Anthropologie mit herangezogen, um die Grundlagen der Betrachtung zu erweitern. Das Buch von Capelle ( 444) bietet in gewissem Sinne eine Ergänzung zu dieser ebensogut durchgeführten wie vorbereiteten Darstellung. Eine lebhafte Erörterung, hervorgerufen durch die Arbeiten von S. Feist, betrifft die frühgeschichtlichen Germanen in Süd- und Mitteldeutschland. Mit seiner Auffassung, daß die Römer zur Zeit des Caesar und Tacitus unter »Germanen« rechtsrheinische Keltenstämme, nicht aber Germanen nach unserem Sprachgebrauch verstanden hätten, kehrt Feist zu einer älteren Anschauung zurück, welche als endgültig widerlegt gegolten hat. Ihre eingehende, an mehreren Stellen erfolgte Zurückweisung durch Much ( 445--447) ist insofern auch positiv zu nennen, als sie die Veranlassung zu einer erneuten kritischen Durchsicht der Schriftquellen war. Unklarheit kann hier über die volkliche Zugehörigkeit nur eines kleinen Kreises von Grenzstämmen herrschen; über den bekanntesten unter ihnen, die Teutonen, liegen zwei neue Arbeiten vor ( 448, 449). Wie weit hier einmal die Funde die Unklarheiten und Lücken der Schriftquellen überbrücken, steht noch dahin. Daß man im Einzelfall heute schon versuchen kann, die geschichtliche Überlieferung mit der archäologischen in Einklang zu bringen, lehren die Aufsätze Preidels über die Markomannen ( 450, 458), welche unsere Kenntnis der Geschichte dieses Stammes in mancher Hinsicht vertiefen. Über die Römerkriege liegen nur kleinere Untersuchungen vor ( 451--453); das Limeswerk ist um eine neue Lieferung bereichert ( 454); der Begriff der decumates agri wird von Rau besprochen ( 457). Längs der Donaugrenze finden die römischen Anlagen nördlich des Stromes jetzt verstärkte Beachtung, nachdem Zufallsfunde auf sie aufmerksam gemacht haben ( 455); sie stehen zum Markomannenkrieg in Beziehung. Eine kleine Darstellung der Römerzeit Deutschlands von Eidam ( 456) ist für weitere Kreise berechnet. Das schwierige Kapitel der Verteidigung der Rheingrenze in spätrömischer Zeit wird von Stein angeschnitten ( 459); der Aufsatz wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet, und zu ihnen gehört auch diejenige, ob nicht das Reich der Burgunder eher links des Niederrheines als in der Gegend von Worms gesucht werden müsse. Drei kleinere, aber sehr wertvolle Aufsätze betreffen die Slawen und Awaren ( 460--462), welche sich archäologisch von der gleichzeitigen merowingischen und frühdeutschen Kultur deutlich unterscheiden und darum für die siedelungs- und bevölkerungsgeschichtliche Forschung recht gut greifbar sind.

Zwei Werke darstellender Art sind an der Spitze der umfassenderen Verarbeitungen zu nennen. Das Buch Schuchhardts ( 441) ist ein Vertreter der typologischen Vorgeschichtsschreibung. Dank reichem Bildschmuck bietet es eine Übersicht über den gesamten Stoff; die Ausgrabungen des Verfassers stehen dabei ebenso im Vordergrunde wie diejenigen Funde, welche in seiner Amtszeit dem Berliner Museum für Völkerkunde zugeflossen sind. Aber die Funde selbst und ihre typologische Verarbeitung bilden den Mittelpunkt der Darstellung. Die Betrachtung der verschiedenen Äußerungen menschlichen Lebens,


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wie Wirtschaft, Gesellschaft usw., tritt daneben ganz zurück, und namentlich findet eine ursächliche Verknüpfung dieser einzelnen Erscheinungen nicht statt. So bietet das Buch gar nicht eine geschichtliche Entwickelung; aber mit dem einseitigen Hervorkehren der typologischen Betrachtungsweise spiegelt es ganz die in der vorgeschichtlichen Forschung der Gegenwart herrschende Strömung, welche ihr Wesen als Geschichtswissenschaft nur selten hervorkehrt. Kossinnas Schrift ( 443) wird soweit auf Anerkennung rechnen dürfen, als sie die Germanen der frühen geschichtlichen Zeit rückwärts bis zum Beginn des nordischen bronzezeitlichen Kreises, um 1750 v. Chr., verfolgt; hier zeigt sich das Wesen der auf den Verfasser zurückgehenden Betrachtungsweise, welche in archäologischen Kulturgruppen bestimmte Völker zu finden sucht und dabei von dem festen Boden schriftlicher Überlieferung ausgeht. Die starke Hervorkehrung anthropologischer Gesichtspunkte in den folgenden Kapiteln, der Versuch, die Wurzeln des germanischen Volkes in die jüngere Steinzeit des Westbaltikums hinein zurückzuverfolgen, das Streben, die Heimat der Indogermanen ebendort zu finden und die Germanen als das Kernvolk der Indogermanen hinzustellen, alles dies wird abzulehnen sein. Man bewundert in allen diesen Kapiteln die Belesenheit des Verfassers; ebenso aber bedauert man, daß er seinem Verlangen nach Kombinationen nicht straffere Zügel angelegt hat. Wenn seine Ausführungen hier etwas Gezwungenes haben, so ist dies einmal darin begründet, daß er an dem Dogma der nordischen Herkunft der Indogermanen festhält, und daß nach seiner Meinung die Heimat dieses ungeteilten Urvolkes zugleich diejenige der Germanen sein muß; sodann aber rechnet er nicht damit, daß die einzelnen archäologischen Gruppen vielleicht auch soziale Unterschiede in der Bevölkerung widerspiegeln, daß die Überschichtung von Völkern zum Verschwinden von Kulturkreisen führen kann, und daß eine Oberschicht langsam ausstirbt, wenn sie der Blutszufuhr aus den anderen Volksschichten entbehrt. Die umfangreiche Verwertung des anthropologischen Fundstoffes, welche gerade die Arbeiten von Kossinna auszeichnet, muß so lange zu falschen Bildern führen, als sie nicht auch unter biologischen Gesichtspunkten geschieht.

Neben der älteren Steinzeit, über welche einige Neuerscheinungen vorliegen ( 463--467), gewinnt der Übergang zur jüngeren, das sogen. Mesolithikum, immer mehr an Bedeutung. Waren es ehemals nur sehr wenige Funde, welche in den »Hiatus« zwischen den Sammlern der älteren und den Bauern der jüngeren Epoche gehörten, so hat sich ihre Zahl im Laufe der Zeit und, namentlich dank planmäßigen Beobachtungen, in den letzten Jahren wesentlich vermehrt. Immerhin gibt der Bericht Menghins ( 468), welcher den Stand unserer Kenntnisse dieses Gebietes zusammenfaßt, zu erkennen, wieviel Arbeit hier noch zu leisten ist, ehe es einmal möglich sein wird, die volklichen und kulturellen Grundlagen des europäischen Neolithikums zu erkennen. Der Besitz der Kulturpflanzen und Haustiere bestimmt auch Gesellschaftsformen und geistige Zustände in der jüngeren Steinzeit; aber trotz aller neuen Funde tritt uns diese Epoche als etwas durchaus Fertiges entgegen, und wir sind noch nicht in der Lage, die langsame Ausbreitung dieser Kulturgüter und ihre Wirkung auf das äußere und innere Leben derjenigen Völker zu studieren, welche als die Nachkommen der altsteinzeitlichen Sammler und Jäger Europa damals bewohnten. Ein Aufsatz zur Pfahlbautenforschung ( 469) behandelt die Frage, ob diese in der jüngeren Steinzeit und den älteren Metallperioden


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gerne angelegte Siedelungsform über dem Wasser oder über dem Lande gestanden hat. Nachdem die erstere Auffassung durch Jahrzehnte hindurch ein gesicherter Besitz nicht nur der Fachkreise gewesen war, wurde plötzlich von Reinerth die Ansicht vertreten, die Pfahlbauten seien über festem Boden errichtet worden und die Erhaltung ihrer organischen Reste werde einem späteren Steigen der Seespiegel verdankt. In Deutschland hat diese Ansicht, die sich lediglich auf die Verallgemeinerung einiger -- und zum Teil auch nicht anerkannter -- Beobachtungen und Überlegungen gründet, bereits Ablehnung erfahren; jetzt wird sie auch im Heimatgebiet der Pfahlbautenkunde von drei Forschern widerlegt, deren jeder seinem Fachgebiet besondere Gründe entnimmt. Bayer behandelt eine spätneolithische Mischkultur im östlichen Mitteleuropa ( 470); nachdem hier die Chronologie der einzelnen bandkeramischen Gruppen lange im Vordergrunde des Interesses gestanden hat, findet auch der Ausgang der jüngeren Steinzeit mehr Beachtung. Gerade die Forschung, welche der Übersteigerung der typologischen Betrachtungsweise nicht erliegt, sondern das die einzelnen archäologischen Gruppen Verbindende sucht, erkennt in den spätneolithischen Kulturkreisen das Weiterleben der älteren Völker und ihr langsames Aufgehen in denjenigen Mischungen und Bindungen, welche die Grundlage der metallzeitlichen Erscheinungen sind. So ist die Behandlung der nach dem Fundort Ossarn benannten Gruppe sehr zu begrüßen. Das mustergültige Werk über die großen neolithischen Steingräber der Niederlande ( 471) muß auch in Deutschland Beachtung finden. Einerseits sind die dortigen Vorkommnisse dieser Bestattungsform die westlichen Ausläufer der nordwestdeutschen, jungsteinzeitlichen Provinz; sodann aber ist es die überaus gründliche Form der Untersuchung wie der Darstellung, welche unser Interesse findet. Jedes einzelne Grab wird in Bildern, Grund- und Aufrißzeichnungen vorgeführt; eine genaue Beschreibung auch des unscheinbarsten Befundes tritt hinzu. Hier kann namentlich derjenige Zweig der deutschen Archäologie lernen, welcher die Funde und Fundgruppen nur in dem Rahmen und unter dem Gesichtswinkel einer besonderen Aufgabe veröffentlicht. Eine neue Lieferung der Germania Romana ( 472) behandelt in den Weihedenkmälern diejenigen Funde, welche das Entstehen der provinzialrömischen Kultur aus einer Mischung von Fremdem und Einheimischem besonders gut veranschaulichen. Die Grabung Oelmanns ( 473) unweit von Mayen bei Koblenz betraf den Wohnbau eines Gutshofes; es gelang, nicht nur die langsame Vergrößerung dieses steinernen Hauses und sein Entstehen aus einem einfachen, ursprünglichen Bau zu ermitteln, sondern auch seinen unmittelbaren, spätlatènezeitlichen Vorläufer, ein Pfostenhaus, zu finden. Dieses Ergebnis ist siedelungsgeschichtlich von besonderer Bedeutung; es zeigt das Vorhandensein wenigstens eines Teiles des römerzeitlichen Siedelungsbildes schon in vorrömischer Zeit. Im übrigen hatte diese Ausgrabung die sehr bestimmte Aufgabe, »durch ganz systematische und möglichst erschöpfende Untersuchung zuverlässige Unterlagen für die Klärung eines Problems zu gewinnen, das schon vor einer Reihe von Jahren aufgeworfen, damals aber mehr auf Grund theoretischer Erwägungen beantwortet worden war.« Es handelte sich um die Frage, ob der Kernraum der Wohnhäuser dieser Gutshöfe als Hof oder als Diele aufzufassen sei. Wenn eine eigene große Grabung nötig war, um dieses Problem zu lösen, so offenbart sich darin die Besonderheit der archäologischen Arbeit an Rhein und Donau im Verhältnis zu derjenigen im Gebiete des

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freien Germanien; gewohnt, in Anlehnung an die schriftliche Überlieferung zu arbeiten, tritt die erstere unter bestimmten Gesichtswinkeln an den ärchäologischen Stoff und begnügt sich mit der Beantwortung einzelner Fragen, anstatt nach der Art einer Naturwissenschaft den gesamten Befund planmäßig und ohne Rücksicht darauf zu erfassen, ob er bereits gedeutet werden kann oder nicht. -- Zur Kenntnis der nachrömischen Zeit liegen nur kleinere Aufsätze vor. Kühn ( 474) und Jänecke ( 475) behandeln Probleme der Völkerwanderungskunst; die Art ihrer Auffassung gibt deutlich zu erkennen, wie die Heranziehung historischer und soziologischer Gesichtspunkte der Archäologie nur zum Vorteil gereicht. Neckels Aufsatz ( 476) sollte die Archäologie zur Berücksichtigung eines etwas vernachlässigten Problemes anregen. Wahle schneidet die Chronologie und geschichtliche Stellung der späten Reihengräberfriedhöfe an ( 477).

Eine kleine Gruppe von Arbeiten betrifft die verschiedenen Äußerungen des vor- und frühgeschichtlichen Lebens. Neben der Wirtschaft ( 481, 482) finden besonders die religiösen Vorstellungen Beachtung; ihre Bearbeiter bedienen sich ausgiebig volks- und völkerkundlicher Beobachtungen, um die archäologischen Befunde zur Sprache zu bringen ( 484--488). Besonders wertvoll ist hier die Arbeit von Boudriot ( 486); sie erschließt ein bisher sehr wenig herangezogenes Gebiet, das doch geeignet ist, unserer Kenntnis der altgermanischen Religion neue und wichtige Quellen zu öffnen. Natürlich darf die amtliche kirchliche Literatur nur mit großer Vorsicht verwendet werden; aber sie bietet doch zahlreiche Hinweise und Gesichtspunkte, und diese ergeben sich aus Quellen, welche sich über einen recht großen Zeitraum verteilen, sowie von Männern sehr verschiedener Richtung und zu ganz verschiedenen Zwecken niedergeschrieben worden sind. Die übersichtliche Form ihrer Darbietung erleichtert ihre Benutzung ebenso wie der streng kritische Maßstab des Herausgebers (vgl. auch S. 151). Eine groß angelegte Geschichte des Kunstgewerbes aller Zeiten und Völker ( 483) berücksichtigt wohl die europäische Vorzeit in einem bisher in derartigen Darstellungen nicht üblichen Maße, zerreißt aber leider den Stoff in einzelne, unter verschiedene Bearbeiter verteilte Kapitel. Die vorgeschichtliche Forschung kann sich die eingehende kunstwissenschaftliche Behandlung ihres Stoffes nur wünschen; doch wird ihr damit am ausgiebigsten gedient, wenn sie unter einheitlichen Gesichtspunkten und in enger Fühlungnahme mit dem völkerkundlichen Material erfolgt. Drei Arbeiten zur vorgeschichtlichen Geographie ( 478--480) dienen dem Wiederaufbau des ehemaligen Lebensraumes und der natürlichen Daseinsbedingungen; der Aufsatz von Bertsch gibt zu erkennen, welche Bedeutung hier die Pollenanalyse in den letzten Jahren gewonnen hat.


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