§ 15. Die Epoche der Völkerwanderung.

(W. Stach.)

Einen Abriß der germanischen Wanderungen vom Goteneinbruch ins Römische Reich bis zur Langobardenherrschaft in Italien bieten die Cambridge- Vorlesungen Burys ( 542). Sie sind von Hearnshaw nach Burys hinterlassenem Kollegmanuskript herausgegeben und zunächst für die Hand der Studenten bestimmt. Doch wird auch der Forscher danach greifen, wenn er sich über Burys Gesamtauffassung unserer Epoche rasch unterrichten will, obschon für die Auseinandersetzung mit Bury selbst und für alle Einzelheiten seine History of the later Roman Empire (1923) auch weiterhin die Grundlage bleibt (vgl. d. Bespr. von N. H. Baynes, Engl. hist. rev. 44, 460 ff.).

Mit Bury (Cambr. hist. journ. I, 197 ff.) und insbesondere mit einem Aufsatz Blochs (Rev. hist. 154, 161 ff.), über den ich bereits im Vorjahr berichtet


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habe, setzt sich L. Schmidt ( 544) auseinander, indem er die älteste Überlieferung für die Errichtung der Frankenherrschaft in Gallien erneut diskutiert. Schmidt wendet sich mit Recht gegen Blochs Versuch, in den bekannten Remigius-Brief (M. G. Epp. Austras. 2) hineinzulesen, daß bereits Childerich über den größten Teil der Belgica II. geherrscht habe, und untersucht im Anschluß daran die entscheidende, aber sehr umstrittene Frage nach der staatsrechtlichen Stellung Childerichs, indem er die Beziehungen Galliens zum Römischen Reich von der Herrschaft des Maioranus an bis Chlodowech nochmals Schritt vor Schritt verfolgt. Dabei verficht er im Gegensatz zu der namentlich von französischer Seite vertretenen Auffassung seine wohlunterbaute Ansicht, daß schon Aegidius und ebenso natürlich sein Sohn Syagrius, wie im übrigen wohl auch der comes Paulus, nach dem Erlöschen ihrer kaiserlichen Mandate eine vom Römischen Reich unabhängige und der Herrschaft eines barbarischen Heerkönigs vergleichbare Machtstellung usurpiert hätten, so daß auch Childerich bereits seinerseits durch den Anschluß an den abtrünnigen Aegidius das Band zerrissen habe, das ihn anfänglich mit dem Römischen Reiche verband. Ebensowenig hätte dann Chlodowech in das Amt des Syagrius als Heermeister von Gallien oder wenigstens als dux Belgicae II. eintreten können, da ja schon Syagrius rechtlich nicht mehr Träger eines römischen Militär- und Zivilamtes gewesen sei. Der Herrschaftswechsel zwischen beiden sei vielmehr auf Grund einer Waffenentscheidung nach Kriegsrecht erfolgt, trotz der scheinbar widersprechenden Worte des Remigius: rumor ad nos pervenit administrationem vos Secundum Belgicae suscepisse. (Vgl. auch S. 176.)

In eine ähnlich strittige Frage versetzt uns die Polemik Ensslins ( 548) gegen Alföldis Ansatz der Ostgotenansiedelung in Pannonien im Jahre 456. Er gibt Alföldi zu, daß die Beteiligung der Goten an der Schlacht am Flusse Nedao unwahrscheinlich sei, hält es aber nicht für zwingend, aus den an sich berechtigten Bedenken gegen die Berichterstattung des Jordanes zu folgern, sie wären an den Kämpfen gegen die Söhne des Attila überhaupt nicht beteiligt gewesen. Vielmehr müßten auch sie in den Wirren nach Attilas Tod vom Hunnenreiche abgefallen sein (vgl. Jord. Get. 268) und hätten bereits in Pannonien gesessen, als die Sieger in der Nedaoschlacht über die Beute der zusammengebrochenen Hunnenherrschaft außerhalb der römischen Reichsgrenzen verfügten. Eben darum hätten sie sich ihren Besitz ehedem altrömischen Gebietes vom Kaiser Marcian bestätigen lassen, und zwar seien ihre ersten Sitze in Pannonien nicht zwischen Drau und Save gewesen, sondern zwischen Leitha und Raab; erst von dort aus hätten sie sich dann nach dem Abzug des Avitus weiterhin nach Süden über ganz Pannonien ausgebreitet.

Nicht minder kontrovers als Zeit und Ort der ersten Landnahme in Pannonien ist die nördliche Ausdehnung des Ostgotenreiches in Italien, eine Frage, die mir durch die umsichtige Studie von H. Zeiß ( 546) wesentlich gefördert scheint. Auf Grund vorsichtiger Kombination unserer spärlichen Quellen und der seitherigen Literatur mit einigen neueren Ergebnissen der Archäologie kommt der Verfasser im Gegensatz zu L. Schmidt (vgl. Korrbl. Germania 11, 36 ff. über die clusurae Augustanae) zu dem Resultat: Die Herrschaft der Goten griff niemals auf Maxima Sequanorum und Raetia II. über. Justinian ließ diese Provinzen in seinem Gesamtanspruch auf ostgotisches Gebiet außer acht. Wohl aber besaßen sie im N. -- von den gallischen und pannonischen Eroberungen


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abgesehen -- Raetia I. und Binnennoricum. Jedenfalls spricht die noch 591 bestehende Zugehörigkeit der Bistümer Agunt und Teurnia zur Kirchenprovinz Aquileia durchaus für ehemals ostgotischen Besitz, wie entsprechend im NW., daß Chur bis 843 zu Mailand zählte. Mithin würde auch (gegen L. Schmidt) fines in Var. XII, 4, 1 »Grenzen« bedeuten; denn nicht nur daß diese Deutung, wie ich glaube, der antithetischen Pointe der Stelle am besten entspricht, sondern Rhein und Donau im NW. und NO., Sizilien und das Bruttische Meer im S. waren tatsächlich die äußersten »Enden« des gotischen Herrschaftsbereiches.

Weit schwieriger scheint mir, in der weiteren Kontroverse zwischen L. Schmidt ( 550) und Lintzel über die Entstehung des sächsischen Stammes Stellung nehmen zu wollen. Lintzel hatte, wie ich im Vorjahre ausgeführt habe, gegen die herrschende und wesentlich durch Schmidt begründete Meinung die Annahme vertreten, daß sich die Einung des Sachsenvolkes durch kriegerische Unterwerfungen vollzogen habe. Dem gegenüber betont Schmidt, gestützt im einzelnen auf eine ebenso subtile Quellenauslegung, die ihm freilich Lintzel (eb. S. 358 ff.) Punkt für Punkt zu entkräften versucht: es läge gleichwohl näher, auch für die Stammesbildung der Sachsen die Analogie der anderen größeren, während der Völkerwanderung neugebildeten Stämme heranzuziehen, die im wesentlichen aus dem friedlichen Zusammenschluß politisch gleichberechtigter Einzelvölker hervorgegangen und so allmählich zu ethnischer Einheit verwachsen sind.

Im übrigen setzt Lintzel ( 557 a) seine Untersuchungen zur Geschichte der alten Sachsen fort. In einem ersten Kapitel behandelt er die Sachsenkriege Chlotars I. Im Gegensatz zur bisherigen Forschung gibt er der Chronik des Marius von Avenches vor Gregor von Tours den Vorzug und kommt an Hand seiner Analyse auch der Angaben bei Venantius Fortunatus und im Liber hist. Francorum zu folgendem Bild der Ereignisse: Im Winter auf 556 weigern die Sachsen Chlotar bei seiner Besitznahme des austrasischen Reiches den Tribut und zwingen ihn nach einer siegreichen Schlacht (vielleicht im sö. Sachsen) zum Frieden. Als er 556 mit seinem Sohn und seinem Bruder in Kampf gerät, brechen sie sogar in rheinfränkisches Gebiet ein, während sich zugleich die Thüringer empören. Aber Chlotar besiegt sie, vielleicht in der Nähe der Weser, und dringt wahrscheinlich bis nach Ostsachsen, sicherlich bis nach Thüringen vor. Dadurch wurde die sächsische Tributpflicht wieder hergestellt. In einem zweiten Kapitel befaßt sich Lintzel mit den sächsischen Tributzahlungen an die Franken zur Zeit der Merowinger und König Pippins. Lintzel greift dabei auf seinen vorjährigen Aufsatz zurück, datiert die Tributpflicht auf die Zeit des Thüringerkrieges 531 -- als Zins an die Franken für überlassene Wohnsitze -- und begründet neu die Lokalisierung der Saxones Eucii in den Alpenländern. Anschließend untersucht er die weiteren Beziehungen zwischen Sachsen, Nordschwaben und Franken in dem Sinne, daß die letzten beiden enger zusammenhingen, und schildert für die Folgezeit, wie die bis 531 thüringischen, später sächsischen Gaue immer wieder ohne Erfolg versuchen, die gerade auf ihnen lastende Tributpflicht abzuschütteln.

Was schließlich die Abhandlung Vaccaris ( 543) angeht, die sich mit der Struktur des Longobardenreiches befaßt, so habe ich die Arbeit leider ebensowenig wie diejenige Krappes ( 547) selbst einsehen können, trotz aller


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Hilfsbereitschaft der Universitätsbibliothek Leipzig: ein deutliches Zeichen dafür, wie schwierig es wäre, dem mehrfach geäußerten und sehr begreiflichen Wunsch zu entsprechen, den gegenwärtigen Abstand zwischen Referat und Erscheinungsjahr der Literatur noch mehr zu verkürzen.

Damit sind die wichtigsten geschichtswissenschaftlichen Veröffentlichungen über unsere Epoche besprochen. Es erübrigt sich nur noch, auf eine bedeutsame Unternehmung von germanistischer Seite zu verweisen: auf den ersten Band der Germanischen Heldensage H. Schneiders ( 545). Schneider versteht unter Heldensage diejenigen Stoffe, die ihrem Ursprung nach der germanischen Wanderzeit entstammen und ihre künstlerische Formung zuerst als Heldenlied am Königshof (vielleicht der Goten) empfangen haben. Als deutsche Heldensage sondert Schneider davon ab, was seine endgültige Fassung im mhd. Heldenepos gefunden hat. So behandelt er in diesem Teile auf Grund einer vorbildlichen Analyse und mit scharfgeprägten termini, gestützt im besonderen auf die bahnbrechenden Forschungen von Wilamowitz, Olrik und Heusler, neben den kleineren Sagenkreisen den Nibelungenstoff und die Dietrichsage. Für den Historiker ist dabei besonders lehrreich, was Schneider im einzelnen über die geschichtlichen Reminiscenzen im Nibelungenstoff (Burgunderreich), im Ermanrich-Dietrich-Konflikt (Theoderich und Rabenschlacht) und in der Wolfdietrichsage (Chlodowech und seine Söhne) ausführt. Man erkennt, wie relativ geringfügig der Anteil des Geschichtlichen und namentlich des Politischen am Prozeß der Sagenprägung war. Wohl spielt das Historische stofflich eine Rolle, während Naturmythen und Märchenmotive völlig ausscheiden. Aber im Mittelpunkte der gesamten Sagenbildung steht der schaffende Dichter und seine Herrschaft über den Stoff ist schrankenlos.


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