II. Darstellungen.

Die meist zuerst in der Revue d'histoire de Lyon erschienenen, nun gesammelt in neuer Bearbeitung vorliegenden Aufsätze von Alfred Coville, Recherches sur l'histoire de Lyon du Vme siècle au IXme siècle (Paris 1928), enthalten Untersuchungen und Darstellungen, deren Bedeutung teilweise über die Ortsgeschichte hinausgeht. Ich erwähne die Abschnitte über Sidonius Apollinaris in Lyon (S. 31--75), die Ansiedlungen der Burgunder im Römischen Reiche (S. 77--236), über die angeblich merowingische, wahrscheinlich 965/68 ausgestellte Urkunde von Girard und Gimbergia für St. Peter in Lyon (S. 251--266), über Gregor von Tours und die Lyoner Bischöfe Nicetius und Priscus (S. 322--346), den dem 7. Jahrhundert angehörenden Bischof Aunemund und sein Testament (S. 366--416), endlich über den Bericht Erzbischof Leidrads an Karl den Großen (S. 266--296, zu MG. Epist. IV, 542 ff.).

Der zuletzt von Bury und Bloch (s. Jberr. 1925, S. 227; 1927, S. 198 und 204) besprochene Brief des Bischofs Remigius von Reims an Chlodwig und das


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Ende der Römerherrschaft in Gallien werden aufs neue von L. Schmidt untersucht ( 544), der den Brief wieder mit dem Sturz des Syagrius in Verbindung bringt und den Anteil Childerichs an der Begründung der Frankenherrschaft in Gallien aufs neue zugunsten seines Sohnes Chlodwig verringert. Nach ihm ist Syagrius' Vater Ägidius dort nur anfangs »der legale Vertreter des kaiserlichen Regiments« gewesen, nachher Rebell, ebenso Syagrius vom Kaiser unabhängig, während Bretonen und Burgunder dessen Oberhoheit anerkennen. So wird auch Chlodwig nicht Nachfolger des Syagrius in einem römischen Amt, sondern folgt ihm kraft des Rechtes der Eroberung; durch Vertrag schließen sich ihm dann Aremoriker und Reste römischer Truppenteile an. Bei der Trümmerhaftigkeit der Überlieferung bleibt auch bei diesen Annahmen vieles unsicher.

In die Zeiten der Reichsgrundung führen auch die Untersuchungen von Bresslau ( 557) über den Titel der Merowingerkönige zurück. Bekanntlich stehen sich hier die ältere Ansicht, daß diese sich 'rex Francorum vir inluster' genannt haben, und die jüngere von Havet begründete und zuletzt von Krusch vertretene Annahme gegenüber, daß der Titel 'vir inluster' nach römischem Vorbild nur den hohen fränkischen Beamten, aber nicht dem König selbst zugekommen sei und daß die Abkürzung 'v. inl(t).' in den Königsurkunden 'viris inlustribus' bedeute. Demgegenüber tritt Bresslau in seinem hinterlassenen Aufsatz aufs neue entschieden für 'vir inluster' als von Chlodwig an geführten Bestandteil des Königstitels ein, der nur weggefallen sei, wenn eine Inscriptio mit 'viris inlustribus' oder 'viro inlustri' sich anschloß, und er verteidigt diese Auffassung mit guten Gründen, wenn auch bei der Erklärung der Ausnahmen manches zweifelhaft bleibt und man die Entscheidung am besten bis zu einer in Aussicht gestellten Erwiderung von Krusch verschiebt.

Die Slaven, bei denen Samo das erste Slavenreich an den fränkischen Grenzen begründet hat, sucht Mikkola ( 559) nicht in Böhmen, sondern bei den Slowenen in Österreich südlich der Donau, von wo aus Samo dann seine Herrschaft nach Norden und Süden ausgedehnt habe. Aber schon der Ausgangspunkt der Untersuchung ist unhaltbar; weil 625 zwischen König Chlothar II. und seinem in Austrasien eingesetzten Sohne Dagobert Grenzstreitigkeiten ausbrachen, braucht die Reise eines gallischen Kaufmanns durch Austrasien nicht schon zwei Jahre vorher (wenn überhaupt) derart schwierig gewesen zu sein, daß er das austrasische Teilreich im Süden umgehen mußte und nur zu den südlichen Slaven gelangen konnte. Mit Recht hat auch R. Holtzmann (Sachsen und Anhalt V, 1929, S. 416 f.) eingewandt, daß Wogastisburg, wo Samo 631 die in sein Land eingedrungenen Franken besiegte, von Mikkola in Burberg bei Kaaden an der Eger (einst Tschechisch Uhošt) nachgewiesen worden ist, man also den Mittelpunkt des Reiches am ehesten in Böhmen zu suchen hat.

M. Lintzel, der mehr und mehr die gesamte ältere Geschichte der Sachsen einer Nachprüfung unterzieht (vgl. Jberr. 1927, S. 199 und 301), beginnt neue Untersuchungen auf diesem Gebiete ( 557a) mit einer Kritik der Nachrichten über die Sachsenkriege Chlothars I., wobei er wohl mit Recht den Angaben des Marius von Avenches vor denen Gregors von Tours den Vorzug gibt; die Untersuchung der sächsischen Tributzahlungen an die Franken führt ihn dazu, im wesentlichen die gesamten Beziehungen der Sachsen und Franken vor Karl dem Großen zu verfolgen. Bei der Lückenhaftigkeit und Dürftigkeit der Quellen bleibt natürlich manches dunkel und zweifelhaft.


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Die Frühzeit der Karolinger berührt sonst nur R. Holtzmann in seiner schönen Schrift über den Kaiser als Marschall des Papstes ( 1008; s. unten S. 265) mit Ausführungen über die Begegnung Pippins mit Stephan II. im Jahre 754 (s. jetzt auch E. Eichmann, Das officium stratoris et strepae, Hist. Zt. 142, 1930, S. 16--40). Um so mehr ist die Zeit Karls des Großen Gegenstand der Forschung gewesen. Zwar das Büchlein von W. von den Steinen ( 560) bietet nur eine volkstümliche Übersicht über Karls Regierung, eine Darstellung von einer bisweilen etwas gesucht anmutenden Schlichtheit, ausmündend in eine schwungvolle »Lobrede« auf die gewaltige Persönlichkeit des Kaisers in der Art des George-Kreises; 23 Briefe Karls sowie zwei von Alkvin in deutscher Übersetzung sind der Darstellung beigegeben. Daß wir über die äußere Erscheinung Karls trotz Einhard schlecht unterrichtet sind, zeigt die Untersuchung von Schramm über die zeitgenössischen Bildnisse Karls des Großen ( 563), die im einzelnen über die älteren Arbeiten von P. Clemen u. a. hinausführt (daß die Reiterstatuette im Musée Carnavalet zeitgenössisch sein kann, bestreitet gegen Schramm jedoch wieder W. Köhler, Dte. Lit.-Zt. 1930, Sp. 941, der sie als Metzer Arbeit der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts bezeichnet). Die Schrift, die in einem Anhang die Metallbullen der Karolinger überhaupt behandelt, ist eine Vorarbeit zur Entlastung des umfassenden Werkes des gleichen Verfassers über die Bildnisse der deutschen Könige und Kaiser von der Mitte des 8. bis zu der des 12. Jhds. ( 571), das so auch die gesamte Karolingerzeit umfaßt. Der Verfasser, der ebenso die literarischen Quellen wie die bildlichen beherrscht, erfüllt in vortrefflicher Weise einen oft ausgesprochenen Wunsch der mittelalterlichen Forschung. Der Ertrag für die Kenntnis des Aussehens der einzelnen Herrscher ist freilich, wie zu erwarten war, gering, wirkliche Porträts sind kaum vorhanden und höchstens besonders auffallende Kennzeichen angedeutet; aber Schramm hat es gedankenreich und doch vorsichtig verstanden, die Herrscherbilder auch als Quellen der Geistesgeschichte zu verwerten, als Aussagen auch über politische Anschauungen. Die Erläuterungen berücksichtigen auch Darstellungen, die in dem Tafelbande nicht wiedergegeben sind; die französischen Karolinger sowie neben den deutschen Königen und Kaisern die italienischen und burgundischen Herrscher mit ihren Siegeln und Münzen finden eine knappe, übersichtliche Behandlung.

Mit dem Sturze des Bayernherzogs Tassilo durch Karl beschäftigt sich Rosenstock ( 558) bei seinem Versuche einer neuen Erklärung des Namens Deutsch -- nach den Reichsannalen erfolgt 788 ja die Verurteilung Tassilos wegen des Vergehens 'quod Theodisca lingua harisliz dicitur'. Rosenstock will darin nicht einfach die Volkssprache im Gegensatz zum Lateinischen oder zur Kirchensprache sehen, sondern im besondern die Sprache der nichtromanisierten Franken, die Rechtssprache des Frankenheeres, die fränkische Amts- und Kommandosprache, Deutsch ist nach ihm ursprünglich heeresfränkisch; da bei dem Urteil gegen Tassilo auch Angehörige anderer Stämme mitwirkten, habe man nicht die Franken genannt, sondern eine Bezeichnung gewählt, die die Gleichberechtigung der anderen Stämme zum Ausdruck brachte. Ich verstehe allerdings nicht recht, wie dies möglich gewesen ist, wenn Deutsch wirklich »ein zum Reichsvolknamen erhobener Stammes name« war, der als solcher doch auch den Nichtfranken zum Bewußtsein gekommen sein müßte, und gegen die an geistreichen, aber unsicheren Vermutungen reiche Beweisführung spricht


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m. E. auch das älteste Zeugnis für das Wort, das von 786, wo von der Verlesung eines Textes 'tam Latine quam Theodisce, quo omnes intellegere potuissent' die Rede ist und jede Beziehung zur Amtssprache und zum Heere fehlt, und schwerlich mit Recht sieht Rosenstock auch darin eine Stütze seiner Ansicht. Der Aufsatz von Bréhier über die Beziehungen Karls zum Heiligen Lande ( 562) ist bereits im vorigen Jahresbericht S. 205 berücksichtigt worden.

Das Buch von Heldmann über das Kaisertum Karls des Großen ( 561) bezeichnet für die gesamte so umfangreiche Literatur über die Erneuerung des abendländischen Kaisertums einen vorläufigen Abschluß; alle früheren Theorien über die Ursachen des Vorganges und die Beweggründe der beteiligten Personen werden an der Hand der Quellen einer eindringenden Kritik unterzogen und zugleich wird folgerichtig der eigene Standpunkt des Verfassers begründet: Karls Kaisertum ist nicht aus universalen Zeitgedanken erwachsen, auch nicht aus Selbständigkeitsbestrebungen des Papsttums gegenüber Konstantinopel, vielmehr aus den augenblicklichen Verhältnissen der Stadt Rom. Leo III. hat Karl ohne dessen Vorwissen zum Kaiser gekrönt, um ihm die Rechtsgrundlage zu verschaffen für ein abschließendes Gerichtsverfahren gegen die römischen Widersacher des Papstes, für das es bei der zweifelhaften Rechtsstellung der Kaiserin Irene vom Standpunkt des Römischen Reiches und Rechtes aus an einer einwandfreien letzten Instanz fehlte, ein »Verlegenheitsmittel«, um die unsicher gewordene Stellung Leos wieder zu befestigen; die Akklamation der Römer bei der Krönung war dabei eine rechtlich ausreichende Form einer als inspiriert angesehenen Kaiserwahl. Auch die Folgen des Ereignisses, der mit dem Begriff des Kaisertums verbundene Rechtsinhalt und seine Wandlungen im 9. Jahrhundert finden angemessene Darstellung in dem bedeutenden Buche, das zweifellos die Grundlage und den Ausgangspunkt für alle weiteren Erörterungen darstellen wird. Denn bei der Art des Quellenstandes ist trotz der Eindringlichkeit und Geschlossenheit der Beweisführung nicht zu erwarten, daß Heldmanns Standpunkt ohne Widerspruch durchdringen wird; vgl. die Auseinandersetzungen Heldmanns mit Rosenstock ( 561) in der Zt. der Savigny-Stiftung für Rechtsgesch. 50 (1930), Germ. Abt. 625--668 und die Besprechung von Hans Hirsch, Dte. Literaturzt. 1930, Sp. 32 ff., sowie dessen Aufsatz, Der mittelalterliche Kaisergedanke in den liturgischen Gebeten (Mitt. des Österr. Instituts f. Geschichtsforsch. 44, 1930, S. 1--20).

Bei den Kämpfen und Verhandlungen mit dem Oströmischen Reiche, die nach der Kaiserkrönung Karls dessen letztes Jahrzehnt erfüllen, spielen bekanntlich auch seine Beziehungen zu Venedig eine Rolle; von den damals und im nächsten Menschenalter geschlossenen Verträgen ist als ältester nur das Pactum Lothars I. von 840 erhalten. Darin sucht R. Cessi ( 561 a), indem er jenen Beziehungen nachgeht, die aus älteren Abmachungen übernommenen Bestandteile festzustellen, die er auf den Vertrag Pippins von Italien mit Ostrom vom Jahre 807 und den Aachener Vertrag von 814 verteilt, wobei im einzelnen freilich vieles unsicher bleibt.

Das sogenannte Testament Karls des Großen von 811, d. h. seine von Einhard überlieferte Verfügung über die nach seinem Tode vorzunehmende Teilung der Bestände seiner Schatz- und Kleiderkammer unterzieht A. Schultze ( 564) einer sorgfältigen rechtsgeschichtlichen Untersuchung. Er stellt nicht nur den Rechtsinhalt im einzelnen fest und erläutert ihn (zur Büchersammlung


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Karls, S. 61, vgl. auch P. Lehmann, Histor. Vierteljahrschrift XIX, 1919, S. 237 ff.), sondern erörtert auch eingehend die Nachrichten über die Ausführung der Bestimmungen nach dem Tode Karls; er findet dabei auch eine einleuchtende Erklärung für die abweichenden Angaben Nithards (anders Kittel, Forsch. z. Brandenb. u. Preuß. Gesch. 41, 1929, S. 418 ff.). Beiläufig gewinnt er gegen Mayer-Homberg neue Gründe für die Zugehörigkeit der Karolinger zum Bereich des Ribuarischen, nicht des Salischen Rechts.

Seine früheren Arbeiten zur Geschichte des unter Karl in Südfrankreich und in der Spanischen Mark bewährten Grafen Wilhelm des Heiligen von Toulouse (s. zuletzt Jahrgang 1927, S. 205) ergänzt J. Calmette, indem er an den von Gabotto und Chaume aufgestellten Stammbäumen Wilhelms Kritik übt und für die Frage nach der Verwandtschaft von dessen Familie mit den Robertinern, den späteren Kapetingern, und nach deren Herkunft eine neue, nach dem Quellenstande freilich nicht sichere Lösung versucht ( 564a).

Die Geschichte des Frankenreichs berührt endlich auch das Buch von K. Th. Strasser, Wikinger und Normannen, Hamburg (Hanseatische Verlagsanstalt) 1928 (221 S.), das, ohne Anspruch auf neue Ergebnisse, weiteren Kreisen ein Bild des alten Nordens zeichnen will und diese Aufgabe, unterstützt durch gute Abbildungen, auch in vieler Hinsicht löst, wenn auch nicht ohne Einseitigkeiten und in mitunter unkritischer Auswahl, so daß z. B. die angebliche Sternwarte bei den Externsteinen hier begegnet, die orientalische Herkunft der griechisch-römischen Schrift für nicht bewiesen erklärt und für den nordischen Ursprung von Schweizern auf die Möglichkeit hingewiesen wird, daß ein Wikingerheer 881 in die Schweiz abgedrängt worden sei -- in der Literaturauswahl findet man zwar zwei der phantastischen Schriften von Guido List, vermißt aber den Namen von Haskins. Solche Schönheitsfehler sollte auch ein für die Belehrung weiterer Kreise bestimmtes Buch nicht aufweisen.

Zu dem Aufsatz von Klebel über die Ostgrenze des Karolingischen Reiches ( 277) s. oben S. 118.


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