§ 20. Deutsche Geschichte von 1648--1740.

(M. Braubach.)

Zur Geschichte des deutschen Reichs nach dem Westfälischen Frieden liegen im Berichtsjahre einige z. T. bedeutsame Veröffentlichungen vor. Hauptsächlich auf Grund der Kreisakten aus dem städtischen Archiv zu Mühlhausen i. Thür. gibt F. W. Kaiser eine ausführliche Darlegung der Verhandlungen der niedersächsischen Kreistage in den Jahren 1652--1673 und ihrer Ergebnisse ( 668). Bearbeitung und Zusammenstellung des umfangreichen Materials sind nicht immer glücklich, auch finden sich manche schiefe und unrichtige Urteile, so vor allem in dem Abschnitt über die Regelung kirchlicher Fragen. Im Ganzen genommen gewinnen wir aber einen wertvollen Einblick in ein bisher wohl zu wenig beachtetes Gebiet deutscher Geschichte: besaßen wir doch bisher eigentlich hinsichtlich der Kreise und ihrer Bedeutung nur für Franken eingehendere Darstellungen. An dem Beispiel Niedersachsens erkennen wir, daß sich die Kreisverfassung in der Notzeit nach dem Dreißigjährigen Krieg in mancher Beziehung bewährt hat, daß innerhalb der Kreise durch Maßnahmen der Kreistage zur Verbesserung des Polizeiwesens, zur Verminderung des Luxus und der Unsittlichkeit, zur Hebung der Wirtschaft und zum Ausgleich der bestehenden Gegensätze ein gutes Stück Aufbauarbeit geleistet wurde. Daneben zeigt sich gewiß auch viel Unerfreuliches: Eifersüchteleien und Zänkereien aller Art, Mangel an gutem Willen bei einzelnen Kreisständen, Überwiegen der Sonderinteressen. Nach außen hat der Kreis, in dem die Welfen, Schweden (für Bremen) und Brandenburg (für Halberstadt und Magdeburg) um den Einfluß rangen, daher auch keine große Rolle spielen können, immerhin hat er auch in dieser Richtung


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versucht, sich zur Geltung zu bringen. Jedenfalls wird man gut tun, die Bedeutung der Kreise nicht allzu niedrig einzuschätzen. -- Vor allem aber wird man, wenn man die Entwicklung der deutschen Geschichte nach 1648 verstehen will, auch die Erforschung der eigentlichen Zentrale des Reichs, des seit 1663 dauernd tagenden Reichstags, nicht vernachlässigen dürfen. Für ihn liegt eine neue wichtige Quelle in dem von Sybil Rosenfeld herausgegebenen Briefbuch des als Dichter und Schriftsteller der Restaurationszeit bekannten Engländers Sir George Ethereye vor ( 674). Ethereye, der uns in dem Vorwort als ein echter Vertreter der leichtfertigen und frivolen zweiten Stuartepoche geschildert wird, weilte von 1685 bis 1688 als englischer Gesandter in Regensburg, seine Briefe aus dieser Zeit, mitunter von seinem puritanischen Sekretär in dem Briefbuch ironisch glossiert, bieten ein reiches Material sowohl zur kulturellen als auch zur politischen Geschichte. Die Vorgänge in Europa und vor allem in Deutschland, die pfälzische Streitfrage, der Fortgang des Türkenkriegs und die Reibungen zwischen den kaiserlichen Heerführern, die letzten politischen Aktionen des Großen Kurfürsten, die Streitigkeiten im Norden um Holstein, sie finden insbesondere in den Berichten Ethereyes an Lord Middleton ihren Widerhall und manche neue Beleuchtung. Daneben aber lernen wir das Leben und Treiben in Regensburg und die Tätigkeit des Reichstags kennen. Sir George ist ein recht spöttischer Zuschauer und Beurteiler, so wenn er von dem gespreizten und förmlichen Gehabe der Reichstagsgesandten spricht, die sich ihrer besonderen Würde wohl auch im Verkehr mit ihren Frauen oder Maitressen stets bewußt blieben, oder wenn er seinen Bericht nach London mit den höhnischen Worten beginnt: »The Diet sleeps still, and when they will awake I know not.« Er selbst allerdings hat mit seinen lockeren Sitten wohl auch nicht den besten Ruf in Regensburg zurückgelassen. Besonders verwiesen sei noch auf die im Anhang wiedergegebene ausführliche Schilderung des Festes, das der Engländer aus Anlaß der Geburt des Prinzen von Wales im Juli 1688 in Regensburg gab. Ein im ganzen doch günstigeres Urteil über den Reichstag gewinnen wir aus der trefflichen Arbeit A. Berneys, die uns auf Grund der gedruckten Beschlußsammlungen, vor allem aber der im Berliner Staatsarchiv ruhenden »Comitiologia« des brandenburgischen Gesandten Henniges die Vorgänge am Reichstag in einer höchst gefahrvollen Epoche zu Beginn des Spanischen Erbfolgekrieges vorführt ( 685). Damals war der Tagungsort der Reichsversammlung durch die Verbindung Max Emanuels von Bayern mit Frankreich und seine anfänglichen Erfolge in eine überaus peinliche Lage geraten: wir sehen nun, wie sich die Reichstagsgesandten eifrig um die Sicherheit von Stadt und Konvent bemühen, wie dadurch die Beratung der »Kriegsmaterie« gehemmt wird und in beide Fragen immer wieder konfessionelle Streitigkeiten hineinspielen. Bis zur Besetzung Regensburgs durch die Kaiserlichen nach der Schlacht bei Höchstädt, gegen die Henniges erregten Protest erhob, ist die Darstellung geführt, die in dem Versuch ausklingt, die Schwäche des Reichstags nicht nur aus dem »Freiheits«- Drang der Fürsten, sondern aus dem Traditionalismus, »dem historisch-denkerischen Gebundensein des deutschen Zoon politicon, soweit es im Geltungsbereich der Reichsidee denkt und handelt,« das sowohl die Politik der evangelischen Fürsten wie auch des Kaisers bestimmt habe, zu erklären. -- Einen weiteren Beitrag zur Reichsgeschichte während des Spanischen Erbfolgekrieges bringt H. Gerig in einer auf ungedrucktem Quellenmaterial beruhenden Abhandlung

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über den merkwürdigen Versuch des Kölner Domkapitels, bei der Kaiserwahl von 1711 an Stelle des geächteten Kurfürsten die Kurstimme zu führen ( 688). Eifrig haben sich die beiden Abgesandten des Kapitels, die Hofräte Solemacher und Eschenbrender, bei allen maßgebenden Persönlichkeiten in Wien um Anerkennung und Unterstützung dieses Anspruchs bemüht, doch schließlich hat man im Kapitel selbst die Undurchführbarkeit des Plans erkannt und den Hofräten Gegenbefehl erteilt. Auch in dieser Angelegenheit, die zugleich eine Episode in dem Kampfe des Kölner Kapitels mit seinem absolutistischer Neigungen verdächtigen Kurfürsten darstellt, zeigt sich die Unsicherheit und Unklarheit der Verhältnisse im Reich, die juristischen Zänkereien Vorschub leisteten, aber eine einmütige Frontstellung nach außen nur zu sehr behinderten. Als eine Folge dieser Verhältnisse werden wir vor allem immer den Verlust des Elsaß beklagen. Die Entwicklung der Annexion dieses deutschen Landes durch Ludwig XIV. behandelt, ohne wesentlich Neues zu sagen, der Engländer Hamilton, wobei er insbesondere auf die Grundlage der Erwerbung, die Bestimmungen des Westfälischen Friedens mit dem offenbaren Gegensatz zwischen den Artikeln 75/76 und 89 des Instrumentum pacis hinweist ( 675). Die Annahme zweideutiger Formeln durch die kaiserlichen Gesandten bei den Friedensverhandlungen ermöglichte ja in der Tat Ludwig XIV. eine Interpretation des Vertrags, an welche die politische Leitung Frankreichs um das Jahr 1648 noch keineswegs gedacht hatte.

Weit bekannter als die Haltung des Gesamtreichs nach 1648 ist der Aufstieg, den zu gleicher Zeit die größeren Einzelstaaten, insbesondere Brandenburg-Preußen nahmen. Wieweit das protestantische Moment die Außenpolitik des ersten großen Hohenzollern, des Kurfürsten Friedrich Wilhelm, vom Beginn des holländischen Krieges bis zu seinem Tode bestimmt hat, untersucht G. Hensell in einer Hamburger Dissertation ( 672). Daß dabei neue überraschende Aufschlüsse gegeben werden, wird man kaum behaupten können: daß die religiösen Sympathien doch meist vor den politischen Überlegungen zurücktreten mußten, gibt auch der Verfasser zu. Es bleibt schließlich als Ergebnis der Arbeit nur eine nicht ungeschickte Zusammenstellung der in den »Urkunden und Aktenstücken« enthaltenen Stellen, in denen sich eine konfessionelle Beeinflussung und Begründung der brandenburgischen Politik zeigt. -- Wichtige Quellen zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich III., des späteren ersten preußischen Königs, enthält der zweite Band der von N. Japikse herausgegebenen Korrespondenz Wilhelms III. von Oranien und seines Vertrauten Bentinck (679a. Vgl. Jahresberr. 3, S. 221). Wie im ersten Bande angekündigt war, bringt dieser zweite Teil des Archivs von Welbeck Abbey außer den Korrespondenzen aus England, Spanien, Frankreich und Italien eine Anzahl von an Wilhelm und Bentinck gerichteten Briefen aus Deutschland, insbesondere Schreiben Eberhards von Danckelman aus dem Jahre 1688, die uns die brandenburgischen und holländischen Bemühungen um die Fürstbischofswahl in Münster aufdecken und uns in die Vorbereitungen zum pfälzischen Kriege wichtige Einblicke verschaffen, ferner Briefe des Fürsten Waldeck aus derselben Zeit u. a. über die holländischen Subsidienverhandlungen mit Hessen-Kassel, Württemberg und anderen deutschen Fürsten, dann ein interessantes Schreiben des Markgrafen Ludwig Wilhelm von Baden an Wilhelm III. vom 10. Juli 1694, in dem die Erbitterung des Türkenlouis über die Erhebung Hannovers zur neunten Kur deutlich


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hervortritt, ausführliche Berichte des mit der Vermittlung zwischen Kaiser und Sultan betrauten holländischen Gesandten Heemskerck aus dem Jahre 1694 über die Zustände in der Türkei und endlich bittere Klagen des Kurfürsten von Brandenburg unmittelbar nach dem Frieden von Ryswick über die ihm durch die Verbündeten zuteil gewordene Behandlung. Aus dem übrigen reichhaltigen Inhalt des Bandes ist vor allem die Korrespondenz Bentincks mit der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orleans aus den Jahren 1698 bis 1702 mit zahlreichen bisher unbekannten, z. T. recht charakteristischen Briefen der Liselotte erwähnenswert. Zur Geschichte des Spanischen Erbfolgekriegs bieten die in einem ersten Anhang mitgeteilten Schreiben des Ratspensionärs Heinsius reiche Ausbeute. In diesem Anhang findet sich auch ein allerdings nicht sehr umfangreicher Briefwechsel zwischen Bentinck und Marlborough.

Von Einzeluntersuchungen zur deutschen Geschichte unserer Epoche sei einmal die graphologische Untersuchung, die Cläre Pertz dem angeblichen Briefwechsel der unglücklichen Prinzessin von Ahlden mit dem Grafen Königsmarck angedeihen läßt, genannt ( 677). Auf Grund eines Vergleichs von unzweifelhaften Originalbriefen der Prinzessin mit den in Lund aufbewahrten Liebesbriefen und einer Charakteranalyse möchte sie letztere für eine Fälschung, vielleicht der Gräfin Platen, halten, ebenso neigt sie dazu, die in Berlin befindlichen Königsmarck zugeschriebenen Briefe für unecht anzusprechen, doch genüge hier das Vergleichsmaterial zu einem schlüssigen Beweis nicht. -- P. Haake veröffentlicht in Ergänzung seiner Biographie Augusts des Starken Berichte des preußischen Gesandten am sächsisch-polnischen Hofe Viebahn aus dem Jahre 1727 über das Befinden des Kurfürsten-Königs und über seine Berater, insbesondere den Feldmarschall Flemming, und bespricht im Zusammenhang damit eine für den Kurprinzen bestimmte Denkschrift Flemmings über die in Zukunft einzuhaltende Politik, die neben manchen guten doch auch kurzsichtige Ratschläge enthält ( 690).

Noch sind einige Beiträge zur Publizistik anzuführen. Baethcke druckt zwei in seinem Besitz befindliche politische Flugschriften aus dem Jahre 1659 ab, von denen nach einer ergänzenden Bemerkung von C. Borchling Exemplare mit z. T. erheblich abweichenden Lesarten auch in der Berliner Staatsbibliothek und in der Kgl. Bibliothek in Kopenhagen vorhanden sind ( 670). Die erste: »Eines Soldaten und Meckleburgischen Bauren Gespräch von der neuen Reichsarmee,« nimmt in dem Nordischen Krieg für Schweden Partei und greift die Reichsarmee und ihren Führer, den Kurfürsten von Brandenburg, den »pralissimus«, heftig an, während die zweite: »Eines Hinterpommerischen und Mecklenburgischen Pauren Gespräch« eine nicht weniger heftige, gewiß von brandenburgischer Seite stammende Antwort darauf darstellt. H. Hübner untersucht eine Anzahl von Flugschriften, die sich auf den Versuch des Prinzen Conti im Jahre 1697, die polnische Königskrone zu erlangen, und seine zu diesem Zweck unternommene ergebnislose Fahrt nach Danzig beziehen ( 673). Er kann für einige nachweisen, daß sie von ein- und demselben Verfasser stammen: sind sie literarisch unbedeutend und als historische Quelle völlig wertlos, so gewähren sie doch einen Einblick in die Stimmung der Zeit. Daß die im Jahre 1705 erschienene Schrift »Derniers conseils ou Testament politique d'un ministre de l'Empereur Léopold I. en 1705«, die Droysen als ein echtes, den am Hofe der Habsburger herrschenden Geist rücksichtsloser, zynischer Machtausdehnung


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kennzeichnendes Dokument ansprechen zu können glaubte, in Wirklichkeit eine gegen Österreich gerichtete politische Fälschung ist, der das gleichfalls unechte Testament Karls von Lothringen von 1696 als Vorlage diente, weist Osw. Redlich überzeugend nach ( 684). Sie hatte mit ihren perfiden Vorschlägen, durch Mittel verwerflichster Art die Universalherrschaft des Hauses Habsburg herzustellen, etwa im Sinne Max Emanuels von Bayern den Zweck, die ganze Welt mit Österreich zu verfeinden.


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