I. Gesamtgeschichte des 19. Jahrhunderts.

Das Reichsarchiv hat 150 faksimilierte Urkunden, Akten und Schriftstücke mit Einleitung und Erläuterungen herausgegeben ( 740). Das Schwergewicht der Sammlung liegt durchaus auf der jüngeren und jüngsten Vergangenheit. Die Bismarckzeit (1861--1890) allein ist mit 45 Dokumenten vertreten. Hier liegt ein Reichtum an anschaulichem Material vor, der bisher für die neuere Geschichte völlig fehlte. Nicht mehr als bloßes Beiwerk in illustrierten Geschichts- und Prachtwerken erscheinen die Urkundeabdrücke, sondern als Hauptsache, dem sich auch die gut geschriebene Einleitung von Müsebeck unterordnet. Um seine Zwecke voll erfüllen zu können, ist freilich das Werk viel zu teuer. Es gibt bisher noch keine Urkundenlehre und Diplomatik der Neuzeit (außer einzelnen Ansätzen) und es fehlt daher auch an dem reichen Anschauungsmaterial, wie es sich die mittelalterlichen Historiker in den großen Tafelwerken geschaffen haben. In dieser Strenge erfüllt das vorliegende Werk seine Aufgabe nicht. Weder die Einleitung noch die Erläuterungen beschäftigen sich mit den Fragen der Urkundenlehre. Für den Historiker wäre ein Weniger an Urkunden oft mehr gewesen, zumal wenn dann einige größere und wichtigere Dokumente im vollen Umfang, statt nur mit ihrem Anfang und Ende abgebildet worden wären. Viele, auch dem Spezialforscher unbekannte Archivschätze sind hier mit Sorgfalt gesammelt: von seinem reichen und vielseitigen Inhalt, der die Entwicklung des Einheitsgedankens veranschaulichen soll, kann hier keine Vorstellung gegeben werden. Die Urkunden stammen nicht nur aus den Reichs- und Landesbehörden, sondern es sind auch Schriftstücke privaten Charakters hinzugenommen, was durchaus dem Ziel der ganzen Sammlung entspricht, nur fehlt es auch hierbei an einer prinzipiellen Unterscheidung zwischen öffentlicher und Privaturkunde. -- Hier läßt sich gleich ein Aufsatz von Mommsen ( 753) anreihen, der zur Frage der deutschen Einheitsbewegung wertvolle grundsätzliche Ausführungen macht: vor allem ist es ihm um eine Klärung der Begriffe großdeutsch-kleindeutsch zu tun. Beide Begriffe gehören erst der Geschichte des 19. Jhds. an, sind 1848 entstanden und erst in den sechziger Jahren zu politischer Bedeutung gelangt: sie dürfen also nicht in die früheren Jahrhunderte der deutschen Geschichte übertragen werden, wie es namentlich Kaindl getan hat. Großdeutsch und kleindeutsch sind Parteinamen. Großdeutsch ist kein eindeutiger Begriff, bei manchen seiner Anhänger herrscht der Volksgedanke


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vor, bei andern der Gedanke eines großen mitteleuropäischen Reiches. Dazu verbergen sich unter den großdeutschen Zielen partikularistische und konfessionelle Kräfte. Kleindeutsch ist keine »Idee«; es ist eine realpolitische Lösung, deren Anhänger im Grunde alle großdeutsch dachten. Weiter widmet M. sich der entscheidenden Frage, warum die Einheitsbewegung sich mit den alten überlieferten Kräften des Staates nicht zusammenfand, sondern oft neben- und gegeneinander lief; die gegenseitige Einwirkung war dennoch sehr stark, nicht nur auf die kleinen Territorialfürsten, welche nicht mehr wagen durften, ein Bündnis mit dem Ausland zu schließen, sondern auch auf Bismarck, der die Kräfte der Einheitsbewegung benutzte und, wenn auch nicht ihre Mittel, so doch ihr Ziel zu dem seinigen machte. Zum Schluß seines gedankenreichen Vortrages erhebt M. noch Forderungen für eine wahrhaft deutsche Geschichtsschreibung. -- Zwei Bücher bedürfen nur einer kurzen Erwähnung. Der Wert von Schnabels »Geschichte der neuesten Zeit« wird durch das Erscheinen der 6. Aufl. erwiesen (Gesch. d. neuesten Zeit. Von d. französ. Revolution bis zur Gegenwart. 6. A. des Buches: 1789--1919. Lpz., Teubner, V, 234 S. M. 6). Als Grundriß der Geschichte für die Oberstufen höherer Lehranstalten gedacht, besitzt dieses kleine Werk doch einen weit über diesen engen Rahmen hinausgehenden Wert. In wohldurchdachter Gliederung wird die europäische Geschichte mit Einschluß der Kolonialgeschichte kurz, aber selbständig urteilend behandelt; der Kultur- und Wirtschaftsgeschichte ist ein weiter Raum neben der politischen Geschichte gegeben. Nur das Literaturverzeichnis am Schluß bedurfte einer durchgreifenden Erneuerung und Ergänzung (vgl. auch Jberr.. 1, S. 270). Edwards ( 741) verfolgt ähnliche Absichten wie Schnabel: auch bei ihm liegt der Hauptwert seiner für Schüler und Studenten bestimmten Arbeit in der Gliederung der gedrängten Darstellung, doch beschränkt er sich auf die politischen Ereignisse. Für deutsche Leser ist dieses Buch ohne Bedeutung, weil es auch in den die deutsche Geschichte behandelnden Abschnitten sich ausschließlich auf englische (Cambridge History) und französische Werke (Seignobos) stützt.


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