II. Auswärtige und innere Politik 1815--1847.

»Der Kampf um Metternich« ist auch im Berichtsjahr fortgesetzt worden. Bibl läßt ein Werk erscheinen, welches mit dem Anspruch auftritt, »Metternich in neuer Beleuchtung« zu zeigen ( 746). Der wertvollste Teil ist der dritte, in welchem Bibl einen von ihm aufgefundenen, fast lückenlos erhaltenen Briefwechsel zwischen Metternich und dem bayrischen Staatsminister von Wrede abdruckt. Von den 129 Briefen (nicht 130, wie Bibl im Vorwort schreibt!) stammen 60 von Metternich, 69 von Wrede. Bibl glaubt hier Metternichs geheimste Gedanken zu erspähen: in Wirklichkeit bleibt Metternich auch hier der Politiker, der den leitenden Staatsmann des größten deutschen Mittelstaates in seinem Sinne politisch beeinflussen will. Wenn Metternich auch nicht seine geheimsten Gedanken und Ziele enthüllt -- er blieb eben immer Diplomat -- so gibt doch dieser Briefwechsel, der sich vom 16. April 1831 bis zum 30. Dezember 1834, also über 33/4 ereignisreiche Jahre erstreckt, einen tiefen Einblick in seine Politik. Bibl erschließt diesen Briefwechsel durch eine aus archivalischem Material geschöpfte Darstellung, aus der wir z. B. Mittel und Wege erfahren, mit denen Metternich den Sturz der bayrischen und preußischen Minister des Auswärtigen, Armansperg und Bernstorff, herbeiführte. Für die Vorgeschichte der Wiener Konferenzen erweist sich Bibls Arbeit als sehr ertragreich. Am schwächsten ist der erste -- polemische -- Teil der Arbeit,


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der eine Kritik von Srbiks »Metternich« (Jberr. 1, Nr. 1111) darstellt. Wertheimer ( 748) unterstützt Bibls Argumente, während die übrigen Rezensenten des Biblschen Buches sich mehr auf Seite Srbiks stellen ( 746). Srbik selbst hat in einer eindringlichen Anzeige sich mit Bibls Auffassung auseinandergesetzt; auf sie verdient ausdrücklich hingewiesen zu werden. -- Bibl und Wertheimer bekämpfen das von Srbik gezeichnete Bild Metternichs, vor allem die Darstellung, die er von Metternichs »System« gegeben hat, aus liberaler Abneigung gegen diesen Staatsmann. E. Kittel ( 747) vermeidet ein solches politisches Ressentiment und kommt daher zu einer tiefergreifenden Kritik von Srbiks »Metternich«. Kittels Bedenken richten sich vor allem dagegen, Metternichs Äußerungen zu einem geschlossenen System zu verbinden. Gegen diesen Versuch einer »Rekonstruktion« wurden auch an dieser Stelle (vgl. Jberr. 1, S. 274 f) Zweifel erhoben. Kittel wendet sich vor allem gegen eine Überschätzung des Systems, und will eine Darstellung der Metternichschen politischen Grundanschauungen geben und dabei berücksichtigen, daß es sich immer nur um einzelne Aussprüche handelt, die trotz ihrer überraschenden Übereinstimmung, doch oft so starke Widersprüche in sich schließen, daß von einem philosophischen System keine Rede sein kann. Die Wirklichkeit erweist sich stärker als die Theorie. Wenn Srbik die Frage offen läßt (Metternich I, 415), ob die ethischintellektuellen Prinzipien oder die Staatsinteressen Österreichs in Metternich stärker waren, so entscheidet sich Kittel unbedenklich für das zweite.

In den weiteren Umkreis der Metternichschen Politik führen die Tagebücher Philipp Neumanns ( 749), der auf verschiedenen diplomatischen Posten Österreich als Geschäftsträger und 1842--1844 als Gesandter in London vertrat. Seine Tagebücher reichen von Dezember 1819 bis Februar 1850. Der Inhalt beschäftigt sich in wechselnder Ausführlichkeit vor allem mit den gesellschaftlichen Vorgängen in den Hauptstädten, in denen er sich aufhielt. Die Aufzeichnungen geben ein lebendiges Zeitbild der höfischen Kreise, dagegen wenig neue Einblicke in die Ziele der österreichischen Politik. Die Herausgeber haben einige Kürzungen vorgenommen. Unmittelbar in die Metternichsche Politik führen die Berichte des österreichischen Gesandten in Brüssel, des Grafen Dietrichstein, welche Alfred de Ridder ( 750) herausgegeben hat. Erst nach der vorläufigen Vereinbarung zwischen Belgien und Holland vom 21. Mai 1833 erkannte Metternich die Unabhängigkeit Belgiens an. Dietrichstein beurteilt die Zustände und Personen in Belgien mit scharfer Kritik. Die 59 Berichte reichen vom 1. November 1833 bis zum 8. August 1834; wichtig ist vor allem die Instruktion vom 30. Juni 1833, welche Metternich seinem Gesandten mitgab. Im Anhang sind acht Berichte des englischen Gesandten Sir Robert Adair an Palmerston und Briefe des belgischen Ministers des Auswärtigen, des belgischen Gesandten in London usw. abgedruckt. Bei diesen Stücken handelt es sich um den Aufstand vom 6. April 1834 in Brüssel. --

Belgien bereitet für das Jahr 1930 die Jahrhundertfeier seiner Selbständigkeit vor. Hierfür haben mehrere Verfasser eine auf drei Bände berechnete Geschichte Belgiens (Histoire de la Belgique contemporaine 1830--1914 tome premier. Bruxelles, Librairie Albert Dewit, 1928, XII u. 408 S.) geschrieben. Der patriotische Zweck dieses Werkes geht sowohl aus dem Vorwort des Herausgebers wie aus der von dem Baron Beyens verfaßten Einleitung hervor: immerhin stammt die sachliche geordnete Darstellung von ernsten Historikern:


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der 1. Band enthält vier Kapitel: die Bildung des Königreichs Belgien von Ch. Terlinden, Belgien und die europäischen Mächte von Alfred de Ridder, Wirtschaftsgeschichte von Baudhuin und die Verfassungsgeschichte von Eeckhout. Es liegt den Verfassern einmal daran, das Bestehen einer belgischen Nationalität nachzuweisen; von Gegensätzen zwischen Wallonen und Flamen hören wir nichts; zum andern liegt es ihnen daran, Belgiens Verhalten in der internationalen Politik zu rechtfertigen. Als besonderer Beschützer, der schon die Gründung des belgischen Staates förderte, wird England betrachtet, während die übrigen Mächte störend und hemmend wirkten. Die auswärtige Geschichte Belgiens ist eine Geschichte der Krisen seiner Neutralität (in einem besonderen Werk hat de Ridder [ 777] die Krise der belgischen Neutralität im Jahre 1848 behandelt, es war mir nicht zugänglich). Die Vorgänge von 1867 und 1870 sind unter Benützung von H. Onckens Rheinpolitik geschrieben. Trotz begreiflicher Einseitigkeiten ist das Kapitel über die auswärtigen Beziehungen Belgiens, das mit einer genauen Bibliographie abschließt, das wichtigste des Bandes. -- Daß Preußens Verhalten zur Entstehung des belgischen Staates durchaus nicht so feindlich war, wie de Ridder meint, weist Gronemann ( 763) nach. In der öffentlichen Meinung äußerten sich bald Stimmen, die Belgien freundlich gesinnt waren, wenn auch manche nur deshalb Belgien günstig waren, weil sie eine Annexion Belgiens durch Frankreich fürchteten. Die preußische Politik war redlich und mit Erfolg bemüht, einen allgemeinen Krieg um Belgien zu vermeiden und hat sich dadurch erhebliche Verdienste um Belgiens Selbständigkeit erworben. Mit der belgischen Frage hängt eng die Rheinlandfrage zusammen. Lulves untersucht Englands Stellung ( 743), das immer davon ausging, diese Gebiete von der französischen Machtsphäre freizuhalten (vgl. auch nr. 729a).

Von allen Verträgen, welche während und nach den Befreiungskriegen zum Schutz der wiedergewonnenen Freiheit und zur Wiederherstellung des alten Staatensystems abgeschlossen worden sind, hat die Heilige Allianz bei den Zeitgenossen und bei den Historikern am wenigsten Verständnis gefunden. Näf ( 745) beschäftigt sich auf Grund von Textvergleichungen mit ihrer Entstehung und weist nach, daß nicht Alexander I., sondern Metternich ihre endgültige Form bestimmt hat; daraus lassen sich wichtige Schlüsse über die Motive Alexanders ziehen. Die Verhandlungen, welche die Schweizer Eidgenossenschaft mit den Kantonen über den Beitritt zur Heiligen Allianz geführt hat, dienen zur weiteren Klärung des Sachverhalts. -- Die ersten 11 Artikel der deutschen Bundesakte sind in die Wiener Kongreßakte aufgenommen worden: daraus ist vielfach von Historikern und Juristen der Schluß gezogen worden, daß der Deutsche Bund unter die Garantie der vertragschließenden Mächte Rußland, England und Frankreich gestellt worden sei. --Dommermuth ( 742) weist mit historischen und staatsrechtlichen Gründen nach, daß für den Deutschen Bund niemals ein Garantievertrag bestanden hat. Da der Deutsche Bund längst untergegangen ist, könnte die Frage nach den Garantierechten fremder Mächte als gegenstandslos erscheinen, der wesentliche Wert der Arbeit beruht daher vor allem in dem Einblick, den sie in die Absichten und Tendenzen der deutschen Staatsmänner, vor allem Metternichs, Hardenbergs und Humboldts gewährt. Humboldt hat frühzeitig auf die Gefahr hingewiesen, welche aus der Aufnahme der Bundesakte in die Kongreßakte für die völkerrechtliche Stellung des Bundes erwachsen konnte. So besteht der weitere wertvolle Ertrag


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der Schrift darin, daß die einzelnen Fälle dargestellt werden, in denen sich die europäischen Mächte auf dieses vermeintlich ihnen zustehende Garantierecht beriefen, um sich in die inneren Verhältnisse Deutschlands einzumischen: hier wird ein wichtiges Stück Außenpolitik des Deutschen Bundes behandelt; der Bund hat in allen Fällen sein Recht gegenüber dem Ausland zu wahren gewußt, zum Teil in sehr scharfen Beschlüssen gegen die fremden Eingriffe (1832, 1834). Auch 1848 und nach der Wiederherstellung des Deutschen Bundes hat die Garantiefrage eine gewisse Rolle gespielt.


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