III. Deutsche Politik im Jahrzehnt der Reichsgründung.

Ritters Reichsgründungsrede ( 837 a) ist im wesentlichen eine Auseinandersetzung mit der sogenannten »großdeutschen« Kritik an Bismarcks Reichsgründung; sie zeigt in großen Zügen und überzeugenden Ausführungen die historische Notwendigkeit des Bismarckschen Weges, im Gegensatz zu einer mißverstandenen großdeutschen Auffassung.

Dem im vorigen Berichtsjahr besprochenen Band 4 der Gesammelten Werke Bismarcks, der mit der Veröffentlichung der politischen Schriften Bismarcks aus seiner Ministerzeit begann, ist in diesem Berichtsjahr bereits der 5. Band gefolgt, der die Jahre 1864--1866 umfaßt ( 833). Er ist wiederum von Friedrich Thimme besorgt und enthält noch mehr neues Material als der vorhergehende, ja er bringt fast nur ungedruckte Akten. Die Reichhaltigkeit der neu mitgeteilten Schriftstücke macht natürlich eine eingehende kritische Stellungnahme im Rahmen dieser Berichte unmöglich. Wir müssen uns darauf beschränken, den Gesamteindruck wiederzugeben. Thimme sagt im Vorwort, daß der Band nicht nur neues Material enthält, sondern auch dazu führen muß, die bisherige Beurteilung der Bismarckschen Politik zu revidieren. Er betont dabei mit Recht, wie außerordentlich stark der konservative und innenpolitische Standpunkt Bismarcks auch in diesem Zeitraum seine Außenpolitik und


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vor allem seine Haltung in der deutschen Frage bestimmte. Wir stimmen dem Herausgeber auch darin zu, daß man Bismarcks Haltung nicht danach beurteilen dürfe, was später geschah, und daß Bismarck nicht entfernt so bewußt auf den Kampf gegen Österreich hingearbeitet habe, wie man im allgemeinen gemeint hat. Aber freilich, Thimmes Einleitung scheint uns nun doch etwas allzusehr unter dem Motto zu stehen »Es war alles ganz anders«. Den Kampfwillen Bismarcks gegen Österreich schätzt Thimme doch wohl etwas zu gering ein. Er beruft sich bei dieser seiner Ansicht vor allem auf die Protokolle des Ministerrates, die leider bei der Beschränkung der Sammlung auf von Bismarck persönlich herrührende Stücke nicht mit abgedruckt sind, und meint, vor allem vor Gastein habe -- sehr im Gegensatz zur üblichen Ansicht -- Bismarck den König Wilhelm vom Kriege zurückgehalten. Eine endgültige Beurteilung dieser Dinge wird natürlich erst möglich sein, wenn die Aktenpublikation über die Geschichte der Reichsgründung einmal erschienen sein wird. Aber auch auf Grund des von Thimme mitgeteilten Materials haben wir den Eindruck, daß Bismarck den König nicht von dem Krieg zurückzuhalten brauchte, sondern daß er mit allen Mitteln den Widerstand des Königs gegen einen Krieg zu überwinden versuchte, wie er denn auch darauf hinarbeitete, daß die diplomatische Berichterstattung aus Wien und Paris nicht den Widerstand des Königs gegen den Kampf mit Österreich steigerte. Auf der anderen Seite geht aus der Publikation hervor, daß Bismarck viel länger und stärker als man im allgemeinen meint, mit der Möglichkeit eines friedlichen Ausgleichs mit Österreich gerechnet hatte. Für seine Gesamthaltung scheint uns am bezeichnendsten ein Erlaß vom November 1865 an den Gesandten in Wien, Freiherrn v. Werther (S. 320 f.), der von der »Wahl zwischen zwei Systemen« spricht. Entweder »im Bunde mit Österreich unter Bekämpfung der revolutionären Bestrebungen und Erweckung des Vertrauens der deutschen Fürsten eine gemeinschaftliche Leitung der deutschen Angelegenheiten durch die beiden Großmächte herzustellen«, dieser Weg wäre ihm »der liebere, doch nur dann«, wenn Österreich »mit der zweideutigen Politik bräche, gegen deren Auswüchse in Frankfurt unser gemeinsames Auftreten gerichtet war«. Wenn Österreich das nicht tat, dann folgte für Bismarck daraus, wie schon in Frankfurt, die Notwendigkeit des Kampfes. Beide Linien, das Zusammengehen mit Österreich und der Kampf gegen Österreich, liegen nebeneinander, und je nach der Haltung Österreichs bzw. auch der Frankreichs wird mehr die eine oder die andere Möglichkeit betont. Seit Anfang 1866 tritt die Vorbereitung des Kampfes gegen Österreich deutlich in den Vordergrund und Äußerungen über den gemeinsamen Kampf gegen die revolutionäre Bewegung im starken Maße zurück. Über die Entstehungsgeschichte des Parlamentsantrages und die Art der Benutzung der deutschen Bewegung in diesem Stadium enthält die Veröffentlichung mancherlei Interessantes, was hier nicht angeführt werden kann. Vor allem wird immer wieder, wenn auch gelegentlich in taktisch bestimmten Äußerungen, der konservative Charakter des allgemeinen Wahlrechtes betont. Ferner zeigt sich deutlich, wie die Tendenz der »Mainlinie« schon vor Ausbruch des Krieges vorhanden und durch die Rücksicht auf Frankreich bestimmt ist, wie denn überhaupt auch über das Verhältnis zu Frankreich viel Neues in der Publikation enthalten ist. --

Für die Geschichte der Reichsgründung ist die Biographie des Kaisers Franz Joseph von J. Redlich ( 848) von Bedeutung, auf die hier nur hingewiesen


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sei, da sie im Abschnitt über österreichische Geschichte eingehender gewürdigt wird (vgl. S. 509). -- Die Begegnung König Wilhelms mit Franz Joseph in Gastein vom 3. August 1863 behandelt Max Lenz in einem Beitrag der Festgabe für Erich Brandenburg ( 791). Auf Grund der Akten des Hausarchivs und des Auswärtigen Amtes wendet er sich vor allem gegen die Auffassung von Bailleu, der keinerlei Gegensätze zwischen Bismarck und dem König feststellen wollte. Der Aufsatz von Lenz enthält eine genaue kritische Untersuchung der Aufzeichnung des Königs vom 3. August und betont Bismarcks Anteil an dieser Aufzeichnung; das ist über die Bedeutung des Gegenstandes hinaus wichtig für die Art, in der Bismarck den König behandelte. Am Schluß seiner meisterhaft durchgeführten, methodischen Untersuchung weist Lenz mit viel Recht darauf hin, wie sehr die Politik Bismarcks in den Zeiten der Reichsgründung noch durch ähnliche detaillierte Spezialuntersuchungen geklärt werden müsse, und daß die Bismarckforschung auch heute noch nicht weit über ihren Anfang hinausgekommen sei; nur eine von vielen getragene Forschung werde diese Aufgabe lösen können. Die Erfüllung dieser Forderung des Altmeisters unserer Wissenschaft ist ja zum Teil durch die geplanten Unternehmungen der historischen Reichskommission eingeleitet. Sein Wunsch, daß man auch in der neueren Geschichte Kleinarbeit nicht verachten und jedes Aktenstück nicht anders behandeln solle als mittelalterliche Texte, darf auch an dieser Stelle als durchaus berechtigt hervorgehoben werden, wenn es auch selbstverständlich ist, daß die historische Forschung auf solcher Kleinarbeit nur aufbauen, nicht in ihr steckenbleiben darf. --

Für die außenpolitischen Vorgänge des Jahrzehntes vor der Reichsgründung enthalten die Gespräche Paléologues mit der Kaiserin Eugenie mancherlei Interessantes. Sie sind zunächst in der »Revue des Deux Mondes« erschienen und dem Berichterstatter in der Buchform nur in der gut ausgestatteten deutschen Übersetzung bekannt ( 812). Es handelt sich um Gespräche, die der bekannte französische Diplomat in den Jahren 1901--1919 mit der Kaiserin geführt hat. Sie behandeln vielfach auch Tagesereignisse, gelegentlich ganz interessant. Für den Historiker aber ist vor allem wichtig, mit welchen Argumenten Napoleons Gemahlin seine Politik zu verteidigen sucht. Natürlich liegen zahlreiche Erinnerungstäuschungen vor, was bei Gesprächen über Jahrzehnte zurückliegende Ereignisse ja verständlich ist. Aber in manchem sind die Erzählungen der Kaiserin nicht nur für die französischen Zustände und für die Beurteilung Napoleons III. aufschlußreich, sondern auch für die allgemeine Geschichte wichtig, so etwa in der Schilderung des französischen Kronrates vom 5. Juli 1866 nach Königgrätz und für die Vorgeschichte des Krieges von 1870. -- Der Aufsatz von Lhéritier ( 807) setzt sich ziemlich kritisch mit Onckens großer Publikation über die Rheinpolitik Napoleons III. auseinander (vgl. Jberr. 1926, Nr. 1247 A, S. 328 f.). Er tadelt vor allem, daß Oncken seinen Ausgangspunkt von der Fragestellung der »Kriegsschuld« genommen und die Rheinpolitik isoliert betrachtet habe, und hebt hervor, daß es sich bei der Zusammensetzung des Materials mehr um eine österreichische als um eine deutsche Aktenpublikation handle. Es ist nicht möglich, sich mit der gewiß interessanten Polemik Lhéritiers hier auseinanderzusetzen. Wir stimmen ihm, wie schon in der Besprechung an dieser Stelle, darin zu, daß Oncken die bewußte Folgerichtigkeit der im Grunde schwankenden Politik des französischen Kaisers wohl überschätzt. Aber daß die


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Rheinfrage für Napoleons Gesamtpolitik überaus wichtig und entscheidend war, wird sich im Gegensatz zu Lhéritier schwerlich leugnen lassen. Da Lhéritier selbst den Ausgangspunkt von der Kriegsschuldfrage her kritisiert, darf hervorgehoben werden, daß er selbst, trotz allen seinen Bemühungen um Sachlichkeit, doch in der Beurteilung der Vorgeschichte des Krieges von 1914 im Gegensatz zu manchem seiner französischen Fachgenossen noch eine sehr einseitige Ansicht zu haben scheint. -- Der Aufsatz von H. O. Meisner ( 822) beschäftigt sich mit Onckens Publikation und daneben vor allem mit dem Briefwechsel der Königin Viktoria während der Jahre 1862--1878. Meisner untersucht insbesondere die Stellung der beiden Viktorien, der englischen Königin und der deutschen Kronprinzessin, zu den Ereignissen von 1864, 1866 und 1870, und betont, daß beide, im Gegensatz zum englischen Ministerium, zugunsten der preußischdeutschen Politik eintraten. Auf S. 79 f. wird aus dem Preußischen Hausarchiv ein Brief der Königin Viktoria an König Wilhelm vom 22. April 1867 veröffentlicht, der zum Frieden mit Frankreich mahnte. --Roloffs Aufsatz ( 809) schildert auf Grund des neu erschienenen Materials die Aktion für eine europäische Abrüstung, die zunächst 1868 von Beust angeregt und dann von Frankreich weiter verfolgt wurde, mit deutlich antipreußischer Tendenz. Roloff meint, daß der Kaiserplan für Bismarck ein Mittel war, um dem Abrüstungsplan entgegenzutreten. Auch für den Fortgang der Abrüstungsaktion auf französischer Seite nimmt er einen Zusammenhang mit dem inzwischen von Bismarck eingeleiteten Kaiserplan an. Er betont freilich, daß der ursächliche Zusammenhang zwischen Abrüstungsidee und Kaiserplan, von dem er überzeugt ist, sich dokumentarisch nicht einwandfrei nachweisen lasse. Im übrigen werden beide Aktionen und ihr Steckenbleiben in den Anfängen anschaulich geschildert.

Eine der wichtigsten Veröffentlichungen zu den Problemen der deutschen innenpolitischen Entwicklung ist der kleine Band, in dem Gustav Mayer den scheinbar verlorenen Briefwechsel Lassalles und Bismarcks ( 792) herausgeben kann. Zur Beurteilung ihrer so bedeutungsvollen Beziehungen hatte man bisher neben den späteren Aussagen Bismarcks und indirekten Quellen nur zwei kurze Briefe Lassalles. Die Briefe, die Mayer jetzt im Auftrag des preußischen Ministerpräsidenten veröffentlichen kann, befanden sich in einem alten Schrank im Preußischen Staatsministerium, der kürzlich vor Altersschwäche zusammenbrach. Ich habe an anderer Stelle (Dte. Lit.-Ztg. 1928, S. 2064 ff.) diese Veröffentlichung und ihre allgemeine Bedeutung eingehend besprochen und kann mich darauf beschränken, auf die vorzügliche Einleitung des Herausgebers und einige wichtige Ergebnisse hinzuweisen. Es scheint jetzt geklärt, daß der erste formelle Schritt von Bismarck, nicht von Lassalle ausging, wenn auch sachlich Lassalle ebensosehr der Suchende wie der Gesuchte war. Der Briefwechsel zeigt ziemlich deutlich den Verlauf der Gespräche Bismarcks und Lassalles, wobei im Mittelpunkt der Gedanke der Oktroyierung des allgemeinen Wahlrechtes in Preußen stand. Auf Grund anderer Akten des Preußischen Staatsministeriums kann Mayer auch Mitteilung von Wahlrechtsplänen Bismarcks nach Lassalles Tod machen. Bismarck hat in einem Votum vom Dezember 1864 das allgemeine Wahlrecht befürwortet, aber in Verbindung mit Einzelbestimmungen, die den Ausgang der Wahlen zugunsten der Regierung entscheidend beeinflußt hätten. Auch das napoleonische Mittel amtlich aufgestellter Regierungskandidaten spielte dabei eine Rolle. Ferner war beabsichtigt, die Stimmen der


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Nichtwähler den Regierungskandidaten zuzurechnen. Den wesentlichen Teil des Briefwechsels bilden lange und ausführliche Schreiben Lassalles, denen nur kurze Mitteilungen Bismarcks gegenüberstehen. Trotzdem zeigen die Briefe mit aller Deutlichkeit, daß Bismarck in der Zeit der Verhandlungen sehr ernstlich mit der Möglichkeit der Bundesgenossenschaft Lassalles rechnete. Sie berührten sich ja nicht nur taktisch, sondern auch sachlich in manchen gemeinschaftlichen Anschauungen gegenüber der liberalen Bewegung, vor allem in der Überzeugung vom Machtcharakter der deutschen Frage. Die Fülle der allgemeinen Probleme, die an diese Veröffentlichung anknüpfen, kann natürlich an dieser Stelle nicht erörtert werden. --

Die Berliner Dissertation von Sälter schildert die politischen Anschauungen und die politische Tätigkeit von Bernhardi ( 797), vor allem auf Grund der Tagebücher und der historisch-politischen Schriften Bernhardis. Der Nachlaß Bernhardis ist vernichtet worden, dagegen konnte der Verfasser einige in den Akten des Auswärtigen Amtes vorhandene Berichte und Briefe verwerten. Nach Schilderung der Jugendentwicklung und des fast zwei Jahrzehnte umfassenden Aufenthaltes Bernhardis in Petersburg, wird sein Anteil an der politischen Bewegung in Deutschland 1851--1863 behandelt, im besonderen Bernhardis Stellung zum Konflikt. Sälter weist mit Recht darauf hin, daß Bernhardi trotz seinem Bestreben, politisch tätig zu sein, doch im Grund die Rolle des Statisten spielte, der zwar überall einzugreifen versuchte, dem aber die Fähigkeit fehlte, sich wirklich entschieden politisch einzusetzen. Ein abschließendes Kapitel behandelt die verschiedenen amtlichen und halbamtlichen Missionen, in denen Bernhardi von 1863 bis nach Ausgang des Deutsch-Französischen Krieges tätig war. Am wichtigsten ist die Arbeit wohl dadurch, daß sie einen Maßstab für den Quellenwert der neunbändigen Denkwürdigkeiten gibt. Gerade die Tatsache, daß Bernhardi mehr als »Statist« beobachtete, als entschieden politisch einwirkte, bedingte, daß er in seinen Denkwürdigkeiten, was er sah und hörte, leidenschaftlos und nüchtern aufzeichnete, und so seine eigene ruhige und maßvolle Stellungnahme den Tatsachenbericht sehr viel weniger trübt, als sonst bei derartigen Memoiren üblich zu sein pflegt.


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