IX. Deutsche Außenpolitik 1871--1890.

Das Buch von Noack »Bismarcks Friedenspolitik und das Problem des deutschen Machtzerfalls« ( 837), dessen Teildruck als Dissertation in den Jahresberichten bereits erwähnt wurde (Jahrgang 1926, Nr. 1310, S. 333), geht von der Fragestellung aus, ob Bismarcks Politik den Interessen Deutschlands entsprach. Wir haben bereits bei der Erwähnung des Teildruckes darauf hingewiesen, daß diese Fragestellung, die von der allgemein herrschenden Beurteilung der Bismarckschen Außenpolitik entschieden abweicht, durchaus fruchtbar sein kann und daß es ein Verdienst Noacks sei, die Berechtigung der Voraussetzungen der Bismarckschen Politik, die man bisher ohne weiteres bejahte, einmal nachzuprüfen. Dem Ergebnis können wir freilich nicht zustimmen, das zu einer allgemeinen Verurteilung der Bismarckschen


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Politik führt und in der Friedenspolitik des Reichsgründers nach 1871 die Ursache des deutschen Unglücks sieht, wie ja schon der Titel andeutet. Man kann durchaus anerkennen, daß der Verfasser mit ebensoviel Mut wie Begabung ein wichtiges Problem von neuen Gesichtspunkten her angeschnitten hat, um doch meinen zu müssen, daß die Behandlung des historischen Problems durch allzu starke Konstruktion nicht so gefördert wird, wie die Fragestellung vielleicht möglich gemacht hätte. Es ist natürlich nicht möglich, irgendwie auf Einzelheiten einzugehen, an denen sich manches beanstanden ließe, und auch die allgemeinen Thesen Noacks können hier nur ganz knapp behandelt werden. Er sieht vor allem in Bismarcks Politik, eine kriegerische Auseinandersetzung mit Rußland zu vermeiden, schwächliche Alterspolitik und eine Politik der versäumten Gelegenheiten. Daß in der Politik der Saturiertheit und der unbedingten Erhaltung des bestehenden Zustandes eine gewisse Schwäche lag, weil dieser Politik neue große Ziele fehlten, empfindet Noack wohl mit Recht. Die Frage ist freilich die, ob eine andere Politik, ganz abgesehen von Bismarcks eigenen politischen Voraussetzungen, in den Jahrzehnten nach der Reichsgründung möglich war, und das außenpolitische Programm, das Noack für diese Zeit aufstellt, scheint uns überaus utopisch; Deutschland hätte in engster Verbindung mit Österreich-Ungarn für das Ziel der nationalstaatlichen Entwicklung Osteuropas und Begründung eines deutschen und österreichischen Systems in Mittel- und Südosteuropa gegen Rußland rechtzeitig kämpfen sollen. Ich habe an anderer Stelle (Literaturblatt der Frankfurter Zeitung, 14. 4. 1929) mich ausführlich mit dieser Auffassung auseinandergesetzt und möchte an dieser Stelle nur darauf hinweisen, daß eine solche Politik, selbst wenn sie Erfolg gehabt hätte, durchaus nicht eine Stärkung Deutschlands bedeutet hätte, und daß die realpolitischen Voraussetzungen für sie kaum gegeben waren, vor allem auch deshalb, weil man ja schließlich kaum im Bunde mit dem Nationalitätenstaat Österreich-Ungarn für die nach Noack große Aufgabe deutscher Außenpolitik, die Begünstigung nationalstaatlicher Entwicklung in Osteuropa, hätte fechten können.

In seinem Beitrag in der Delbrück-Festschrift ( 835) polemisiert Becker gegen die noch vielfach übliche Auffassung, daß Bismarck kontinentale, seine Nachfolger Weltpolitik getrieben hätten. Becker stellt zunächst unter Hinweis auf seine eigenen Arbeiten fest, daß in den Jahren nach Bismarcks Sturz von deutscher »Weltpolitik« keinerlei Rede sein kann und äußert sich dann in seinem überaus aufschlußreichen und beachtenswerten Beitrag prinzipiell zum Problem deutscher Weltpolitik. Er weist mit vollem Recht darauf hin, daß Bismarcks Politik im wahrsten Sinne Weltpolitik war, weil sie alle weltpolitischen Kräfte und Voraussetzungen für die eigene Politik in Rechnung stellte. Seine Politik habe den Rahmen der ganzen Welt umspannt, während seine Nachfolger an die gesamtpolitischen Probleme mit einem allzusehr von Deutschland aus beschränkten, also nicht weltpolitischen Blick herangingen. Wir stimmen Becker auch darin vollkommen zu, wenn er darauf hinweist, daß die Ursachen des Weltkrieges nicht in Weltpolitik und Weltwirtschaft, sondern in den alten kontinental europäischen Problemen, Elsaß-Lothringen und Balkan, lagen. Vor allem beschäftigt sich Becker mit dem Problem deutscher Kolonialpolitik. Wenn er vielleicht auch in der Skepsis gegen deutsche koloniale Erwerbungen etwas weit geht, so kann man ihm darin zustimmen, daß eine Politik, die, ohne die


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weltpolitische Lage zu berücksichtigen, nur dem Erwerb einer Kolonie nachstrebte, darum noch nicht weltpolitisch eingestellt war und daß deutsche wirtschaftliche und kulturelle Geltung in der Welt in erster Linie nicht durch überseeischen Besitz, sondern durch Festigung und Sicherung Deutschlands auf dem Kontinent gefördert und ausgedehnt werden konnte. --Holborns Aufsatz ( 836a) ist veranlaßt durch den 50jährigen Gedenktag des Berliner Kongresses. Er skizziert Bismarcks Außenpolitik seit 1871, im besonderen die Bedeutung des Berliner Kongresses. Er betont, daß Bismarcks Kongreßpolitik durch den weiteren Verlauf der Ereignisse durchaus gerechtfertigt wurde. -- Das Buch des Grafen zu Stolberg-Wernigerode ( 836) über Bismarcks Bündnissystem gibt eine populäre Schilderung der Bismarckschen Außenpolitik, die den politischen Zweck hat, aus ihr Lehren für die Gegenwart zu ziehen, vor allem durch die Hervorhebung der Vorsicht, Geduld, Behutsamkeit usw. der Bismarckschen Außenpolitik nach 1871.

Die Arbeit von Saß über die deutschen Weißbücher ( 815) hat sehr viel allgemeineres Interesse, als der spezielle Titel erwarten läßt (vgl. meine Besprechung Hist. Z., Band 139, S. 210 f.). Saß schildert den mit 1849 beginnenden Kampf des Preußischen Landtages und dann des Reichstages mit der Regierung über die Vorlegung von Weißbüchern, in dem das Streben der Volksvertretung um Mitbestimmungsrecht in den Fragen der auswärtigen Politik zum Ausdruck kam. Bei aller berechtigten Skepsis, die vor allem Bismarck gegen den Wert solcher Farbbücher hatte, betont Saß mit Recht, daß hinter diesem Kampf um die Weißbücher der innenpolitische Machtkampf zwischen Regierung und Parlament stand. Wenn Bismarck es für zweckmäßig hielt, habe er sich selbst des Mittels der Weißbücher bedient, und sich dann bis in alle Einzelheiten hinein um die Art ihrer Abfassung gekümmert; freilich handelte es sich dabei meist um Farbbücher über nebensächliche Fragen. Saß schildert den Fortgang dieses Kampfes um die Farbbücher bis in die Zeiten vor Kriegsausbruch, und vertritt die Ansicht, daß der Widerstand der Regierung gegen die Beteiligung des Parlamentes an außenpolitischen Fragen mit dazu geführt habe, daß die Volksvertretung ein aktives Verantwortungsgefühl in der Außenpolitik nicht besaß. Der spezielle Teil des Buches enthält ein Verzeichnis der Deutschen Weißbücher in sorgfältiger Ausgabe und Kommentierung und macht gelegentlich auch interessante Mitteilungen über Bismarcks redaktionelle Tätigkeit bei ihrer Abfassung. Am Schluß erörtert Saß die Frage, wie weit Farbbücher als geschichtliche Quellen dienen können und fordert mit Recht größte Vorsicht bei ihrer Benutzung.

Das große und viel beachtete Werk des amerikanischen Historikers Fay über die Ursachen des Weltkrieges ( 820) behandelt in einem zusammenfassenden Kapitel auch die Außenpolitik der Bismarckzeit nach 1871 unter dem Titel »Die Vorherrschaft der östlichen Kaiserreiche«. Die Überschrift zeigt schon die nicht unberechtigte Gesamtauffassung der politischen Situation jener Jahrzehnte. In Einzelheiten, wie etwa in der Beurteilung der Wiedererwerbung Elsaß-Lothringens, wird man dem Verfasser nicht zustimmen können. -- Die Fortsetzung der französischen Übersetzung des deutschen Aktenwerkes zunächst für die Bismarckzeit ( 816a) sei hier nur erwähnt. Die Bände sind auch für den deutschen Forscher ein Hilfsmittel, da sie im Gegensatz zur deutschen Publikation die Akten in der chronologischen Reihenfolge wiedergeben. -- Für das deutsche Aktenwerk hat Schwertfeger ( 819) in einem Zeitkalender eine synchronistische


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Zusammenstellung der Akten gegeben. Seine Dokumentenauswahl ( 818) enthält auch zahlreiche Akten der Bismarckzeit.

Der die zweite Serie der Veröffentlichung der Briefe der Königin Viktoria abschließende und die Jahre 1879 bis 1885 umfassende Band enthält überwiegend Material zu den Problemen der innerenglischen Politik. Deutsche Dinge werden im Gegensatz zu dem früheren Band (vgl. Jberr. 1926, Nr. 1281 und 1282, S. 332) nur gelegentlich behandelt ( 826).

Die Untersuchung von »Italicus« über Italiens Dreibundpolitik ( 821) ist dadurch wertvoll, daß sie mancherlei Material heranzieht, das in Deutschland wenig benutzt und bekannt ist. Vor allem wird nachdrücklich auf die finanzielle und wirtschaftliche Machtstellung Frankreichs in Italien hingewiesen, die von Frankreich als politisches Mittel gegen den Anschluß an die Mittelmächte ausgenutzt wurde. Im besonderen betont der Verfasser die innere Schwäche des italienischen Staates und ihre Rückwirkung auf die Außenpolitik. An dem Gesamtbild, das man sich bisher von der Stellung Italiens im Dreibund machte, ändert die Untersuchung freilich nicht viel, und die außenpolitische Darstellung ist vielfach zu beanstanden.

Der kurze Aufsatz von Manfred Müller über Bismarck und Rußland in den Tagen des Berliner Kongresses ( 825) kritisiert die einseitige Auslegung der Denkwürdigkeiten von Schweinitz durch Lichnowsky. Müller hebt hervor, daß Bismarck in den Tagen des Berliner Kongresses Rußland in keiner Weise reizte und daß Schweinitz nicht, wie Lichnowsky behauptet hatte, Bismarck die Zerstörung des deutsch-russischen Verhältnisses vorgeworfen habe. -- Die aus dem Krasny-Archiv mitgeteilten Berichte der russischen Botschafter Saburow und Orlow über Unterredungen mit Bismarck ( 828) sind für die politische Haltung des Reichskanzlers im Spätsommer 1879 wichtig. Die Memoiren des französischen Diplomaten Gérard ( 831) sind nur für einen kurzen Zeitraum für die deutsche Geschichte von einem gewissen Interesse. Gérard war vom Herbst 1876 bis zum Frühjahr 1880 Vorleser der Kaiserin Augusta; er schildert das deutsche Leben in diesen Jahren und weist unter anderem darauf hin, daß von einem Haß gegen Frankreich damals keine Rede war. Der übrige Teil der Erinnerungen enthält mancherlei Beachtliches für die außenpolitische Entwicklung des Zeitraumes 1880--1914, da Gérard französischer Vertreter an den verschiedensten europäischen Plätzen, Madrid, Bern, Rom, Montenegro, dann Vertreter Frankreichs in Brasilien, China und Japan war. In dem späteren Teil ist die Tendenz ausgesprochen antideutsch. -- Die Erinnerungen über den Zwischenfall Schnaebele, die der damalige französische Ministerpräsident und Innenminister Goblet veröffentlicht ( 843), sind vor allem deshalb interessant, weil sie die Auseinandersetzungen innerhalb der französischen Regierungsstellen über die Behandlung des Zwischenfalls zeigen. Der Ministerpräsident, der den Krieg nicht wollte, und auch von Boulanger behauptet, daß er damals den Krieg nicht wünschte, weil Frankreich mindestens vor einem Jahr militärisch dazu nicht in der Lage sein werde, vertrat an sich die schärfere Tonart, im Gegensatz vor allem zu dem französischen Botschafter in Berlin Herbette und auch dem Präsidenten Grévy, der ihn zu größerer Ruhe ermahnte. Goblet sagt, daß auch Bismarck den Krieg nicht wollte, empfand aber das Vorgehen Bismarcks als eine Brüskierung und Erniedrigung Frankreichs und sah in der Lösung eine diplomatische Niederlage Deutschlands. -- Der Aufsatz von Toutain ( 842) ist ein


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Teildruck aus einem Erinnerungsbuch dieses französischen Diplomaten, ein Bericht über Ereignisse aus dem Jahre 1887, unter anderem über den Besuch des Zaren in Berlin, ohne daß diese Mitteilungen, wie uns scheint, besonders Wichtiges enthalten.

Der Aufsatz von Schwartze ( 835a) behandelt das Problem der innenpolitischen Bindungen der Bismarckschen Außenpolitik und meint, daß für Bismarcks Außenpolitik etwas mitgewirkt habe, was zu dem gegen die Revolution gerichteten System der Heiligen Allianz in Parallele gesetzt werden könne. Uns scheint das zuzutreffen, nur müßte diese wichtige Frage einmal eingehend untersucht werden. -- Die Arbeit von Prösch ( 834) behandelt die großen außen- und kolonialpolitischen Reichstagsreden Bismarcks, ohne daß die sehr eingehenden Analysen der Reden übermäßig ergiebig sind. Daß für Bismarck die außenpolitischen Reden im Parlament »diplomatische Hilfsmittel« waren, ist natürlich richtig, aber nicht neu. Immerhin sind einige Beobachtungen ganz interessant, so etwa über die taktischen Methoden, mit denen sich Bismarck meist selbst die Gelegenheit zu solchen Reden schuf.


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