§ 24. Deutsche Geschichte von 1890 bis 1914.

(H. Herzfeld.)

Wenn schon in den letzten Jahren das Schwergewicht der Forschung über unseren Zeitraum in der Arbeit zur außenpolitischen Entwicklung lag, so ist dies Verhältnis in dem zu behandelnden Berichtsjahre mit ganz besonderer Stärke ausgeprägt. Die Erweiterung unserer quellenmäßigen Kenntnis liegt nahezu auschließlich auf diesem Gebiete, nur ganz vereinzelte Arbeiten beschäftigen sich mit Fragen der inneren Entwicklung Deutschlands. -- Eine Verteidigung Wilhelms II. gegen die Darstellung Emil Ludwigs hat Schmidt-Pauli ( 926) geschrieben. Sie ist bei gutem Willen so dilettantisch in der Naivität, mit der nur günstige Aussagen herangezogen werden, daß das Buch bedeutungslos ist. Auch hier sind nur die Memoiren, nicht die Akten wirklich benutzt, die Kenntnis der sonstigen Literatur ist erschreckend gering. Der Verfasser glaubt nach privaten Informationen ohne nähere Kennzeichnung Angaben über die Gründe machen zu dürfen, die Bülow an Holstein gefesselt hätten. Bei seinem durchgehenden Mangel an Kritik wird jedoch mit seinen Angaben nicht zu rechnen sein. -- E. Kehr ( 854/55) hat in Fortsetzung früherer Studien über die sozialen und innenpolitischen Bedingtheiten des deutschen Flottenbaues den Versuch gemacht, die gleichen Verhältnisse als bestimmend auch für die großen außenpolitischen Entscheidungen Deutschlands um die Jahrhundertwende nachzuweisen. In anregender Weise, geistvoll und konstruktiv, wie schon die frühere Arbeit war, will er in der Miquelschen Sammlungspolitik, die den agrarisch-konservativen und den industriell-liberalen Flügel des deutschen Bürgertums gegen das sozialdemokratische Proletariat vereinigte, die bestimmenden Grundlagen der Bülowschen Außenpolitik finden. Sie hat nach ihm unter dem Druck dieser Konstellation mit der Zollvorlage von 1902 die Front gegen Rußland bezogen, um die Interessen des ersten Koalitionsteilhabers zu befriedigen, während sie im Dienste des zweiten Helfers sich zum Konkurrenzkampf mit England entschloß, der notwendig die Ablehnung der englischen Bündnisanträge um 1900 erzwang. Eine kühne Umkehrung des Prinzipes von Primat der Außenpolitik, die als Versuch, die Gesamtstruktur des deutschen politischen Lebens an dem kritischen Wendepunkt der Vorkriegsgeschichte einheitlich zu erfassen, Beachtung verdient, erweckt diese Konstruktion doch schwerste Bedenken. Sie muß ihrer inneren Logik nach den Grund für die Trennung zwischen Deutschland und England wieder wesentlich auf deutscher Seite suchen. Sie beruht mehr auf konstruktivem Postulat, als auf umfassender Würdigung der tatsächlich erkennbaren Motive, aus denen die Entscheidungen der handelnden


S.223

Personen gefallen sind, und fordert auf jeden Fall starke kritische Abstriche heraus. -- Eine gediegene Abhandlung, Vorstudien zu seinem Bassermannbuch, hat Th. Eschenburg, der Daily-Telegraph-Affaire von 1907 ( 868) gewidmet. Sie prüft, z. T. mit Benutzung unbekannter Quellen wie des Hamannschen Tagebuches, die Hallersche These, daß diese Vorgänge die Ausführung der schon in den 90 er Jahren auftretenden Forderung Holsteins nach zwangsweiser Einschränkung des persönlichen Regimentes Wilhelm II. gewesen sei. E. kommt zu einer überzeugenden Abweisung der Hypothese, daß Holstein Bülow zu zweideutiger Bloßstellung des Kaisers veranlaßt und auch den Pressesturm nach Bekanntwerden des Interviews inszeniert habe. Seine sorgfältige Darstellung der Entstehungsgeschichte der Publikation und von Bülows Verhalten in dem ihr folgenden Konflikt zeigt deutlich, daß nirgends zwingende Ansatzpunkte für eine solche Hypothese gegeben sind, die auch Haller nur mit der vagen Analogie der Holsteinschen Briefe an Eulenburg aus dem Beginn der 90 er Jahre begründen konnte. -- Schließlich ist mit dem Briefwechsel Houston Stewart Chamberlains ( 881) eine inhaltreiche Quelle erschlossen, die wichtige politische Ideen des Vorkriegsjahrzehntes interessant beleuchtet. Aus der Korrespondenz des Verfassers der Grundlagen des 19. Jhds. tritt die persönlich vornehme Selbstlosigkeit dieses Engländers sympathisch hervor, der im Weltkrieg durch seinen Anschluß an die deutsche Sache tragisch schwere innere Konflikte und belastende äußere Reibungen erfuhr. Für den politischen Historiker ist neben dem Einblick in die bis zum Prinzen Max von Baden und Brockdorff- Rantzau reichenden Kreise, die Zeugnis von persönlicher Anregung und Beeinflussung durch Chamberlain ablegen, wichtig die Korrespondenz des Verfassers mit Wilhelm II. Der Kaiser, dessen Beziehungen zu Chamberlain 1901 einsetzen, ist sofort ein enthusiasmierter Bewunderer der Grundlagen gewesen und hat in den ersten Jahren lange briefliche Auseinandersetzungen nicht gescheut. Dann sinkt dieser Briefwechsel freilich von der kaiserlichen Seite zu dem typisch flüchtigen Telegrammstil Wilhelm II. ab und es bleibt ein psychologisches Rätsel, wie Chamberlain bis zum Schluß eine Persönlichkeit stark überschätzen konnte, deren geistige Flüchtigkeit gerade im Unterschied zu seiner eigenen bei leidenschaftlicher Subjektivität doch tief ideellen Art sofort greifbar hervortritt.

Die Literatur zur deutschen Außenpolitik knüpft in ihren wichtigsten Erzeugnissen an den Fortschritt der englischen Aktenpublikation an. F. Meinecke hat in einem schon im Vorjahr besprochenen Aufsatz ( 858, vgl. Jb. 1927, Seite 269) eine Revision seines Buches über die deutsch-englischen Bündnisverhandlungen von 1901 vorgenommen, die die Widersprüche zwischen Eckhardtstein und den englischen Dokumenten recht schonend für den ersteren zu verstehen sucht und an der Möglichkeit einer deutsch-englischen Entente festhält, obwohl auch er die Abneigung Salisburys gegen diese Politik nicht verkennt. -- Von englischer Seite ist mit den Memoiren des Militärattachés in Berlin, W. H. H. Waters ( 860), ein freilich recht bescheidener Quellenbeitrag zu den deutsch-englischen Beziehungen in den Jahren 1900--1903 erschienen. Der Verfasser vermag in der Hauptsache nur Beobachtungen aus der Sphäre des höfischen und militärischen Lebens zu berichten. Er betont den guten Willen Wilhelms II., an dessen Geneigtheit für ein englisches Bündnis er nicht zweifelt, während er seine impulsiv unvorsichtigen Einmischungen in innere Angelegenheiten fremder Länder mit neuen kleinen Beispielen belegt. Da er in die eigentlich


S.224

politische Sphäre offensichtlich nicht eingedrungen ist, kann sein Buch nur zur Kennzeichnung des Stimmungshintergrundes für die Beziehungen beider Länder dienen. In diesen Schranken ist die ganze Urteilsweise eines wohlwollenden englischen Beobachters über deutsche Verhältnisse um 1900 von instruktivem Interesse.

Die englische Aktenpublikation ist zunächst fortgesetzt mit dem 3. Bande ( 852) über die Erprobung der Entente in den Jahren von 1904--1906, der eine überaus große Fülle wichtigen Materiales bringt. Die Fragen der englischen Unterstützung für Frankreich in dem akuten Anfangsstadium der ersten Marokkokrise, des Beginnes der englisch-französischen und englisch-belgischen Militärbesprechungen, die Anfänge der Greyschen Ententepolitik, die Konferenz von Algeciras und die ganze Einstellung Englands nach Abschluß der Krise sind damit in den Bereich quellenmäßiger Erforschbarkeit auch von der englischen Seite her gerückt. Überraschend reich sind besonders die Einblicke, die wir in die grundlegenden Motive der englischen Politik am Abschluß dieser Jahre erhalten. In Aufzeichnungen Greys, Hardinges und der inzwischen berühmt gewordenen Denkschrift Eyre Crowes vom 1. 1. 1907 erscheint ganz generell das Gleichgewichtsmotiv beruhend auf höchster Einschätzung der deutschen Ansprüche und Machtstellung, als Leitgedanke der englischen Politik, aus dem heraus die Ergänzung der französischen Entente durch die russische gefordert wird. Jeder Abweichung von dieser Linie tritt die Sorge entgegen, daß Frankreich und Rußland auf die Bahn der Kontinentalliga gedrängt werden könnten. Als leitende Grundhaltung der englischen Politik erscheint so schon jene Verschmelzung reiner Interessenpolitik mit ängstlicher Sorge vor der Gefahr einer Isolierung, die bis 1914 für Grey und seine Mitarbeiter bestimmend bleiben sollte.

Die Auswertung dieses umfassenden Materiales hat im Berichtsjahre noch kaum begonnen. Die an sich gute Dissertation von Hesse über die Entente Cordiale ( 862) ist noch ohne Kenntnis dieses Bandes geschrieben und daher heute nur noch in den Teilen brauchbar, die die Aufnahme der Entente in der öffentlichen Meinung Deutschlands pressegeschichtlich behandeln. Graf Montgelas hat in der »Kriegsschuldfrage« ( 864) das Problem des von französischer Seite behaupteten englischen Bündnisangebotes vom Sommer 1905 behandelt. Nach dem neuen Material kommt er zu dem Schluß, daß der Ursprung der Delcasséschen Behauptung in einer Unterredung Lansdowne-Cambon vom 19. 5. 1905 liegt, deren Inhalt der französische Botschafter sofort über das Maß der wirklichen Äußerungen Lansdownes zu erweitern suchte. Da Cambon bei der Einleitung der Militärbesprechungen im Januar 1906 sich ebenfalls auf diese Unterredung als Anknüpfungspunkt für die französischen Wünsche beruft, scheint diese Auffassung nach der heutigen Quellenlage berechtigt. Der Widerspruch der französischen Behauptungen und englischen Aussagen bleibt jedoch so stark, daß eine letzte Entscheidung jetzt noch nicht möglich erscheint.

In Zusammenhang mit der Marokkokrise stehen zwei Arbeiten, die sich mit der Entwicklung der deutsch-amerikanischen Beziehung bis 1906 beschäftigen. H. Leusser ( 857) hat das Jahrzehnt von 1897--1906 zu diesem Thema behandelt. In übersichtlicher, in den Hauptlinien von der Kritik anerkannter Darstellung hebt er hervor, daß bei dem Fehlen größerer Reibungsflächen zwischen beiden Staaten zunächst kleinere Episoden wie Manilazwischenfall und


S.225

Venezuelafrage Verstimmungen zwischen beiden Ländern geschaffen haben, während die eigentlich entscheidende Kraft, die sie schließlich trennte, das Übergewicht der englisch-amerikanischen Sprach- und Traditionsverwandtschaft gegen das bewußte deutsche Liebeswerben und der sehr aktive englische Einfluß auf die öffentliche Meinung Amerikas gewesen ist. Leusser sieht in der ersten Marokkokrise den Abschluß dieser Entwicklung, den Augenblick, in dem die Vereinigten Staaten durch die sehr persönliche Politik Roosevelts zuerst in unverschleierten Gegensatz zu Deutschland traten. -- Diese Wendung hat A. Hasenclever in einer eingehenden Abhandlung über Roosevelt und die Marokkokrise ( 863) untersucht, die in der umfassenden Heranziehung der amerikanischen Literatur noch ein ganz Teil über Leusser hinausgelangt ist. Die grundlegenden Linien sind jedoch bei beiden Verfassern gleich und ebenso die scharfe Kritik an der deutschen Amerikapolitik, die, ein Gemisch von Vertrauensseligkeit und wenig imponierendem Liebeswerben, freilich dadurch erschwert wurde, daß die Berichterstattung des Botschafters Speck von Sternburg keinen Einblick in die wahre Stellung Roosevelts gewährte, der über die Einheitlichkeit der deutschen Politik und die Persönlichkeit des Kaisers höchst skeptisch und abfällig urteilte. Die amerikanische Haltung in Algeciras wurde so zu einer peinlichen Überraschung für die deutsche Politik, die nicht entfernt damit gerechnet hatte, daß der Präsident in allen Hauptpunkten die Ententemächte unterstützen würde.

Der Versuch einer psychologischen Biographie Eduards VII., den W. H. Edwards ( 853) vorgelegt hat, will auf den Spuren E. Ludwigs gehen und leidet an den Mängeln, die dessen Arbeiten aufweisen, ohne bei beträchtlicher Gewandtheit an spezifischem Schriftstellertalent seine Ebene zu erreichen. Genießbar sind höchstens die freilich ebenfalls übertreibenden Abschnitte, die aus den Methoden der Erziehung Eduard VII. die Tragik seiner Jugend begründen. Alle Anläufe, die Biographie auf das Gebiet der politischen Geschichte weiter zu führen, scheitern an grob dilettantischer Ungenügendheit des Studiums. Nicht einmal das Material des großen Werkes von Lee ist ausgeschöpft. Um das Ideal des konstitutionellen Friedensfürsten nicht zu gefährden, werden Mitspieler und Gegenspieler erbarmungslos herabgedrückt. Wilhelm II. muß Belastungen auf sich nehmen, die in schreiendem Widerspruch zu den Quellen stehen. Selbst die Tangerfahrt wird seinem Drang, sich selbst zur Schau zu stellen, zugeschrieben. Grey erscheint neben dem König, der als Friedensfürst noch Realpolitiker geblieben wäre, als nervenschwach, Haldane ebenso vereinfachend als »großer Friedenspolitiker«. Deutschland soll seit 1907 Haupthindernis der russischen Meerengenwünsche gewesen sein. Das ganze Buch ist typisch für die leichtfertige Art, mit der heute vielfach versucht wird, die Geschichte zu literarisieren. -- Geteilte Empfindungen erweckt auch ein englischer Versuch von Caroline E. Playne ( 869), den geistigen Zustand Englands vor dem Weltkrieg zu charakterisieren. Das Buch setzt frühere Versuche an anderen Nationen fort, die europäische Krise vor 1914 als eine große Gesamterkrankung der modernen Welt unter dem medizinischen Bild der Neurose zu begreifen. Die Verfasserin gelangt damit nur zu primitiver Unterstreichung der Rastlosigkeit der modernen Welt, die innerlich haltlos, expansiv und angsterfüllt zugleich, in eine große Katastrophe hineingetaumelt sei. Die Einzeldurchführung dieses Themas schlägt aber interessante Brücken zwischen englischem Geistesleben


S.226

und englischer Politik und bringt wertvolle Beiträge auch zur Charakteristik des englischen Imperialismus. Beachtenswert ist eine eingehende Analyse Edward Greys, die ihn als typischen Engländer zu verstehen sucht und den Ergebnissen der Charakteristik von H. Lutz recht nahe kommt. Als ein Buch, das mannigfaches Material zur Geschichte des englischen Geistes und der öffentlichen Meinung Englands in dem Jahrzehnt vor 1914 enthält, ist das Werk trotz seiner unglücklichen grundlegenden Einstellung doch beachtenswert.

Von den verschiedensten Seiten her ist unsere Quellenkenntnis der europäischen Entwicklung seit der Annexionskrise von 1908/09 erweitert. Wieder steht an erster Stelle die englische Aktenpublikation ( 852) mit ihrem 5. Bande, der das Material über die Fragen des nahen Ostens von 1903--1909 enthält. Er berücksichtigt sehr eingehend die Entwicklung der türkischen Frage (mazedonische Reform) bis zum Sturze Abdul Hamids, streift mit dem Material über die Revaler Begegnung von 1908, die einem anderen Bande vorbehaltenen Anfänge der russisch-englischen Entente und behandelt in der ganzen zweiten Hälfte dann die Annexionskrise. Hinter der Hartnäckigkeit, mit der Grey dem Vorgehen Österreichs entgegentrat, taucht auch hier wieder das Motiv der Gleichgewichtspolitik um so bestimmender auf, als der deutsche Friedenswunsch im Kern nicht bezweifelt wird. Die Haltung Englands ist, sobald die Schwierigkeit der Iswolskischen Meerengenwünsche durch russische Kapitulation beseitigt war, bestimmt durch den Gesichtspunkt, die russische Politik so weit -- bis in die Förderung der serbischen Kompensationsansprüche gegen Österreich -- zu fördern, als Rußland selbst sich die Kraft zur Durchsetzung seiner Ziele zutraute. Ebenso wie gleichzeitig gegen Frankreich in der Casablancakrise wird freilich von englischer Seite der Wunsch vertreten, eine kriegerische Entladung möglichst zu vermeiden. Rußlands Nachgiebigkeit gegen die Kiderlensche Aktion vom 21. März 1909 ist jedoch als unerwartete, tief verletzende Demütigung empfunden worden und hat zu sehr charakteristischer Abwägung der Gesamtlage geführt. Nicolson, der in Petersburg den russischen Zusammenbruch am greifbarsten vor Augen hatte, glaubte, nur durch Umwandlung der Entente in ein Bündnis Rußland noch fesseln zu können, weil er den Ersatz Iswolskis durch konservative, zu Deutschland neigende Kreise ernsthaft befürchtete. Auch Hardinge zog aus dem diesmaligen Übergewicht des deutschösterreichischen Blockes gegen den russischen Verbündeten die Folgerung, daß England die Erhaltung des europäischen Gleichgewichtes durch Eingehen auf russische Bündnissondierungen unter Umständen nicht zu teuer bezahlen würde. Eine wirkliche Verständigung mit Deutschland hielt er für unerreichbar. Grey sträubte sich gegen den weitgehenden Pessimismus seiner Ratgeber und hielt die Umwandlung der Entente in eine Allianz mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung Englands für zur Zeit unerreichbar. Aber auch er will die Politik der Ententen festhalten und weiter entwickeln, um dem deutschen Einfluß in Zukunft ein wirksameres Gegengewicht bieten zu können. Das klare Ergebnis der Krise ist so eine entschiedene Verhärtung der europäischen Lage, die sichtlich die Zurückhaltung Englands gegen die deutschen Ausgleichsversuche von 1909 mit bestimmt hat. Der Schluß des Bandes bringt ein Memorandum von Hardinge über die Ischler Begegnung im August 1909, nach dem Hardinge dort versucht hat, Aehrenthal gegen die deutsche Flottenpolitik mobil zu machen. Leider fehlen Aufzeichnungen über die Unterredungen, die König Eduard 1907


S.227

und 1908 in Ischl geführt hat. Soviel ergibt sich aber schon aus diesem Memorandum, daß die österreichische These von einem englischen Versuch, Spannungen zwischen Österreich und Deutschland zu erregen, nicht grundlos gewesen ist.

Neben die englische Publikation tritt die Neuausgabe des Siebertschen Briefwechsels ( 864 a), die durch Einführung der chronologischen Anordnung wesentlich an Brauchbarkeit gewonnen hat. Eine große Anzahl von Aktenstücken ( 359, vgl. N. H. Cochran in »Kriegsschuldfrage« VII, S. 905 f.) ist neu hinzugekommen. Sie verändern die großen Linien der russischen und der Ententepolitik nicht, da die einschneidende Bedeutung des früheren Materiales weder erreicht noch gar übertroffen wird. Überwiegend bezieht sich das neue Material auf periphere Fragen wie russische China- und Persienpolitik. Als große geschlossene Masse ist eingehendes Berichtmaterial über die Londoner Konferenz von 1912/13 hinzugekommen. Da überall kleinere Ergänzungen vorliegen, ist für die Zukunft nur diese Ausgabe der wissenschaftlichen Benutzung zugrunde zu legen. Gegen die frühere Auflage fortgelassen sind nach der erwähnten Statistik von Cochran nur Aktenstücke, die in den Stieveschen Iswolski-Ausgaben in deutscher Übersetzung vorliegen.

Als Ersatz für die von Serbien noch immer noch nicht zugelassene Öffnung der serbischen Archive hat M. Boghitschewitsch eine zweibändige Aktenpublikation über Serbiens Politik von 1903 bis 1914 ( 861) vorgelegt. Ihr zweiter Band ist in der Hauptsache eine Zusammenstellung von Material der deutschen Aktenpublikation, Siebert, Stieve, Livre Noir usw. über das behandelte Thema. Von praktischem Wert ist in ihm die Wiedergabe der russischen Akten über die Balkanpolitik, die, dem Krasny Archiv entnommen, in Übersetzung entweder nur verstreut oder lückenhaft vorliegen. Vereinzelt findet sich hier auch ganz neues Material, so Auszüge aus den Protokollen der russischen Gesandtschaft in Belgrad, deren stichwortartige Inhaltsangaben einen gewissen Einblick in die gesamte Berichterstattung Hartwigs gewähren. Außerordentlich wertvoll ist dagegen der erste Band, weil die hier von dem Herausgeber vorgelegten Akten sehr viel umfassender als seine frühere Publikation über die »Kriegsursachen« sind. Die Verbindungen Serbiens nicht nur mit Rußland, sondern ebenso mit England, Frankreich und Italien sind dadurch in einer Weise beleuchtet, die einen wesentlichen Beitrag zu unserer Kenntnis der Kriegsentstehung bildet. Das Maß der Ermutigung, das die serbischen Ansprüche von all diesen Seiten seit 1908 erfahren haben, ist sehr viel größer, als man bisher annehmen und nachweisen konnte. Rußland erscheint damit als Förderer Serbiens nicht mehr isoliert, wenn auch seine Rolle, so bei der Entstehung des Balkanbundes, in vorderster Linie bleibt. Die neue Publikation von Boghitschewitsch wird daher unter diejenigen Publikationen aus privater Initiative einzureihen sein, die wie Siebert, Livre Noir und Stieve als sehr wesentliche Förderung unserer Kenntnisse anzusehen sind.

Neben diesen Aktenpublikationen erweitert eine Reihe wertvoller Memoiren unser Wissen über die Ostprobleme der europäischen Vorkriegspolitik. Aus österreichischem Lager stammen die wichtigen Aufzeichnungen von I. M. Baerenreither ( 877). Sie stellen nur Bruchteile umfassender Tagebücher und Niederschriften dar, aus denen wegen ihrer historischen Bedeutung zunächst die Abschnitte über die südslawische Frage zur Veröffentlichung gelangten. Baerenreither


S.228

hat ihnen als deutsch-böhmischer Politiker, der sich lange um den Ausgleich zwischen Deutschen und Tschechen bemühte, besonders nahe gestanden. Der Serbenpolitik Österreichs steht er sehr kritisch gegenüber. Schon seit 1892 sieht er ein Versagen der bosnisch-herzegowinischen Verwaltung voraus und seit 1903 hat er sich hartnäckig, wohl nicht ganz ohne Unterschätzung der serbischen Aggressivität, aber mit berechtigter Kritik an der ungarischen Wirtschafts- und Nationenpolitik darum bemüht, eine Verständigung mit Serbien herbeizuführen, ohne die ihm die südslawische Frage überhaupt unlösbar erschien. Er hat nicht so sehr mit einem Trialismus gerechnet, dessen Voraussetzung die Unterwerfung Serbiens und seine sehr problematische Einfügung in den österreichischen Staatsverband gewesen wäre, als eine praktische Beseititigung der Differenzpunkte durch gegenseitiges Entgegenkommen empfohlen. So kann er über eine serbische Sondierung im Jahre 1909 und von einem ihm selbst freilich nach seiner Bedeutung zweifelhaften Fühler Pasitsch' noch im Dezember 1912 aus bester persönlicher Kenntnis berichten. Die Frage, ob der von ihm gewünschte Weg wirklich gangbar war, muß zweifelhaft erscheinen, aber als selbständige Beleuchtung des Problems durch einen von der amtlichen Politik Österreichs unabhängigen kritischen Kenner der Frage besitzt das Buch großen Wert.

Ebenso bedeutsam sind die Erinnerungen, die der Schüler und Erbe des großen russischen Völkerrechtslehrers Martens, Freiherr von Taube ( 865), hat erscheinen lassen. Taube hat als Mitarbeiter des russischen Außenministeriums die Diplomatie Iswolskis und die Anfänge Sasonows aus nächster Nähe beobachten können. Einzelne Abschnitte dieser Erinnerungen (Doggerbank- Affäre, deutsch-russische Beziehungen 1908) sind schon früher im Teildruck der Revue des Deux Mondes erschienen und gewürdigt worden. Taube gehörte zu Kreisen, die die Erhaltung des Friedens als unbedingt durch Rußlands innere Krise geboten ansahen. Dadurch ist er in wachsenden Gegensatz zu Sasonow getreten, als dessen Amtsführung immer mehr in die Bahnen seines Vorgängers Iswolski einlenkte. Auch nachdem er infolgedessen in das Unterrichtsministerium als Ministergehilfe hinübergetreten war, konnte der Verfasser weiter über beste Informationsquellen verfügen. Er gibt so gute und selbständige Charakteristiken der beiden russischen Vorkriegsminister, in denen auch Sasonow sehr schlecht abschneidet. Außerdem gewährt er für den Vorabend des Weltkrieges Einblick in das scharfe Ringen kriegerischer und friedlicher Tendenzen, die in Rußland um die Person des Zaren rangen. Er zeigt, daß konservativ-friedliche Kreise seit Beginn des Jahres 1914 mit voller Selbstverständlichkeit den Ausbruch des Krieges von der Politik Sasonows erwarteten und die Lage mit der Episode der chauvinistischen Abenteurer- und Geschäftspolitik vor dem russisch-japanischen Kriege gleichsetzten. Taube selbst hat in einem historischen Vortrag vor der geschichtlichen Gesellschaft in Petersburg vergeblich versucht, dem hilflosen Zaren die Augen über die wirkliche Gefahr der Stunde zu öffnen. Er ist ein wichtiger Zeuge für die wachsende Zuspitzung der russischen Politik auf den Weltkrieg hin, nach dem trotz aller Entlastungsversuche -- Sasonow 1914 ganz auf dem Standpunkte der chauvinistischen Militärkreise gestanden hat.

Weniger bedeutsam als diese beide Memoirenbücher sind die Diplomatenerinnerungen A. de Bosdaris ( 878), der 1908 italienischer Geschäftsträger in London war, 1909/10 als Generalkonsul nach Budapest kam und dann Balkanposten


S.229

in Sofia und Athen bekleidet hat. Nüchtern und vorsichtig gibt er begrenzte Beiträge zur diplomatischen Geschichte von 1908--1914. Das Schwergewicht seines Buches liegt auf den griechischen Kriegserinnerungen von 1914 bis 1917, in denen ihn der Gegensatz der französischen und italienischen Politik zu einem Beobachter machte, dessen Aussagen eine vernichtende Kritik an den brutalen und rohen Methoden bei der beispiellos zynischen Vergewaltigung des kleinen Staates durch Frankreich enthalten.

In der darstellenden Literatur sind zwei Versuche zur Behandlung der Annexionskrise zu verzeichnen. Das Buch Frankenfelds ( 866) will eine Kritik der deutschen Nibelungentreue gegen Österreich geben, die weniger streng historische Forschung bieten soll, als dem Leben zu dienen gedenkt. So sicher die deutsche Politik von 1908/09 der Kritik ausgesetzt ist, so sehr hat hier der zweite Wunsch verhindert, daß das Minimum an den Forderungen historischer Kritik erfüllt wurde. Frankenfeld verdammt die Methoden der alten Bündnispolitik, hat aber versäumt, sich historisch genügend in ihr Spiel hineinzuarbeiten. So tritt ganz einseitig Aehrenthal als Angreifer auf, seine Politik wird im Grunde als Husarenstreich leichtsinnigen Kraftgefühls behandelt. Dagegen erscheint Iswolskis Kampf gegen die österreichische Annexion eigentlich nur als Defensive, weil ihre Verflechtung mit seinen Meerengenwünschen nur ganz ungenügend analysiert ist. Das Buch beschränkt sich fast völlig auf das Ringen zwischen Deutschland, Österreich und Rußland. Die europäische Gesamtlage, die zum historischen Verständnis der deutschen Haltung unentbehrlich ist, wenn sie auch nicht zur einfachen Billigung der deutschen Politik zu führen braucht, fehlt. Es ist schließlich nichtssagend, wenn die englischen Beziehungen zu Rußland und Frankreich als »lose Ententen«, nicht Bündnisse bezeichnet werden, ohne ihre wirkliche Festigkeit quellenmäßig positiv zu prüfen. -- Ebenso einseitig und tendenziös ist der Aufsatz von I. Ancel ( 867) über das gleiche Thema in der Revue Historique. Für den französischen Verfasser ist in schärfsten Widerspruch zu den Quellen Deutschland durchweg der Inspirator der österreichischen Politik; erhebt er doch sogar den Vorwurf, daß Deutschland die Meerengenwünsche Iswolskis zum Scheitern gebracht habe. Unter solchen Voraussetzungen kann er zu dem Schlusse kommen, daß die Annexionskrise für die deutsche Politik bewußte Vorprobe zu der Julikrise von 1914 gewesen sei, wo Deutschland ebenfalls eine Balkanfrage zum Ausgangspunkt seiner Aktion gemacht habe, weil es bei dieser Lage auf englische Neutralität gehofft habe.

Im Anschluß an seine frühere Studie über die Mission Haldane hat É. Bourgeois ( 873) das Problem der deutsch-englischen Beziehungen Ende 1912 auf Grund der deutschen Aktenpublikation behandelt. Er benutzt isolierend das Material zur Entstehungsgeschichte der Heeresvorlage von 1913, um in dieser Heeresverstärkung den Beweis für deutschen Imperialismus zu finden. Dem stellt er die Warnung gegenüber, die Grey Dezember 1912 durch Haldane hat erteilen lassen, daß England bei einem deutschen Angriffskrieg gegen seine Ententegenossen nicht neutral bleiben könne, und behandelt eingehend den Eindruck, den sie in Deutschland gemacht hat. Er wirft dieser englischen Politik vor, daß ihre Hoffnung auf Erhaltung des friedlichen Gleichgewichtes zwischen den beiden Koalitionslagern eine Illusion gewesen sei, die die deutsche Friedensliebe überschätzt hätte. -- Sind hier nur alte französische Thesen unter


S.230

sehr anfechtbarer Benutzung der deutschen Akten erneuert, so zeigt Seton- Watsons Abhandlung über die Balkanpolitik Wilhelms II. ( 871) eine gewisse Abmilderung früherer Anklagen. Zwar hält er fest, daß der Kaiser seit Herbst 1913 zu bedingungsloser Unterstützung Österreichs bereit gewesen sei. Aber er bringt aus österreichischen Akten neue Aufzeichnungen, die eine von Berchthold selbst, die zweite vom österreichischen Geschäftsträger in München, über Unterredungen mit Wilhelm II. vom Oktober und Dezember 1913, in denen der Kaiser sehr stark für eine spätere Aussöhnung Österreichs mit dem lebenskräftigen Serbien eingetreten ist, wenn er auch bezweifelt hat, daß die Zukunft des Balkans endgültig ohne Schwertstreich geklärt werden könnte. Seton-Watsons muß sich daher auf den Vorwurf beschränken, daß Deutschland bei der an sich gewünschten Behebung des österreichisch-serbischen Gegensatzes seinem Bundesgenossen zu Methoden geraten hätte, die höchst bedrohlich für die Erhaltung des Friedens, daß insbesondere die persönliche Politik Wilhelms II. in ihrer unberechenbaren Sprunghaftigkeit höchst bedenklich gewesen sei.

Von belgischer Seite hat Baron Beyens in der Revue des deux Mondes ausführliche Erinnerungen über seine Berliner Gesandtenzeit von 1912 bis 1914 ( 876) zu veröffentlichen begonnen. Sie zeigen, daß er die Anklagen seines Kriegsbuches von 1915 mit dem wirklichen Bestand seiner diplomatischen Erinnerungen nicht mehr recht vereinigen kann. Muß er doch für die Zeit des ersten Balkankrieges Wilhelm II. und Kiderlen das Zeugnis leidenschaftlichen Friedenswunsches ausstellen. Auch die Schilderung Berliner Vorkriegslebens bleibt bei dem ungelösten Rätsel seines friedlichen Charakters im Kontrast zu der angeblichen deutschen Barbarei von 1914 stehen. Der konkrete Inhalt der Aufsätze ist bescheiden und bleibt erheblich hinter dem Maße zurück, das wertvollere Memoiren zur Ergänzung diplomatischen Aktenmateriales beitragen können. Bis auf einige Unterredungen mit Kiderlen, der sich z. B. im Herbst 1912 durch die bulgarischen Siege völlig überrascht zeigt, bleibt die Beobachtung Beyens fast ganz auf den Bereich der öffentlichen Meinung Deutschlands beschränkt. Wenn die belgischen Akten sonst Bedeutung als neutraler Kommentar zur Politik der großen Mächte besitzen, so ist auch dieses Interesse hier geschwächt, weil der Verfasser sichtlich bemüht ist, allzu starke Gegensätze zu seinem eigenen früheren Auftreten und der üblichen Auffassung im Ententelager zu vermeiden. -- Ganz aus den Gedankengängen der Kriegsschuldanklage in ihrer stärksten französischen Gestalt heraus sind die Erinnerungen des französischen Gesandten in Brüssel seit 1911 geschrieben. Auch Klobukowski ( 875) gibt zwar eigene Berichte von Mai und Juli 1914 wieder, in denen er noch ganz von der Friedlichkeit der deutschen Politik überzeugt war, aber er behandelt eingehend die angebliche deutsche Propaganda in Belgien und die Geschichte des belgischen Heeresgesetzes von 1913, um den Kontrast zwischen deutschen Angriffsplänen und der friedlichen Ahnungslosigkeit Belgiens zu unterstreichen. Wertvoll ist die Erzählung über die ersten Kriegsmonate, in denen Klobukowski als Verbindungsmann auch zwischen französischer Heeresleitung und Belgien eine wichtige Rolle spielte. Sie bringt Angaben, nach denen Frankreich sogar am Vorabend der Marneschlacht die Absicht ausgesprochen hat, Preußen zum Kleinstaat im Umfange des alten Kurfürstentums Brandenburg herabzudrücken, was König Albert doch die skeptische Antwort entlockte,


S.231

Deutschland werde auch geschlagen noch ein starkes Volk bleiben. Die Erinnerungen sind bis 1918 fortgesetzt, ohne nach 1914 noch höheren Wert zu besitzen.


Diese Seite ist Bestandteil des Informationsangebots "Jahresberichte für deutsche Geschichte" aus der Zwischenkriegszeit (1925-1938)