1. Kriegsschuldfrage und Kriegsausbruch.

Die Reihe der großen amerikanischen Arbeiten zur Entstehung des Weltkrieges hat mit Sidney B. Fays Werk über die Ursprünge des Weltkrieges ( 893) einen von der deutschen Kritik allgemein anerkannten Höhepunkt erreicht. Mit strengster Objektivität geschrieben, zeichnet sich Fays Buch dadurch aus, daß die Entwicklung seit 1871 wirklich in historischem Fluß gesehen ist und einheitlich um den Gedanken gruppiert wird, daß die tiefste Wurzel der Katastrophe in der Verflechtung des europäischen Bündnissystemes zu suchen ist. Es bleiben Punkte, an denen Bedenken entstehen. Auch bei Fay wird die österreichische Politik sehr hart beurteilt, obwohl er die ganze Aggressivität Serbiens voll erkennt und nach dem Material der letzten Jahre zur Darstellung bringt. Die Politik Poincarés wird als Bünd- nispolitik ihrem Wesen nach in eine so kaum zutreffende volle Parallele zur deutschen Bündnishilfe für Österreich gesetzt, die die Härte seines den allgemeinen Krieg seit 1912 nicht scheuenden Machtwillens zu gering bewertet. Auch die Auffassung Greys ist zu stark von seinen Memoiren, zu wenig von der realistisch nüchternen Sprache der englischen Akten bestimmt. Aber es handelt sich bei diesen Einwänden um diskutierbare Nuancierungen, das Ganze ist unleugbar die bisher bedeutsamste Zusammenfassung der Forschung über die Kriegsentstehung. Es ist um so wichtiger, daß auch Fay zu der nüchternen Schlußfeststellung kommt, daß der Schuldspruch von Versailles als unzutreffend erwiesen sei und darum revidiert werden sollte.

Neben Fay hat H. E. Barnes seinen temperamentvollen Kampf gegen die Versailler Anklage in einem neuen Buche ( 892) fortgesetzt, das zunächst eine volkstümlich knappe, inhaltlich eher noch verschärfte Zusammenfassung seiner bekannten Ansichten gibt. Er verficht hier die Notwendigkeit, auch das bisherige Urteil über Österreich abzumildern. Der 2. Teil schildert das Ringen um die Schuldfrage in Amerika an Hand der zahlreichen polemischen Kämpfe des Verf. und gibt einen guten Einblick in die zum größeren Teil noch sehr zurückhaltende Einstellung der amerikanischen Wissenschaft gegen den Revisionismus. Auch ein besonderer Aufsatz von Barnes in der »Kriegsschuldfrage« ( 895) prüft die heutige Lage des Revisionismus in Amerika und stellt fest, daß trotz des allmählichen Fortschrittes seines ursprünglich verschwindend kleinen Anhängerkreises der entschiedene Revisionismus heute noch ein relativ kleines Lager darstellt.

Das große Werk Lumbrosos ( 890) ist im Berichtsjahr mit einem zweiten Bande zum Abschluß gekommen, vor dem die Kritik sich wieder in der gleichen schwierigen Lage, wie vor seinem Vorgänger befindet. Der Band wendet sich der Kernthese des Verfassers zu, indem er die Entwicklung des englischen Imperialismus von den Anfängen des 19. Jhds. bis 1914 behandelt. Wieder schaffen ausgedehnte Belesenheit, geistreiche Problemstellung, enge Durchdringung gegenwärtiger Fragen der italienischen Politik mit der Vergangenheit ein Ganzes,


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das im hohen Grade anziehend ist, aber auch nicht ohne konstruierende Gewaltsamkeit auskommt. Vor allem ist der Teil, der die engere Vorgeschichte des Weltkrieges behandelt, noch nicht auf die englischen Akten aufgebaut, und daher zunächst nur vorbereitende Arbeit für die eigene These Lumbrosos, daß die englische Interessenpolitik in erster Linie für die Teilung des Kontinentes und den Ausbruch des Weltkrieges verantwortlich zu machen sei.

Eine ausgeprägte Sonderstellung innerhalb der Kriegsschuldliteratur nimmt das Buch Wegerers über die Widerlegung der Versailler Kriegsschuldthese ( 887) ein. Es beschränkt sich ausdrücklich auf die streng technische Widerlegung der Versailler Thesen, wie sie im Rapport vom 29. 3. 1919, dem Friedensvertrag und dem Ultimatum vom 16. Juni 1919 mit Mantelnote enthalten sind. Die Einzelwiderlegung der dort erhobenen Vorwürfe ist nach dem ganzen Ergebnis der bisherigen Forschung aus einer umfassenden Summe persönlichen Wissens durchgeführt, ohne die Grenze einer solchen Arbeit gegen eigentlich geschichtliche Darstellung zu verkennen. Ein beachtenswertes Stück wissenschaftlicher Kritik ist die Untersuchung, auf welchen Quellen der für die Schuldanklage grundlegende Rapport aufgebaut ist. In der Begrenzung auf die Schuldanklage in ihrer ursprünglichen und engsten Form zeigt das Buch, wie vollständig heute die eigentliche Schuldthese des Versailler Friedens zersetzt ist. -- Literarisch sehr viel anspruchsvoller tritt das Buch auf, das Eugen Fischer ( 899) über die Julikrise geschrieben hat. Leider ist es in seinen beiden Grundthesen unhaltbar. Die Auffassung, daß Österreich aus dem Attentat von Sarajewo nicht das Recht zur kriegerischen Auseinandersetzung mit Serbien hätte ziehen dürfen, verkennt die Schärfe der serbischen Bedrohung, wie schon der schiefe Vergleich zeigt, daß Österreich selbst in der Zeit des ihm freundlichen Königs Milan bei einem serbischen Attentat auf Kaiser Franz Joseph nicht Anlaß zum Kriege genommen haben würde. Auch der nicht ohne Schwankungen durchgeführte Versuch, die Bethmannsche Politik in dem Sinne auszudeuten, daß sie nach dem Bülowschen Muster von 1908/09 aktiv daran gedacht habe, durch Unterstützung des österreichischen Vorgehens gegen Serbien den Kreis der Ententen zu sprengen oder zu lockern, ist von Grund auf unglücklich und legt die Akzente an falsche Stellen. Ebenso zweifelhaft erscheint die Darstellung der französischen Politik, deren Hilfsversprechen an Rußland auch hier auf eine Linie mit der deutschen Unterstützung Österreichs gestellt wird.

Aus der ausgedehnten neutralen Diskussion der Kriegsschuldfrage ist der Sammelband zu erwähnen, den die Neutrale Kommission Norwegens ( 897) über die Schuld am Weltkriege herausgegeben hat. Holländer, Schweizer, Finnländer, Schweden und Norweger kommen übereinstimmend zu dem Schluß, daß die Schuldanklage wesentliche Voraussetzung des Versailler Vertrages ist, und daß sie mit dem heutigen Ergebnis der Forschung nicht mehr übereinstimmt. Von den Einzelgutachten erweitert sich das des Norwegers H. H. Aall zu einer kleinen Sonderschrift über die Kriegsentstehung, die ihrer Richtung nach der Lumbrososchen These von der entscheidenden Verantwortung der englischen Gleichgewichtspolitik am Ursprunge des Weltkrieges sehr nahe steht. Wie Lumbroso ist auch er methodisch freilich nicht immer einwandfrei. -- Zwischen Amerikanern, Österreichern und Deutschen hat in der Current History eine Diskussion ( 896) über die Frage stattgefunden, ob Deutschland im Jahre 1914 Österreich angestachelt habe. Barnes hat hier das Ergebnis von Unterredungen


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mit österreichischen Staatsmännern des Jahres 1914 niedergelegt, das die gestellte Frage verneint und ihn selbst zu günstigerer Beurteilung Österreichs veranlaßt hat.

In der deutschen Einzelforschung zur Julikrise steht voran die eingehende und sorgfältige Untersuchung K. Jagows über den Potsdamer Kronrat ( 901). Sie ergänzt Fays kritische Vernichtung dieser Legende durch Heranziehung der Tagebücher der kaiserlichen Flügeladjutanten und des Hoffuriers. In einem 2. Teil hat er eingehend die Entstehung der Legende seit August 1914 untersucht. Ihre verschiedenen Versionen bis zu dem endgültigen Roman Morgenthaus werden in allen einzelnen Stufen klargelegt. Das Endergebnis ist die Wahrscheinlichkeit, daß Wangenheims Mitteilungen an Morgenthau und Garroni ihrerseits an wertlose Berliner Gerüchte anknüpfen und im Höhepunkt der deutschen Siege Ende August 1914 wohl prahlerisch die Zielbewußtheit der deutschen Politik demonstrieren wollten. -- In der »Kriegsschuldfrage« hat sich V. Bredt ( 941) rein formal völkerrechtlich mit der Frage beschäftigt, welchen Einfluß die Bündnisverträge der europäischen Staaten beim Ausbruch des Weltkrieges geübt haben. Er legt freilich für Deutschland und Österreich nur den Dreibund, nicht den Zweibund von 1879 zugrunde und kommt durch das Vorherrschen des formalen Gesichtspunktes zu dem Ergebnis, daß bei England vertragliche Bindungen gar keine Rolle gespielt hätten, weil er die Marine- und Militärkonventionen völlig von der Betrachtung ausschließt. Eine knappe, aber gedrängte Ergänzung und Berichtigung dieser Mängel, die vor allem betont, daß realpolitisch die Koalitionsbindungen die Haltung aller Mächte tatsächlich entschieden, hat an der gleichen Stelle Graf Montgelas ( 900) gegeben. -- Derselbe Verf. ( 902) hat in einer kritischen Studie die hartnäckig wurzelnde Legende widerlegt, daß Tschirschky in der Julikrise durch die kaiserlichen Randbemerkungen vom 4. Juli zur Änderung seiner bisher mäßigenden Einwirkung auf die österreichische Politik bewogen sei, während seine Schwenkung tatsächlich auf die Instruktionen Bethmanns und dessen Zusagen vom 5. Juli zurückging. Von den kaiserlichen Randbemerkungen hat der Botschafter wahrscheinlich gar keine Kenntnis erhalten. -- Eine brauchbare Dissertation von K. Schön ( 903) hat die Haltung des Vorwärts vom Mord in Sarajewo bis zur Marneschlacht zum Gegenstand gehabt. Der dem Referenten vorliegende Teildruck führt nur bis zum 2. August. Er hebt hervor, daß die Zeitung die Krise im Grunde bis zum österreichischen Ultimatum an Serbien nicht recht ernst genommen hat, weil die Sozialdemokratie trotz schärfster Spannung mit der Regierung gerade im Frühjahr 1914 auf den Friedenswillen Bethmanns mit Bestimmtheit vertraute. Nach dem österreichischen Ultimatum überwiegt ein Protest gegen den drohenden Krieg, dessen Schärfe ganz gegen deutsche und österreichische Regierung gerichtet ist. Bei dem ersten und einzigen Versuch (28. 7.), sich die internationale Lage wirklich klar zu machen, taucht sofort beherrschend die Frage auf, wie die Partei im Sinne der Lehren von Marx und Engels sich beim Ausbruch eines Krieges mit Rußland verhalten solle. Der Lieblingswunsch, gemeinsam mit Frankreich eine Verständigung zu erzielen, ließ es aber nicht zu einer Entwicklung dieses Problemansatzes kommen, so daß der Vorwärts der schließlichen Katastrophe im Grunde ebenso unvorbereitet wie der Parteivorstand gegenüber stand.

Zum serbischen Problem ist zu verzeichnen, daß eine französische Untersuchung


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von C. Santoro in der Évolution ( 904) die deutschen Ergebnisse über die Verantwortlichkeit der serbischen Regierung -- vorheriges Wissen von dem Attentat, Passivität gegen seine Durchführung und später vergebliche Vertuschungs- und Leugnungsversuche -- vollkommen angenommen hat. --Wiesner hat das serbische Memorandum von 1919 über die Kriegsschuld der Mittelmächte ( 905) eingehend kritisiert, dessen Bedeutung darin beruht, daß es eine wesentliche Grundlage des Versailler Rapports gebildet hat.

Die Memoiren Sasonows, die im Vorjahre durch Stieve und Montgelas eine vernichtende Kritik erfuhren, haben ein ebenfalls polemisches Gegenstück erhalten in einem Buch, in dem Eduard von Steinitz ( 906) die Stellungnahme österreichischer und deutscher Diplomaten zu ihm veröffentlicht. Berchthold, Baron Macchio und andere heben den defensiven Charakter der österreichischen Balkanpolitik hervor. F. Wiesner hat einen anziehenden Bericht über die Entstehung seines bekannten Berichtes aus Sarajewo beigesteuert. Der jetzige deutsche Gesandte im Haag, v. Luzius, ergänzt die deutschen Akten über die Liman von Sandersaffäre aus persönlichen Erinnerungen über seine Verhandlungen mit dem grenzenlos nervös erregten Sasonow und dem ruhigeren Kokowtzew. -- Zur Frage der russischen Mobilmachung liegen zwei Aufsätze ( 908) vor. Bredt schildert die allmähliche Erweiterung des russischen Quellenmateriales und untersucht die Frage, ob Nikolaus II. in seinem Telegrammwechsel mit Wilhelm II. persönliche Loyalität gewahrt hätte. G. Roloff prüft die wichtige Frage, wie die Politik Sasonows prinzipiell zu den Fragen von Mobilmachung und Krieg gestanden habe. Er kommt zur Antwort, daß Sasonow, auf jeden Fall zur Unterstützung Serbiens entschlossen, die Verhandlungen spätestens seit dem 28. Juli nur noch als Mittel zum Zeitgewinn für die russischen Rüstungen benutzt hätte.

Den 4. Band der Memoiren Poincarés hat -- neben einer kleinen Studie A. Bachs ( 912), die wieder Vorstufe zu seinem Buche von 1929 war -- Graf Montgelas ( 911) eingehend und scharf kritisiert. Im Gegensatz zu der gelegentlich auch in Deutschland auftretenden Neigung, der Selbstverteidigung des Präsidenten stärkere Überzeugungskraft zuzubilligen, hält er in allem Wesentlichen an der Beurteilung fest, die sich auf Grund der früheren Quellen ergeben hatte. Er bezeichnet den Versuch Poincarés als mißlungen, die Schwenkung der französischen Politik seit 1912 fortzuleugnen, hält an der Mitverantwortlichkeit Frankreichs für die russische Mobilmachung fest und bezeichnet die Fälschungen des französischen Gelbbuches von 1914 als die kühnsten der modernen Geschichte überhaupt, die selbst die Fälschungen des russischen Orangebuches von 1914 noch in den Schatten stellten.

Recht umfangreich ist auch in diesem Jahre die Literatur zur Haltung Englands in der Julikrise. In dem Memorandum Lord Morleys über seine Demission ( 913) ist eine überaus wichtige Quellenergänzung zu den englischen Akten erschienen, die klarlegt, daß Greys Entscheidung im Grunde schon seit der ersten Sondierung Sasonows vom 24. Juli gegeben war. Morley, der die Greysche Ententenpolitik während der Krise konsequent bekämpfte, fürchtet im Gegensatz zum Foreign Office nichts mehr als die Folgen eines russischen Sieges. Er hat weiter klar herausgearbeitet, daß die belgische Frage in den Beratungen des Kabinettes ganz hinter dem englischen Interessenstandpunkt verschwand. Sie wurde erst zum Schluß der Krise bedeutsam, als sie schwankenden


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Gemütern Gelegenheit bot, mit Anstand in das Lager der Kriegspartei hinüberzuwechseln. -- Weniger schroff, aber doch nahe verwandt sind Ergebnisse, die W. Zimmermanns Untersuchung der öffentlichen Meinung Englands im Juli 1914 ( 916) erbracht hat. Es handelt sich hier um eine sorgfältige pressegeschichtliche Arbeit, die einen sehr großen Bestand von Zeitungen und Zeitschriften mit aller kritischen Vorsicht auswertet. Sie stellt fest, daß mit Ausnahme des kleinen Kreises der eigentlichen Northcliffepresse nach dem Mord von Sarajewo Abneigung und Verurteilung gegen Serbien in England allgemein waren. Im Weiterverlauf der Krise findet sich nirgends Kritik an dem französischen Verbündeten, während die Chronologie der Mobilmachungen und die Erkenntnis, daß Rußland zuerst den verhängnisvollen Schritt getan hatte, vielfach verbreitet war und lebhaften Protest hervorrief. Wie die charakteristischen Zuschriften aus dem Leserkreise zeigen, war ursprünglich die Abneigung gegen einen Krieg durch Koalitionsbindungen auch in den Reihen der konservativen Parteianhänger weit verbreitet, während ihre Führung sich nur durch englische Interessenerwägung zur Forderung der Kriegsaufnahme bestimmen ließ. Im Ganzen tritt die Bedeutung der politischen Führung gegen die geleiteten Massen schneidend hervor. Auch nach diesem Buche diente dann die belgische Frage als wichtige Brücke, um schließlich die Nation auf den Boden der Interventionspolitik hinüberzuziehen.

Nach den englischen Akten hat H. Lutz ( 914) versucht, die Bewertung der russischen Entente zu kritisieren, von der sich Grey und vor allem seine Mitarbeiter im Juli 1914 bestimmen ließen. Indem er ihre Sorge vor einem Abfall Rußlands von der Entente, falls England es nicht unterstütze, als übertrieben beanstandet und meint, Englands wahres Interesse würde bei einer zurückhaltenderen Politik besser gefahren sein, ist er sich selbst bewußt, Urteile von stark hypothetischen Charakter zu fällen. -- G. Roloff ( 914) hat in einer großen Abhandlung die bisher eingehendste Untersuchung geliefert, die nach dem Erscheinen der englischen Dokumente von deutscher Seite über die englische Politik in der Julikrise geführt ist. Seine Ergebnisse führen zu wesentlich schärferer Formulierung des Urteils über die Politik Greys, als bisher üblich war. Er unterstreicht, daß ihn Furcht vor Rußland und Deutschland zugleich bestimmt habe, entscheidende Ermutigungen an Rußland zu geben. Während seiner Vermittlungstätigkeit sei ihm das Einvernehmen mit Rußland doch stets wichtiger, als der europäische Friede gewesen, so daß er, um diese Lage zu verschleiern, Deutschland immer wieder durch irreführende Angaben über die Tragweite seiner diplomatischen Vermittlungsarbeit in Petersburg getäuscht hätte. Diese Scheinvermittlung habe die Kriegsgefahr nicht geschaffen, aber hingenommen und in egoistischer Berechnung vertieft, da in den entscheidenden Augenblicken das rein englische Interesse, so wie Grey es verstand, stets über alle anderen Erwägungen gesiegt habe.

Neben diesen Arbeiten über die eigentlich englische Politik ist auf deutscher Seite die Auseinandersetzung über die Lichnowsky-Publikation der »Weg zum Abgrund« in einer ganzen Reihe von Beiträgen fortgesetzt worden. Nur Bredt hat ihn in isolierender Betrachtung der Julikrise für diesen bestimmten Zeitraum energisch zu verteidigen gesucht ( 915). F. Thimme hat außer der grundlegenden Kritik an der unglaublichen, die Akten tendenziös zugunsten Englands ändernden Editionsweise des Fürsten ( 915) noch in einem besonderen


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Aufsatz Stellung zu dem von Paul Herre als zutreffend angenommenen Vorwurf genommen, daß Lichnowsky vom Auswärtigen Amt nicht genügend informiert gewesen sei ( 915). Einig mit Herre darin, daß die Urteilsblindheit des Fürsten, der heute noch den Grey-Cambon Briefwechsel und andere geheime Abmachungen der Entente für harmlos hält, als toll bezeichnet werden muß, weist er nach mündlichen Informationen von Bethmann, Jagow, Zimmermann und Stumm nach, daß Lichnowsky tatsächlich auch Kenntnis über die dem Auswärtigen Amte zugänglichen Geheimakten -- nur leider ohne bleibenden Eindruck auf seine Vertrauensseligkeit gegen Grey -- erhalten hatte.

Von italienischer Seite ist mit den Erinnerungen A. Salandras ( 917) ein wichtiges Memoirenwerk über Ausbruch und erste Phase des Weltkrieges erschienen. P. Herre hat es einer eingehenden Würdigung unterzogen, die die Voreingenommenheit gegen Österreich, die völlige Verwachsenheit mit dem Irredentagedanken und als zweite politische Tendenz den Wunsch, Italiens Verdienste um Frankreich zu betonen, herausgearbeitet hat. Zur Julikrise informiert Salandra eingehend über die Stellungnahme, die die führenden politischen Persönlichkeiten Italiens gegenüber der Neutralitätserklärung eingenommen haben. Der historische Hauptwert des Buches liegt in den Kapiteln über die Genesis der italienischen Kriegsintervention, deren Richtung bei Salandra persönlich schon im September 1914 entschieden war, als die Marneschlacht die Ausführung des deutschen Kriegsplanes vereitelt hatte. Die Schwierigkeit des Weges, die er bis zur Eröffnung des Kampfes gegen Österreich noch zu durchmessen hatte, sind eingehend behandelt, nirgends aber findet sich eine Spur, daß Salandra an der Tendenz irre geworden wäre, auf die Seite der Entente zu treten. Die charaktervolle Persönlichkeit des Verfassers, der Ende 1914 das Schlagwort des »sacro egoismo« geprägt hat, erinnert in manchem an Poincaré. Abgesehen von dem verächtlichen Haß gegen das alte Österreich, steht aber der Italiener den Problemen des Weltkrieges schon distanzierter gegenüber, als der Franzose. Das Bekenntnis zum italienischen Interessenstandpunkt erfolgt mit der Offenheit des heutigen Italiens, so daß gegen Poincarés Memoiren die Anlässe zur Entstellung der Vergangenheit geringer sind und das Buch als historische Quelle recht beachtenswert ist. -- Veranlaßt durch den Tod Giolittis hat P. Herre ( 918) den Versuch einer Gesamtwürdigung seiner politischen Laufbahn bis zum Eintritt Italiens in den Weltkrieg -- mit dem Hauptnachdruck auf den Jahren 1914/15 -- unternommen. Wie er betont, war Giolitti nicht davon unterrichtet, daß bei der Regierung der Entschluß zum Eingreifen in den Krieg an der Seite der Entente schon seit Herbst 1914 feststand. Seine Enthüllungen über die Serbenpolitik Österreichs im Jahre 1913 (Dezember 1914) erfolgten in der Absicht, die vermeintliche Neutralitätspolitik Italiens zu verstärken. Dank seiner Verkennung der wirklichen Regierungspolitik haben sie das Kriegsziel Salandras begünstigt und ihrerseits Giolittis eigene Stellung als Anwalt der Neutralität mit unterhöhlt. Er hat so selbst dazu beigetragen, daß er 1915 den letzten Entscheidungen ohnmächtig und passiv durch Rückzug in seine piemontesische Heimat ausweichen mußte.


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