3. Einzelne Phasen der allgemeinen und diplomatischen Geschichte des Krieges.

Die Diskussion über den belgischen Franktireurkrieg ist dadurch neu belebt worden, daß 1927 im Untersuchungswerk des Reichstages der Teil über die völkerrechtlichen Streitfragen des Krieges erschien. Gegen das hier enthaltene Gutachten Meurers über die Belgien angehenden Streitfragen wendeten sich mehrere belgische Broschüren ( 951/ 53), die im größten Maßstabe auch an deutsche Adressen versandt worden sind. Sie stimmen darin überein, daß die Zusammenstöße mit der Zivilbevölkerung in allen Fällen nur durch Nervosität und irrige Selbstsuggestion deutscher Truppen verursacht gewesen sein sollen. Meurers Erwiderung ( 952) gegen eine der gehässigsten unter diesen Schriften weist an dem besonderen Fall Loewens die Unmöglichkeit dieser These angesichts der Fülle deutscher Gegenzeugnisse nach; auch im deutschen Offiziersbund von 1928 hat P. Oszwald eine eingehende Widerlegung erscheinen lassen. -- Ein anderes schmerzliches Problem der belgischen Besatzungszeit, die Frage der Zwangsdeportationen belgischer Arbeiter hat in der Carnegie-Serie, in der sie schon mehrfach behandelt war, durch Passelecq ( 954) eine neue ausführliche Darstellung erhalten. Der Verfasser, der diese Frage schon wiederholt im offiziellen Auftrag der belgischen Regierung behandelte, hat seinen Band reich mit der Wiedergabe auch deutscher Dokumente ausgestattet, die 1918 in die Hand der belgischen Regierung gefallen sind. Inhaltlich bedeutet seine Arbeit einen Rückschritt gegen frühere belgische Schriften, die doch etwas mehr die bedrängte Lage Deutschlands berücksichtigen, nicht so durchgehend wie er neben der Kriegsausnutzung des Landes stets und von Anfang an planmäßigen deutschen Zerstörungswillen gegen die belgische Wirtschaft als Leitmotiv zugrunde legen. -- Eine sehr eigentümliche Vorgeschichte hat die von der Ligue Nationale pour l'Unité Belge veranstaltete Publikation der Archive des Rats von Flandern ( 955). Es handelt sich um das Dokumentenmaterial der flämischen Bewegung im Weltkriege, das 1918 nach Deutschland gebracht und in Leipzig deponiert wurde. Nach den Angaben des Vorwortes sind diese Papiere während des Kapp-Putsches geraubt und von ihren neuen Inhabern nach Belgien verkauft worden. Die Veröffentlichung gibt eine Auswahl der Papiere, die in objektiver Weise und nach rein historischen Gesichtspunkten vorgenommen sein will. Bedenken dagegen erregt die rücksichtslose Anwendung von Fett- und Sperrdruck, die stets solche Stellen hervorhebt, die für das heutige politische Urteil in Belgien besonders belastend sein müssen. Faksimilebeispiele zeigen, daß diese Sperrungen nicht


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im Original vorliegen, sondern bei der Herausgabe vorgenommen sind. Mit dieser kritischen Reserve sei anerkannt, daß in diesen Protokollen über die Verhandlungen des Rats von Flandern und seiner Ausschüsse, in den verschiedenartigen sonstigen Korrespondenzen und Papieren ein umfassendes und vorläufig nicht zu umgehendes historisches Material vorliegt. Es zeigt die trotz propagandistisch großer Anstrengungen stets gleichbleibende Schwäche der Kreise, die mit der deutschen Politik zusammenarbeiteten. Bezeichnend dafür und wichtig für das Gesamturteil über die deutsche Flamenpolitik sind besonders die Materialien über Versuche, durch Wahl an die öffentliche Meinung Belgiens zu appellieren. Selbst von Mißtrauen und Abneigung gegen die gefürchtete »Germanisation« erfüllt, sind gerade die aktivsten Flamenführer, seit dem sie einmal für Deutschland eingetreten waren, von Schritt zu Schritt zu radikalster Feindschaft gegen den belgischen Staat gedrängt worden und haben sich dadurch selbst im eigenen Lande immer mehr isoliert. Der stark tragische Eindruck dieser Verwicklung wird freilich einigermaßen in Frage gezogen durch die Belege über finanzielle Unterstützung, die sie persönlich von deutscher Seite erhalten haben. Aber bei den bedeutendsten Führern handelt es sich doch wohl im letzten Grunde um einen Irrtum ehrlich fanatischer Überzeugung, der 1918 mit einem schrecklichen Erwachen endete, als sich ihr unbedingter Glaube an den deutschen Sieg als Irrtum erwies. -- Diesen belgischen Veröffentlichungen ist noch ein gediegener Aufsatz von P. Oszwald über die Errichtung des deutschen Generalgouvernements Belgien ( 950) anzureihen. Auf das Aktenmaterial gestützt, zeigt er, daß bleibende organisatorische Mängel dieser Institution, vor allem der Zwiespalt von direkter Unterstellung des Generalgouverneurs unter dem Kaiser und Abhängigkeit des Zivilkommissars vom Reichskanzler, damit zusammenhängt, daß auch für die Frage der Kriegsverwaltung in besetzten Gebieten vor 1914 keinerlei Vorarbeit geleistet war. In letzter Stunde wurden Regelungen für die ganz andersartigen besetzten Gebiete im Osten überstürzt auf Belgien übertragen, ohne daß das Kriegsministerium mit dem Wunsche, sich lieber an das Vorbild von 1870/71 anzulehnen, durchdrang. Es bliebe eine Folge dieser hastigen Improvisation, daß die Leiter der zivilen Verwaltung an Rang zu sehr hinter den militärischen Spitzenstellen zurückstanden, um sich gegen sie wirksam geltend machen zu können. Derselbe Verfasser hat den zweiten Generalgouverneur von Bissing in einer warmen biographischen Skizze behandelt, die vor allem sein Verhältnis zu der von Bethmann eingeleiteten Flamenpolitik zu klären bemüht ist.

Die Vereinigten Staaten haben mit der Veröffentlichung ihrer diplomatischen Akten aus der Kriegszeit ( 957/ 58) begonnen. Alle Schranken sind dabei nicht gefallen, da ausdrücklich Rücksichtnahme auf den Einspruch fremder Staaten vorbehalten ist. Der dem Referenten vorliegende erste Band (1914) zeigt aber schon, daß doch ein relativ reiches Material erschlossen wird, obwohl natürlich die persönliche Geheimpolitik Wilsons durch den Obersten House außerhalb der Publikation bleibt. Es ist nur soviel zu ersehen, daß Page schon 1914 die Entsendung des Obersten nach England beantragt hat. Abgesehen von dem in der Kriegsschuldfrage in deutscher Übersetzung wiedergegebenen Material zur Julikrise, beleuchtet der Band die Anfänge der amerikanischen Neutralitätspolitik. Er zeigt den Gegensatz zwischen der ganz anglophilen Berichterstattung von Page gegen die Politik Bryans und Lansings, während Präsident Wilson stark im Hintergrund bleibt. Den amerikanischen Vermittlungsversuchen


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vom August und September 1914 entspricht eine starke Bewegung unter den neutralen Staaten Südamerikas und Europas, die bereit gewesen wären, sich hinter eine solche Politik der Vereinigten Staaten zu stellen, ohne damit in Washington Gegenliebe zu finden. Den breitesten Raum nehmen die Diskussionen über den Wirtschaftskrieg ein, in denen bei formaler Korrektheit und trotz aller Schwierigkeiten, die die englischen Blockade veranlaßte, das praktische Schwergewicht der amerikanischen Politik sich ganz zugunsten Englands auswirkte, obwohl diese Einseitigkeit anfänglich auch in Amerika selbst starke Widerstände bestimmter Wirtschaftskreise herausforderte. -- Die Periode der amerikanischen Neutralität behandelt auch ein stoffreiches Buch des deutschen Generalkonsuls in Neuyork von 1914, Horst P. Falcke ( 959). Auf Grund der amerikanischen Presse kritisiert er scharf die Wirkung der deutschen Propaganda in Amerika, die zu sehr großem Teile die anfangs für Deutschlands gar nicht ungünstige Stimmung des Landes vollständig untergraben habe. Falcke hat zweifellos recht, daß die unglücklichen und ganz aussichtslosen Versuche einer Propaganda der Tat, so begreiflich die Idee eines Kampfes gegen die amerikanische Rüstungsindustrie erscheinen könnte, höchst schädlich gewirkt haben. Sein Bestreben, die formale völkerrechtliche Korrektheit des amerikanischen Verhaltens klar zu legen, läßt allerdings die Gefährdung deutscher Lebensinteressen stark zurücktreten. Das Buch verrät jedoch durchweg einen guten Sachkenner der behandelnden Verhältnisse und ist als Beitrag zur Geschichte der deutsch-amerikanischen Beziehungen bis 1917 sehr zu beachten. -- Die Friedensvermittlung des Präsidenten Wilson hat Joh. Kühn ( 967) in einem Aufsatz behandelt, dessen Interpretation der House-Papiere starke Abweichungen von dem früher hier behandelten Festerschen Aufsatze (Jg. 1927, S. 354/355) aufweist. K. vertritt den Standpunkt, daß Greys Zurückhaltung gegen die Friedens- und Interventionspläne Houses im Februar 1916 die auf jeden Fall zum Eingreifen in den europäischen Konflikt drängenden Amerikaner stark verstimmt hätte. Gerade für das Jahr 1916 bis zur Eröffnung des unbeschränkten U-Bootkrieges sieht er daher eine Situation gegeben, in der eine geschickte deutsche Diplomatie die anfängliche Neigung des Präsidenten für England stark hätte ablenken können, ohne die Frage historisch entscheiden zu wollen, was Deutschland Anfang 1917 nun näher von amerikanischer Vermittlung hätte erwarten können. Bei dem weitgehenden Eingehen, das House 1916 gegen die Forderungen der Entente gezeigt hatte, wird man allerdings darüber sehr skeptisch zu denken geneigt sein. Als letzte Grundlage der amerikanischen Politik bezeichnet auch er einen in humanitär-demokratischer Hülle ganz großzügigen, wenn auch naiven imperialistischen Machtwillen.

Eingehende und interessante Aufzeichnungen über die beiden Kronratssitzungen vom 2. August 1914 und 27. August 1916, in denen die Entscheidung zuerst über die Neutralität, dann Intervention Rumäniens im Weltkriege fiel, hat einer der konservativen Parteiführer des Landes Marghilomanu ( 961) im Rahmen einer fünfbändigen Tagebuchpublikation veröffentlicht. Sie sind in der Revue d'histoire de la guerre mondiale in französischer Übersetzung erschienen und geben sehr eingehende Auskunft über Persönlichkeiten und Argumente, die diese Entscheidungen bestimmten. -- Eine zusammenfassende Orientierung über die deutsche Baltikumspolitik von 1914--1919 versucht an gleicher Stelle der Franzose Tibal ( 962). Die Darlegung der politischen Motive


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Deutschlands läßt es an Scheidung der verschiedenen Richtungen fehlen, weil wieder einmal alles zu sehr unter die einheitliche Etikette des Alldeutschtums gestellt wird. Übersichtlich ist die Entwicklung des Jahres 1918 in den einzelnen Ostgebieten behandelt. -- Der ehemalige 1. Flaggleutnant Admiral Meurers, Frz. Beyer, hat eine gediegene völkerrechtliche Untersuchung über das deutsche Einschreiten in Finnland ( 966) geschrieben, die die völkerrechtliche Rechtmäßigkeit der deutschen Aktion erweisen möchte. Da das Thema in diesem Rahmen recht umfassend angegriffen ist, enthält das Buch auch für den Historiker manches Wertvolle. So ist das Verhältnis Schwedens zu der finnischen Krise, seine Zurückhaltung gegen die zuerst an seine Adresse gerichteten Hilferufe Finnlands und die Frage der Aalandsinseln, recht eingehend behandelt.

Eine ganze Reihe von Publikationen beschäftigt sich mit der Geschichte des Waffenstillstandes von 1918/19. Graf Metternich hat seine Aufzeichnungen über die Ausführungen veröffentlicht, die er in der Kabinettssitzung vom 19. Oktober 1918 zur Frage der Einstellung des U-Bootkrieges ( 964) gemacht hat. Am folgenden Tage niedergeschrieben, weichen sie sehr stark von der Version ab, die Tirpitz in seinen Dokumenten gegeben hat. -- Unter Leitung des ehemaligen Vorsitzenden der Deutschen Waffenstillstandkommission, Generalmajor Frh. v. Hammerstein, sind die deutschen Dokumente über den Waffenstillstand 1918--1919 ( 970) herausgegeben worden. Die inhaltreiche Publikation enthält die Dokumente über die Verlängerungen des Waffenstillstandes und die ganze Kette der damit verknüpften Sonderverhandlungen über die Versorgung Deutschlands mit Lebensmitteln, die Auslieferung der deutschen Kriegsgefangenen, die Übergabe der deutschen Handelsflotte, die Anfänge der deutschen Abrüstung, die deutsch-polnischen Beziehungen und die ersten finanziellen Leistungen Deutschlands. Besonders vielseitiges Material enthält der Schlußband mit dem Rechenschaftsbericht der Kommission an den Deutschen Reichstag (1920). Hier sind auch die Anfänge der Besatzungszeit im Rheinland mit der Fülle der durch sie veranlaßten Beschwerden eingehend berücksichtigt. Die Sammlung als Ganzes enthält sehr viel mehr ausgezeichnetes historisches Material, als der Titel zunächst vermuten läßt. -- Der Herausgeber hat in einer Sonderschrift noch die Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen in der gleichen Zeit, ebenfalls unter Hervorhebung des Anteiles der deutschen Waffenstillstandskommission, behandelt. Sie ist vor allem für die Feststellung der Demarkationslinie und die Verhandlung über den Transport der Hallerarmee durch Deutschland von Bedeutung. -- Die Anfänge des neuen polnischen Staates von November 1918 bis Ende Januar 1919 behandelt eine sehr reich dokumentierte Abhandlung von Smogorzewski ( 971). Ihr Hauptthema ist die Spannung zwischen der Warschauer Regierung Pilsudkis und dem Polnischen Nationalkomitee in Paris unter Dmowski, die nach peinlichen Übergangswochen durch die Vermittlung Paderewskis beigelegt wurde, aber den Ausganspunkt der noch heute bestehenden Parteigegensätze in Polen bildet. -- Der Leiter der italienischen militärischen Waffenstillstandskommission in Wien, General Segre ( 972) hat ein umfangreiches Verteidigungswerk vorgelegt. Es behandelt ausführlich die weit über ursprüngliche Erwartung ausgedehnte Tätigkeit der Kommission mit dem Bestreben, ihre angeblichen Wohltaten für Österreich möglichst hervorzuheben. Politisch spiegelt er die Spannung zwischen Italien und dem von Frankreich unterstützten Jugoslavien wieder, die zu einer Unterstützung


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Österreichs durch Italien in der Frage der kärntner Grenzziehung führte. Vor allem soll das Werk eine für das heutige Italien charakteristische Rehabilitation Segres und seiner Kommission sein. Sie waren 1921/22 in Italien selbst wegen unsauberer Bereicherungsgeschäfte in einen ungeheuren Skandal verwickelt, in dem die Regierung Nitti zum Prozeß gegen den General schritt, der aber mit seiner Freisprechung endete. Die Memoiren suchen leidenschaftlich alle Anklagen als grundlos hinzustellen und die demokratische Nachkriegsregierung Nittis wegen dieses Vorgehens mit dem Vorwurf nationaler Schwäche zu belasten.


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