§ 26. Rechts- und Verfassungsgeschichte bis 911.

(M. Lintzel.)

Fragen der ältesten germanischen Verfassungsgeschichte behandelt F. Frahm ( 1015 a), indem er den Quellenwert, den Caesar und Tacitus für die altgermanische Zeit besitzen, untersucht. Die Verwandtschaft der beiden Quellen untereinander erklärt er damit, daß er sie beide aus dem gleichen Strome der griechisch-römischen ethnographischen Literatur schöpfen läßt, eine These, die nicht neu, bisher aber unbewiesen ist und auch von Frahm in keiner Weise bewiesen, sondern nur behauptet wird. Im übrigen stützt er sich vor allem auf die bekannten Ansichten und Ergebnisse E. Nordens über die Germania des Tacitus, die er, entsprechend seiner Anschauung von der nur indirekten Verwandtschaft des Bellum Gallicum und der Germania, auch auf Caesar auszudehnen sucht. Doch im Gegensatz zu der vorsichtigen Zurückhaltung Nordens, der den Quellenwert der Germania für die Zustände Germaniens im wesentlichen unangetastet läßt, folgert Frahm aus der literarischen Unselbständigkeit Caesars und Tacitus' ihre historische Unglaubwürdigkeit. Daß diese Folgerung ganz ungerechtfertigt ist, versteht sich von selbst. Auch wenn beide fremde Vorbilder in ihrer Terminologie und Phraseologie benutzten, so beweist das doch nicht, daß sie keine eigenen Nachrichten besaßen, und daß ihnen die Möglichkeit der Kontrolle fehlte. Und noch weniger beweist es, daß die Nachrichten, die sie aus einer verlorenen ethnographischen Literatur entnahmen, wertlos waren. Den Hauptteil von Frahms Abhandlung bilden, wie der Untertitel andeutet, Bemerkungen über den Sprachgebrauch der beiden genannten römischen Schriftsteller, in denen er die Begriffe civitas, pagus, princeps, concilium usw. untersucht. Auch hier erweckt seine Methode Bedenken. Es ist nicht angängig, den Sprachgebrauch der beiden Quellen isoliert, ohne Berücksichtigung der übringen mehr oder weniger gleichzeitigen Quellen zu betrachten. Im übrigen erscheint die Interpretation häufig etwas zu summarisch. Dementsprechend gelangt denn auch Frahm trotz mancher beachtenswerten Bemerkung fast nirgends zu einem annehmbaren festen Ergebnis. Der positive Ertrag seiner Arbeit ist eine erneute Bestätigung dafür, daß gegenüber der Terminologie Caesars und Tacitus' zur germanischen Verfassung äußerste Vorsicht am Platze ist, da die Begriffe des römischen Staatsrechts, dem sie ihren Wortschatz entlehnten, sich mit denen des germanischen in keiner Weise deckten. Ein Kapitel des Fragenkomplexes, den Frahm behandelt, untersucht auch L. Schmidt, indem er die germanische Hundertschaftsverfassung bespricht ( 1021). Er kennt für die Zeit Caesars und Tacitus' allein den pagus als Unterabteilung des Stammes; die Kriegsmannschaft des pagus wurde nach ihm im cuneus versammelt,


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dessen Keilform Schmidt gegen Frahm wohl mit Recht, freilich mit sehr anfechtbaren Terminologien, verteidigt. Die oft beliebte Identifizierung von pagus und Hundertschaft in germanischer Zeit lehnt er ab; außerdem aber auch die Existenz der Hundertschaft in dieser Zeit überhaupt, sie soll sich erst im späteren Zug der Entwicklung als staatliche Unterabteilung des pagus herausgebildet haben. Es handelt sich auch bei diesen Aufstellungen Schmidts nur um Vermutungen und Anregungen, die weiter verfolgt werden müßten; von einer erschöpfenden Behandlung und Auswertung des Quellenmaterials kann nicht die Rede sein.

In die Jahrhunderte der Auflösung des Römerreiches und der Gründung germanischer Reiche auf seinem Boden, vor allem aber in die Geschichte der Rechtsverhältnisse, die sich aus der Berührung der Germanen mit dem römischen Staatswesen entwickelten, führen einige Untersuchungen, die das Fortleben, bzw. die Umbildung römischer Institutionen in den germanischen Staaten behandeln. Die Abhandlung Picottis über den Patriziat ( 1026) befaßt sich freilich fast ausschließlich mit der Entwicklung des Patriziats in der letzten Zeit des Imperium seit Constantin. Sie vertritt die Ansicht, daß der Patriziat die höchste senatorische Würde mit zunächst zivilem, später mehr militärischem Charakter war, daß die politische Bedeutung, die der Titel gewann, aber darin bestand, daß es für die Statthalter und leitenden Minister im Westen üblich ward, ihn zu führen, ohne daß sich darum diese »Patricii des Kaisers« juristisch von den übrigen Patricii unterschieden. Von der Geschichte, die Titel und Amt in germanischer Zeit hatten, wird nur die Periode Odoakars und Theodorichs kurz gestreift; nicht ganz geklärt erscheint dabei, warum die Germanenkönige gerade in diesem Titel den Ausdruck und die Bezeichnung der von ihnen erstrebten Stellung im römischen Reiche fanden. Tiefer in die Geschichte der germanischen Neugründungen greift die Untersuchung von Lot ( 1029) ein, die das Einquartierungssystem, nach dem die germanischen »Föderaten« der Römer auf römischem Boden angesiedelt wurden, behandelt. In erster Linie wird die Landteilung der Burgunder untersucht, vor allem die sonderbare, oft und nie befriedigend erklärte Stelle der Lex Burg. c. 54, nach welcher der Burgunder ein Drittel der mancipia und zwei Drittel der terrae erhalten hat. Lot findet die Erklärung dieser Bestimmung darin, daß der Burgunder, in dem er einen Grundherrn sieht, nur ein Drittel der Sklaven bekam, weil er nur ein Drittel des bebauten Indominicatum erhalten habe, so daß mancipia mit Indominicatum gleichzusetzen seien; dagegen habe er sicher zwei Drittel, vielleicht aber, nach einem etwas komplizierten Rechnungsverfahren, auf das ich hier nicht eingehen kann, auch noch mehr vom Kolonenland erhalten. Auf jeden Fall hatte das Verfahren den Zweck, den römischen Eigentümer weitgehend zu schützen. Daß darauf in Savoyen, als Aetius die Burgunder ansiedelte, geachtet wurde, ist selbstverständlich. Aber auch bei den Landnahmen, deren Verlauf die römische Regierung weniger gut kontrollieren konnte, und nach dem Verschwinden des Imperium sicherten die germanischen Könige ihre römischen Untertanen gegen Übergriffe der Barbaren, vor allem wohl, um die Steuerkraft der Römer zu erhalten. Die Einquartierungen trafen bloß die großen Grundbesitzer und schädigten sie, da ihnen hauptsächlich nur Kolonenland abgenommen ward, für die übrigen Verluste aber Steuererleichterungen gewährt und ihnen außerdem ihre Eigentumsrechte gewahrt blieben, kaum in


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nennenswerter Weise. So hat sich überall, nicht bloß bei den Burgundern, die Landnahme der Germanen fast reibungslos vollzogen; und ebenso reibungslos hat sich schließlich bei der Dauer des Systems aus der Besitzergreifung durch die Einquartierung das Eigentumsrecht der Germanen an ihren Quartieren entwickelt. Den Steuerverhältnissen der spätrömischen und frühgermanischen Zeit, die hier bereits gestreift sind, hat Lot noch eine ausführliche Behandlung gewidmet ( 1030). Er vertritt dabei die Ansicht, Grundsteuern seien im Römerreich nur aus dem Indominicatum erhoben, das Kolonenland dagegen habe man nach capita besteuert. Von den Zuständen dieser Periode sucht er Entwicklungs- und Verbindungslinien in die Zeit der Merowinger und Karolinger zu ziehen, und das Bild der Grundherrschaft, das er dort fand, glaubt er hier wieder zu entdecken, indem er z. B. die mansi hier den capita dort gleichstellt. Bei der Dürftigkeit des Materials ist freilich eine überzeugende Beweisführung kaum möglich. Tiefeinschneidende römische Einflüsse auf die Entwicklung des öffentlichen Rechts bei den Germanen glaubt auch Varges ( 1012) feststellen zu müssen, indem er die Entstehung des Herzogtums bei Alemannen und Bayern auf römischen Ursprung, auf die Kommandantur der römischen Grenztruppen, zurückführt. Freilich wird man diese unbewiesen vorgetragene und unbeweisbare Auffassung völlig ablehnen müssen. Sie erscheint als Bestandteil eines kurzen Abrisses, den Varges über die Entwicklung des Dukats bei den Germanen von der ältesten Zeit bis zu der der Ottonen gibt, und in dem noch mehr auffallende und unbewiesene Behauptungen auftreten, z. B. die, daß es im 10. Jhd. in Deutschland nirgends Stammesherzogtümer gegeben habe. Auf jeden Fall zeigt diese Abhandlung, daß die Frage der Entstehung der deutschen Herzogtümer eine neue Untersuchung brauchen kann.

Die Art, wie Lot in seinem erwähnten Buch über Grundsteuer und Kopfsteuer die wirtschaftliche Entwicklung von der römischen zur germanischen Zeit auffaßt, und wie er diese Auffassung begründet, ist wohl charakteristisch für die Stellung, welche die Wirtschaftsgeschichte im allgemeinen gegenwärtig überhaupt zu diesen Fragen einnimmt. Während man früher den Reichsgründungen der Germanen eine grundlegende Umgestaltung aller Verhältnisse nachsagte, sucht man heute bekanntlich gern, hauptsächlich nach Dopschs Vorbild, die Kontinuität der Entwicklung aufzuzeigen und einen Bruch in ihr durch die »Völkerwanderung« zu leugnen; und wenn die Quellen zweideutig sind und eine Entscheidung nach beiden Richtungen ermöglichen, so legt man sie im allgemeinen so aus, daß sie einen Beweis für die Gradlinigkeit der Entwicklung liefern. Einen sehr instruktiven Überblick über diese Wandlungen, welche in den letzten Jahrzehnten die Anschauungen von den verfassungs- und wirtschaftsgeschichtlichen Zuständen der Germanen bis ins späte Mittelalter hinein durchgemacht haben, gibt Petrusewski ( 1020), wobei manches Neue, oder wenigstens manches in neuer und schärferer Formulierung als bisher gesagt wird. Diese schärfere Formulierung bringt es freilich mit sich, daß hier, abgesehen davon, daß die Zeichnung der Gegensätze zwischen früherer und jetziger Auffassung etwas zu pointiert erscheint, viele Anschauungen noch einseitiger und extremer gefaßt auftreten, als es in der modernen Forschung ohnehin schon der Fall ist. Gerade dieser scharf und eindringlich orientierende Überblick zeigt, daß das Geschichtsbild, dem die Forschung jetzt zuzusteuern scheint, so nicht gewesen sein kann. Eine Auffassung, nach der die Zivilisation der wandernden


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Germanen der des Römerreiches fast gleichartig war und nach der z. B. der Anfang des ma.lichen Städtewesens in der germanischen Urzeit zu suchen ist, bedarf sicher und dringend der Korrektur. -- Als ein Hauptmoment, ja geradezu als der Angelpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung des Mittelalters erschien früher das Werden der Grundherrschaft. Ihre Bewertung aber hat, wie auch Petrusewski betont, in der modernen Forschung eine starke Änderung erfahren; einerseits hat man ihre Existenz schon in die Urzeit zurückverlegt, andrerseits ihre Bedeutung für die sozialen und wirtschaftlichen Zustände des MA. stark beschnitten. Gleichfalls, wenn auch aus ganz andern Gesichtspunkten und Motiven als sie hier im Spiele sind, war V. Ernst in dem im vorvorigen Bericht angezeigten Buche über die Entstehung des deutschen Grundeigentums gegen ihre Bedeutung zu Felde gezogen. Er wollte ihr bei der Verteilung von Grund und Boden nur eine ganz untergeordnete, die Hauptrolle aber der Zwing- und Banngewalt der Sippe zuschreiben. Aus der gehaltvollen Besprechung, die F. Beyerle diesem Buche gewidmet hat ( 1016), sind vor allem die methodischen Einwände hervorzuheben, die er gegen Ernst vorbringt; einmal: das schwäbische Material, das Ernst benutzt hat, reicht nicht aus, um die Entstehung des deutschen Grundeigentums zu klären; vor allem aber: es ist nicht angängig, die Ergebnisse der verhältnismäßig späten, erst dem späteren Mittelalter angehörigen Zeugnisse, auf denen Ernst seine Forschungen aufbaut, auf die Frühzeit zu projizieren, abgesehen davon, daß die Quellen der Karolingerzeit Ernsts Anschauungen ausdrücklich widersprechen.

Eine Reihe von Untersuchungen des Berichtsjahres behandelt, von geistesgeschichtlichen Problemstellungen ausgehend oder sich ihnen nähernd, Fragen nach der Einwirkung religiöser Anschauungen, heidnischer wie römisch-christlicher Einflüsse auf das germanische Rechtsleben. Pappenheim untersucht ( 1017) die Anfänge des germanischen Gottesurteils. Den Grundgedanken des Gottesurteils bestimmt er, indem er gegen Fehr dessen Begriff der Dämonologie und der Teufelsaustreibung aus dem Ordal verbannt, als einen dem Eid ursprünglich eng verwandten Zauber, durch den infolge eines Eingreifens übernatürlicher Mächte die Wahrheit ans Licht kommen sollte. Alle Quellen über das Ordal im germanischen Prozeßwesen stammen aus christlicher Zeit; die Frage ist aber, ob das Gottesurteil selbst erst durch das Christentum, wie etwa Fehr meint, in das germanische Recht gekommen ist, oder ob es schon, wie E. Mayer behauptet, dem heidnischen Germanentum angehört. Pappenheim zeigt, daß, wenn auch sicher das Gottesurteil in vorchristlicher Zeit den Germanen bereits bekannt war, es sich doch als Prozeßmittel in dieser Zeit nur teilweise und ungleichmäßig eingebürgert hat. Auf jeden Fall nahm das Ordalwesen nach der Einführung des Christentums einen Aufschwung, da es die Kirche, schon um den Zweikampf im Prozeß zurückzudrängen, begünstigte. Die Fragestellungen und Ergebnisse der interessanten Studie Pappenheims könnten sicher in mancher Hinsicht noch vertieft werden. Um den Einfluß der Kirche auf die germanischen Ordale zu beurteilen, wird es nötig sein, die christlichen Gottesurteile und ihre Verbreitung im Gebiet der christlichen Kirche, z. B. die Übernahme von orientalischem Gut, seine Ausbreitung nach Westen usw. noch genauer zu verfolgen; was in diesem Zusammenhang, etwa z. B. über die Wasserprobe, gesagt wird, ist sicher nicht erschöpfend. Vor allem aber müßten, um den Entwicklungsgang klarzulegen, die Linien, welche die stammesrechtlichen Grenzen ziehen, und ihre Überschneidungen


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durch das Eindringen kirchlicher Einflüsse aufgezeigt werden. In ein Gebiet, das dem der Gottesurteile verwandt ist, weist Puntscharts kleine Untersuchung über die Gottesbürgschaft im angelsächsischen Recht ( 1018). Nach einer Bestimmung in dom. 33 der Gesetzgebung König Aelfreds erscheint Gott selbst als Bürge für ein Rechtsgeschäft. Diese eigenartige Erscheinung wird mit einer Entwicklung des Bürgschaftsrechts in Zusammenhang gebracht, nach welcher der Bürge den Schuldner zu beaufsichtigen und eventuell im Interesse des Gläubigers zu verfolgen hat, also mit einer Aufsichtsbürgschaft. Selbstverständlich kann es sich bei der Gottesbürgschaft um eine eigentliche Bürgschaft nicht gehandelt haben, da ja von einer Haftung und eventuellen Pfändung des Bürgen nicht die Rede sein konnte; sie war nur so weit Bürgschaft, »als sie den eigenartigen Gedankeninhalt eines besonderen Bürgschaftsrechtes übernommen hat«. Was der Gottesbürgschaft an sozusagen juristischer Sicherheit fehlte, besaß sie an sakralem und religiösem Wert: der Schuldner überließ sich dem Zorn Gottes, der auf Erden wohl durch die Exkommunikation ausgedrückt wurde. Gleich Eid und Ordal stellt auch die Gottesbürgschaft einen sakralen Einschlag ins Recht dar, wie man ihn im Rechts- und Staatsleben des Mittelalters so häufig findet. -- Für die Annahme der ursprünglichen Anwendung der Gottesbürgschaft nur auf Schuldverhältnisse, wie Puntschart will, scheint mir übrigens kein Grund vorzuliegen. -- Das Eindringen christlicher, besonders Augustinischer Gedankengänge auf die Gestaltung des germanischen Erbrechts verfolgt W. Schultze in seinem Buch über Augustin und den Seelteil des germanischen Erbrechts ( 1019), wobei er eine Fülle von neuen Erkenntnissen und Gesichtspunkten ausbreitet, die hier kaum angedeutet werden können. Schultze weist zunächst, was freilich schon im allgemeinen als richtig angesehen wurde, besonders gegen Ficker nach, daß eine ursprüngliche Verfügungsfreiheit des Hausvaters über das Vermögen im germanischen Recht nicht bestanden hat, daß ihn vielmehr im Gegenteil die Hausgemeinschaft band. Das Freiteils- (Seelteils-) recht hat also nicht als Überbleibsel eines ursprünglich umfassenderen Verfügungsrechts des Hausherrn zu gelten, sondern es hat sich im Gegensatz zur alten Rechtslage neu entwickelt. Seinen Ursprung hat es aber nicht, wie vor allem Brunner annahm, in der Totenausstattung gefunden, sondern es beruht auf einer durchaus selbständig sich entwickelnden Verfügungsfreiheit des Hausvaters über einen Teil des Vermögens, die andern Abschichtungen aus dem Vermögen, etwa der Ausstattung von Söhnen und Töchtern, parallel zu setzen ist. Die Herausbildung dieses Freiteils war seinem Zweck als Seelteil entsprechend besonders durch religiöse, kirchliche Gesichtspunkte bestimmt, und diese Gesichtspunkte waren es denn auch, die seine Höhe festsetzten. Doch nicht einheitlich. In den germanischen Rechten lassen sich, was die Höhe des Freiteils anlangt, drei Gruppen nachweisen: eine vor allem durch die fränkischen Rechte vertretene Gruppe kennt die Drittelung, eine durch süddeutsche, das langobardische und burgundische, sowie auch durch nordische Rechte repräsentierte Gruppe verlangt die Kopfteilung, und einige nordische Rechte endlich setzen den Freiteil dem Hauptzehnt gleich. Die Herausbildung des Hauptzehnts als Freiteil knüpft zweifellos an den Levitenzehnten des Alten Testaments an. Der Kopfteilsfreiteil dagegen geht auf von der Kirche rezipierte Anschauungen Augustins zurück, und dasselbe sucht Schultze für die Drittelung nachzuweisen, wobei freilich der Nachweis nicht ganz evident erscheint. Abgesehen von seinen bedeutenden

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Ergebnissen ist am bewundernswertesten an diesem Buche die künstlerische Klarheit seiner Methode, die einen komplizierten, fast das gesamte germanische Rechtsgebiet überflutenden Prozeß spielend meistert.

Der besonders durch Kruschs Vorstöße entfesselte Kampf um die Entstehung der Volksrechte ist in diesem Berichtsjahre fortgeführt von F. Beyerle in seiner gründlichen und aufschlußreichen Studie über die Lex Ribuaria ( 1022a). So hervorragende Bedeutung Kruschs Aufstellungen in vielen textkritischen Fragen beanspruchen, darin, daß er sich in seiner überraschenden zeitlichen Ansetzung der Lex Ribuaria geirrt hat, wird man Beyerle unbedingt zustimmen müssen. Denn wenn auch der Text der Lex, so wie er vorliegt, der Karolingerzeit angehört, für den weitaus größten Teil ihres Inhalts, für den Krusch das gleiche behauptete, trifft das keinesfalls zu; der uns vorliegende Text muß als eine Überarbeitung durchgemacht haben. Auf die vielen, manchmal anfechtbaren aber immer beachtenswerten Einzelheiten der Untersuchung Beyerles kann hier nicht weiter eingegangen werden; es sei nur berichtet, daß er gegen Krusch mit Sohm die Lex als nicht einheitliches Werk ansieht, daß er aber ihre Teile etwa gleichzeitig entstanden sein läßt, und daß er ihre Entstehung auf die Zeit der Unterkönige Dagobert I. (623/625) oder Sigibert III. (nach 634) datieren möchte. -- Eine Reihe von kleineren Erläuterungen zur Interpretation der Lex Ribuaria wie der Lex Salica, zur Malbergschen Glosse und zur fränkischen Rechtsterminologie gibt Goldmann ( 1022b), denen er noch Bemerkungen über fränkisches Recht in bildlicher Darstellung angefügt hat. Es werden nicht weniger als 22 größere oder kleinere rechtsgeschichtliche Fragen behandelt, deren Lösungen hier mitzuteilen, der zur Verfügung stehende Raum verbietet. Gegen einige der Auslegungen Goldmanns hat F. Beyerle (ebenda) Bedenken erhoben und z. T. an ihre Stelle, wie mir scheint, besser fundierte Deutungen gesetzt.

Eine empfindliche und lange empfundene Lücke für das gesamte Gebiet der Rechtsgeschichte der fränkischen Zeit wurde durch das Erscheinen der zweiten Auflage des zweiten Bandes von Brunners Rechtsgeschichte ( 1003) ausgefüllt. Freilich wird dadurch auch wieder die Tatsache, daß, seitdem die zweite Auflage des ersten Bandes erschien, über zwanzig Jahre vergangen sind, besonders schmerzlich zum Bewußtsein gebracht, und auch hier der Wunsch nach einer Neuauflage rege. Der Herausgeber des zweiten Bandes, Cl. Frhr. von Schwerin, hat durch seine Bearbeitung das Brunnersche Buch wieder auf den Stand der Forschung der Gegenwart gebracht. Dabei ist er so konservativ wie möglich verfahren und hat so wenig wie möglich geändert; nur wo Brunners Ansichten völlig widerlegt erschienen, hat er sie durch neue ersetzt. Wenn man über den Grad dieser Zurückhaltung in einzelnen Punkten naturgemäß auch verschiedener Meinung sein kann, im ganzen wird man dem Bearbeiter für seine pietätvolle Arbeitsweise nur den größten Dank wissen. Es ist im Rahmen dieses Berichts selbstverständlich unmöglich, genauer auf die Leistung Brunners und v. Schwerins einzugehen oder sich gar zu einer Detailkritik beider zu versteigen. Nur einen prinzipiellen Einwand, der dem Historiker naheliegt, möchte ich bei allem Respekt und aller Bewunderung vor dem Geist, den Kenntnissen und der Gestaltungskraft, die es geschaffen haben, gerade angesichts der Neuauflage dieses sozusagen kanonischen Werkes der deutschen Rechtsgeschichte kurz und andeutungsweise erheben, einen Einwand, der sich nicht gegen dieses Buch


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allein, sondern überhaupt gegen die Art, wie bei uns Rechtsgeschichte betrachtet und geschrieben wird, richtet. An der Spitze seiner Erzählung der Rechtsgeschichte der fränkischen Periode (noch im ersten Band) gibt Brunner einen Überblick über die Rechtsquellen dieser Zeit, d. h. vor allem über die verschiedenen Volksrechte, die der Reihe nach, jedes für sich gesondert, vom quellenkritischen und quellengeschichtlichen Standpunkt besprochen werden. Mit dieser »quellenkritischen« Behandlung aber ist das Interesse an dem Organismus des einzelnen Volksrechts im wesentlichen erschöpft; das, was es an materiellem Recht bietet, erscheint in einem andern Zusammenhang. Es folgt nun nämlich die Darstellung der Rechtsgeschichte der fränkischen Zeit in der Weise, daß gewissermaßen durch eine Summierung der Rechtssätze der Volksrechte ein mehr oder weniger einheitliches »germanisches« oder »fränkisches« Recht konstruiert, das in seinen verschiedenen Disziplinen, wie Staatsrecht, Prozeßrecht, Strafrecht usw. behandelt wird. Dabei treten selbstverständlich in den einzelnen Disziplinen die Unterschiede der verschiedenen Volksrechte oder vielmehr ihrer einzelnen Bestimmungen hervor, und es ist keine Frage, daß diese Art, durch die Rechtsbildungen verschiedener verwandter Stämme gewissermaßen vergleichende Querschnitte zu ziehen, sehr nützlich und fruchtbar sein kann. Aber es erscheint mir völlig verfehlt, bei diesem Vergleichsprinzip stehen zu bleiben und es noch dazu zum Darstellungsprinzip einer deutschen Rechtsgeschichte zu machen. Bei dieser Methode wird die Entwicklung, das Werden und Wachsen des Rechts einem Gebilde zugeschrieben, das niemals existiert hat und dessen Beschreibung weder zeigt, wie das Recht gewesen noch wie es geworden ist. Mag es in der Urzeit einmal so etwas wie ein (nicht direkt bekanntes und höchstens durch Vergleiche zu erschließendes) germanisches Recht gegeben haben, in der Zeit unserer ältesten Quellen war es bereits nicht mehr da. Und in der fränkischen Periode noch weniger. Es ist doch nicht bloß eine Zufälligkeit der Überlieferung, daß die Rechtsquellen dieser Zeit die Rechtsaufzeichnungen der einzelnen Stämme sind, wie man etwa nach der Disposition des Brunnerschen Buches glauben möchte; sondern das Recht der fränkischen Zeit wird eben repräsentiert durch das Recht der Salier, Ribuarier, Chamaven, Sachsen, Bayern usw., und die Rechtsgeschichte der fränkischen Zeit ist zunächst und in erster Linie die Geschichte der Volksrechte. In den Grenzen der Stämme vollzog sich die Ausbildung und Weiterentwicklung des Rechts unter bestimmten geistigen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die ihr Eigenleben ausmachten. Die Volksrechte in allen ihren Teilen, wie Stände-, Straf-, Erbrecht usw. sind die organisch gewachsenen Gebilde der fränkischen Rechtsgeschichte, die ihr Geschichtschreiber zuerst zu berücksichtigen hat, nicht aber etwa das Bußensystem der Karolingerzeit. Freilich hat es darüber hinaus in vieler Hinsicht Annäherungen zu gemeinsamer Rechtsentwicklung gerade in der fränkischen Periode gegeben, die man jedoch keinesfalls durch eine Summierung der Stammesrechte ergründet. Benachbarte Rechte beeinflußten sich; kulturelle und wirtschaftliche Wandlungen, welche die Grenzen der Stämme überschritten, machten in verschiedenen Rechtsgebieten gleichartige Tendenzen geltend. Der Sieg des fränkischen Staates führte zu einem Vordringen fränkischer Rechtsanschauungen und zu einer gewissen Uniformierung bestimmter Rechtssätze; ebenso bedingte die Ausbreitung der Kirche das Eindringen eines die Stammesgrenzen mehr oder weniger ignorierenden internationalen Rechtes. Zu den Veränderungen

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und Umwälzungen im Schoße der einzelnen Volksrechte traten also die Wechselwirkungen nationaler und übernationaler Rechtsgebilde. Diese Tatsache ändert jedoch nichts daran, daß der Kern der Entwicklung, um den sich alles andere gruppiert, im Stammesrecht lag, und daß die fränkische Rechtsgeschichte komplizierter, bunter und kampferfüllter, jedenfalls anders, aussah, als sie ihre abstrahierenden Darstellungen wiedergeben.


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