§ 30. Reichsverfassung bis 1806.

(H. E. Feine.)

Wenigstens einen kurzen Hinweis verdient auch in diesen Forschungsberichten die (3.) Neuauflage der deutschen Verfassungsgeschichte vom 15. Jhd. bis zur Gegenwart von Fritz Hartung ( 1072). Ist sie doch gerade für das Studium der Entwicklung der Verfassung des Hl. Röm. Reiches zu einem unentbehrlichen Hilfsmittel geworden, zumal die Darstellung in weiten Partien auf eigener Forschung beruht und im Gegensatz zu anderen Werken (Schröder- Künßberg, Meyer-Anschütz) das Hauptgewicht weniger auf das juristisch-statische als auf das dynamische Element legt, das auch der Spätentwicklung des Hl. Röm. Reiches keineswegs fremd war. -- Als Teilveröffentlichung eines Werkes über die Landfrieden des späteren MA. schildert Ernst Bock ( 1053) den Kampf um die Landfriedenshoheit in dem seit dem Sturz Heinrichs des Löwen territorial stark zersplitterten Westfalen seit dem Interregnum, der mit dem J. 1392 seinen Abschluß fand. Die Bemühungen der Kölner Erzbischöfe, ihre Friedensgewalt aus einem ursprünglich von Reichs wegen ihnen verliehenen Amt zu einem Hoheitsrechte umzuwandeln und auf diese Weise ihr westfälisches Herzogtum allmählich zu einem Territorium umzugestalten, konnten damals als endgültig gescheitert gelten, wie denn auch an der Spitze der späteren Landfrieden nicht mehr die Erzbischöfe, sondern die aufstrebenden kleineren Landesherren standen. Auch die Versuche der Erzbischöfe, dieses Ziel auf dem Wege über die westfälischen Freigerichte, denen vom Kaiser die Landfriedensgerichtsbarkeit i. J. 1371 überlassen worden war, haben nach anfänglichen Erfolgen ergebnislos geendet. -- Mit den allgemeinen Kräfte- und Wirkungsverhältnissen von Monarchie, Einung und Territorium vor allem im späteren MA. beschäftigt sich ein weiterer Aufsatz von Ernst Bock ( 1025 b). In m. E. nicht immer ganz glücklichen Auseinandersetzungen mit Gierke, von Below und Hartung wird »die Einung als der Ausdruck der auf den ma.lichen Reichsbegriff bezogenen individualistischen Staatsidee erkannt, auf deren permanenten Gegensatz sowohl zum monarchischen Obrigkeits- als auch dem subjektivistischen Territorialstaat vor allem der eigentümliche Charakter der deutschen Reichsverfassung im MA. und ihre Entwicklung beruht.« An der Dreiheit der gegensätzlichen Begriffe Monarchie, Territorium und Einung orientiert, ordnet sich der Gang der deutschen Verfassungsgeschichte nach großen Zusammenhängen. Insbesondere sieht B. die Reichsreformbewegung im Gegensatz zu G. von Below und Fr. Hartung als stärkste spätma.liche Manifestation des Einungsgedankens an. -- Die sog. Reformation Kaiser Sigismunds beschäftigt immer wieder die deutsche Geschichtsforschung. Einen neuen, etwas komplizierten Deutungsversuch bringt nunmehr Helmut Weigel (in 146): In der


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»geistlichen Urreformation«, der Grundform jener, sieht er einen großzügigen Reformvorschlag eines Mannes in der Umgebung Kaiser Sigismunds, vielleicht im Auftrag oder wenigstens auf Anregung des Kaisers zwischen dem 8. Mai und dem 13. Juli 1434 in Ulm oder Basel entstanden.

Die Arbeit an den deutschen Reichstagsakten, ältere Reihe, ist im Berichtsjahr einen bedeutsamen Schritt vorwärtsgekommen. Der Aufsatz von L. Quidde ( 6) beleuchtet außer der Geschichte des Unternehmens kurz eine Reihe verfassungsgeschichtlicher Fragen, wie die Landfrieden, das Einungswesen, die Reichsreform, die Kirchen- und Konzilsfrage und andere. Vor allem ist nach vieljährigen Vorarbeiten der 16. Band der Reichstagsakten selbst erschienen ( 144), bearbeitet noch von H. Herre, die zweite Hälfte herausgegeben von L. Quidde. Er enthält die Akten über den Fürsten- und Städtetag zu Worms am 28. Mai 1441, über den Frankfurter Reichstag am 11. November 1441 und seine Vorverhandlungen, über die Krönung Friedrichs III. zu Aachen am 17. Juni 1442 und schließlich, etwa zwei Drittel des Bandes umfassend, den Frankfurter Reichstag von Ende Mai bis Mitte August 1442. Der Ertrag an neuem Material, das durch den Herausgeber in der Einleitung bereits sorgfältig verwertet ist, für die Reichsverfassungsgeschichte ist beträchtlich, die Anzahl der erstmalig zugänglich gemachten Dokumente überwiegt. Im Mittelpunkt der Reichstags- und sonstigen Verhandlungen steht naturgemäß die Kirchen- und Konzilsfrage, die Politik des Kaisers und der Kurfürsten bezüglich der Stellung des Reiches und des dritten einzuberufenden Konzils, auf das man sich in Frankfurt schließlich einigt (Nr. 226, 228). Die Kirchenfrage, insbesondere auch der bedeutsame Schriftwechsel der päpstlichen und der Konzilsgesandten mit dem Reichstag (Nr. 210 ff., vgl. S. 244 ff.), hat hier auszuscheiden. Die Reichsverfassung selbst betreffen namentlich die Verhandlungen zur Landfriedensfrage und zur Gerichtsreform, die in den Vorberatungen zum ersten Frankfurter Reichstag, dann auf dem Mergentheimer Fürstentag am 5. Nov. 1441 und schließlich auf dem zweiten Frankfurter Tag gepflogen wurden und daselbst in dem großen Reichsgesetz der Reformatio Friderici ihren Abschluß fanden, die aber gegen den Willen der Herren und der Städte angenommen wurde. Über ihre Vorgeschichte, Entwürfe und Textgestaltung sind wir jetzt eingehend unterrichtet (Nr. 206 ff., dazu S. 235 ff.). Dazu kommen wertvolle Beiträge zur Geschichte des Kammergerichts und der königlichen Schiedsgerichtsbarkeit (vgl. S. 242 f.). Auf dem zweiten Frankfurter Tag fanden Beratungen der Städte über ihr Einungswesen statt, die zu dem Vorschlag eines großen Städtebundes aus den bestehenden Städteeinungen und dem Entwurf von Bundesartikeln führten (Nr. 204/5). Von besonderer Bedeutung für das Reichsrecht sind die ausführlichen Krönungsakten und Krönungsberichte zum J. 1442 (Nr. 100 ff. und 107 ff., dazu S. 160 ff. und 165 ff.). Das von Hansen für amtlich erklärte Aktenstück mit Krönungsfestsetzungen des Erzbischofs von Köln weist der Herausgeber als Privatarbeit nach und stellt die Bedeutung zweier anderer wertvoller amtlicher Aktenstücke fest, die als Nr. 101 und 102 erstmalig zum Abdruck gebracht werden, einer »Ordnung für den Einritt und für die Krönung des Königs« und ein »Krönungszeremoniell«. Auch die Aktenstücke zur Erhebung einer Krönungssteuer von seiten der Juden (Nr. 288 ff.) verdienen besondere Beachtung.

Zwei weitere Arbeiten können hier, da überwiegend territorialgeschichtlichen Inhalts, nur kurz erwähnt werden. Die Abhandlung von Hans Span-


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genberg ( 1024 a) berücksichtigt auch die Verhältnisse der Reichskanzlei, wenn diese auch nicht mehr schöpferisch auf die deutsche Rechtsentwicklung eingewirkt hat, und schildert eingehend mit wertvollen neuen Einzelheiten die Zusammenarbeit des Herrschers, seiner Kanzlei und seiner Consiliarii, die im 15./16. Jhd. zum consilium formatum der Hofräte werden (vgl. S. 268). Die Arbeit von Th. Knapp ( 1045) ist deshalb reichsrechtlich bedeutsam, weil sie das umstrittene Verhältnis des Herzogtums zu den Reichsgerichten seit dem 16. Jhd. klarlegt. Württemberg besaß seit alter Zeit zwar ein privilegium de non evocando, aber keines de non appellando. Doch wurde ersteres in der Form von 1495, teils aus Unkenntnis, teils bewußt in ein Appellationsprivileg umgedeutet und so behandelt, und dieser Zustand auch i. J. 1571 vom Reichskammergericht anerkannt. Erst im 18. Jhd. war das rechtmäßige Bestehen des Privilegs wieder stark umstritten, und erst i. J. 1803 hat Württemberg mit seiner Erhebung zum Kurfürstentum ein wirkliches privilegium de non appellando erhalten. -- Der Aufsatz von Arnold Berney ( 685), der die Ereignisse am Regensburger Reichstag in den Kriegsjahren 1702--1704, den Ausbruch der Feindseligkeiten mit Bayern, die Besetzung der Reichstagsstadt erst durch bayrische, später durch kaiserliche Truppen schildert, ist verfassungsgeschichtlich deshalb von Bedeutung, weil der Verfasser eine tiefere zeitgeschichtliche Begründung des machtpolitisch wirkungslosen Gegeneinander der Reichsorgane zu geben versucht. Er findet sie in einem übersteigerten »Traditionalismus«, einer inneren Gebundenheit der Auffassung vom Reichsstaatswesen und seiner Politik, die nicht die politische Lage sehen kann, wie sie ist, sondern sich von überkommenen Maßstäben, die nicht mehr der Gegenwart angehören, nicht frei zu machen vermag, mögen diese durch die universale Kaiseridee, die katholisch-spanische Weltherrschaft oder durch den Vernichtungskampf der Konfessionen gegeneinander bestimmt sein. Solchen Traditionalismus sieht B. in der Politik Leopolds I. wie Josephs I., aber auch in der der evangelischen und katholischen Reichsstände vorwalten und den Reichsorganismus zur Machtlosigkeit verdammen. -- Einen interessanten Beitrag zum deutschen Königswahlrecht liefert der Aufsatz von Hans Gerig ( 688), der aktenmäßig den Versuch des Kölner Domkapitels schildert, bei der Wahl Karls VI. i. J. 1711 an Stelle des in Reichsacht erklärten Kurfürsten Joseph Clemens die Kölner Kurstimme zu führen. Das Domkapitel drang mit seinem Verlangen nicht durch, hauptsächlich da Österreich auf die Kölner Stimme in diesem Fall keinen Wert legte, und so ruhte die Stimme diesmal und wurde ein Präzedenzfall, der auch für Sedisvakanzen von Bedeutung hätte werden können, vermieden. -- Nicht ohne Wert für die Geschichte der Kreisverfassung im 17. Jhd. ist schließlich die Dissertation von F. W. Kaiser ( 668), welche die Kreistage zu Lüneburg und Braunschweig in den Jahren 1652 bis 1673 behandelt.


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