§ 36. Gesamtdeutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts.

(H. Wätjen.)

In dem folgenden Bericht sind die wichtigsten der in den Jahren 1927 und 1928 erschienenen Arbeiten zur allgemeinen deutschen Wirtschaftsgeschichte der neueren und neuesten Zeit kurz zusammengestellt.

Die Veröffentlichungen zur Listliteratur sind schon an anderer Stelle besprochen (vgl. S. 206), verdienen aber einen Hinweis auch von seiten des Wirtschaftshistorikers. Den Vogel schießt der treffliche, mit instruktiver Einleitung versehene 5. Band der List-Werke ab (1928 Nr. 1169). Die in ihm vereinigten Aufsätze und Abhandlungen zeigen uns List als agrarpolitischen Denker und Schriftsteller. Mit besonderer Freude begrüßen wir, daß die Herausgeber die bisher nur im Auszug bekannte Abhandlung: »Die Ackerverfassung, die Zwergwirtschaft und die Auswanderung« vollständig zum Abdruck gebracht haben. Sie ist besser als irgendeine andre Schrift geeignet, den Agrarpolitiker und Agrarhistoriker List in seiner wahren Bedeutung kennenzulernen.

Dem Andenken an Albrecht Thaer ist ein Büchlein gewidmet, das die Königliche Landwirtschafts-Gesellschaft zu Hannover herausgegeben hat. (Albrecht Thaer ... Zum Gedächtnis der 100. Wiederkehr seines Todestages ... Hannover, Engelhard in Komm., 112 S.) Die Gedächtnisschrift enthält fünf Beiträge. Und zwar eine Abhandlung von W. Bonness über Thaer und die Stadt Celle. Eine zweite aus der Feder des Göttinger Hochschullehrers W. Seedorf über Thaer und die Königliche Landwirtschafts-Gesellschaft. Endlich drei Arbeiten von Dozenten des Albrecht Thaer-Seminars in Celle, von Bierei, Bartels und Dinkhauser. Sie preisen Thaer als Begründer der rationellen Landwirtschaft, sie schildern seine wissenschaftliche Stellung und seine segensreiche Wirksamkeit für die Hebung von Ackerbau und Tierzucht Deutschlands. Alles in allem eine Sammlung, die dem Wirtschaftshistoriker eine Fülle von Anregungen bietet.

Mit dem sehr interessanten Problem der Weltwirtschaftskrise des Jahres 1857 beschäftigt sich eine Untersuchung von H. Treutler (1927, Nr. 1517). Die Entstehung dieser Krise ist mehrfach behandelt worden. Infolge der starken Ausdehnung von Eisenbahn- und Dampferverkehr seit 1848, infolge der durch die Entdeckung der kalifornischen und australischen Goldfelder veranlaßten Riesenauswanderung und der damit im Verband stehenden Steigerung des Manufakturenexports hatten Produktion wie Schaffung von Produktionsanlagen und Produktionsmitteln einen rapiden Aufschwung genommen. Um diese Neugründungen und die Erweiterungen alter Betriebe zu finanzieren, schossen in Nordamerika und Europa Notenbanken und Kreditanstalten aller Art wie Pilze aus dem Boden. Frankreich schuf zwei gewaltige Geldinstitute, den »Crédit Mobilier« und den »Crédit Foncier«. Deutschland ahmte das Beispiel nach. Hier wollte jeder Fürst, jede größere Stadt einen »Crédit Mobilier« haben. So folgte eine Bankgründung der anderen, und hoch in die Millionen gingen die


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Aktienzeichnungen. Ohne Arbeit reich werden, hieß die Parole. Am tollsten trieb man es in den Vereinigten Staaten. Aber Ende August 1857 zerplatzte die Seifenblase. Der Zusammenbruch der Ohio Life Insurance and Trust Co. gab das Signal zum allgemeinen Mißtrauen, zur allgemeinen Panik. Fast 1500 Bankinstitute mit einem Notenumlauf von 215 Millionen Dollars mußten ihre Tore schließen und 5000 überstieg die Zahl der großen und kleinen Bankerotte. Treutler zeigt nun, wie die amerikanische Katastrophe auf England, Frankreich und Deutschland übergriff, wo das aufblühende Hamburg den Hauptstoß aushalten mußte. Schwer traf der Wirbelsturm die Stadt. Aber es gelang ihrer Kaufmannschaft, mit tatkräftiger Unterstützung des Hamburger Staates, dem Unwetter Trotz zu bieten. Nur drei Prozent der Banken und Handelshäuser stürzten zu Boden, und rasch waren die Lücken wieder aufgefüllt.

Zur Geschichte der bismarckschen Sozialpolitik liefert H. Rothfels (1927 Nr. 1596) einen vorwiegend auf archivalischem Material ruhenden Beitrag. Theodor Lohmann ist Bismarcks Hauptmitarbeiter in der Sozialpolitik gewesen, aber auch sein schärfster Kritiker und Widerpart. In feingeschliffenen Ausführungen legt R. dar, wo die Wurzeln dieses Gegensatzes lagen. Lohmann war gebürtiger Hannoveraner, der sich nur widerwillig in die seit 1866 veränderten Verhältnisse hineingefunden hatte. Als pietistischer Lutheraner Gerlachscher Observanz stellte er das Religiöse vor das Staatliche. Doch »mit diesem altkonservativen Protest gegen den liberalen und omnipotenten Staat«, schreibt Rothfels, »verband sich eine Kritik sehr moderner Prägung.« Lohmann widerstrebte der Staatssozialismus, der autoritäre Zug in Bismarcks Sozialpolitik und der Gedanke der sozialen Zwangsorganisation. Sein Festhalten an der Idee der Selbstverantwortlichkeit der Arbeiter, in deren Bewegung er auch »berechtigte Elemente« sah, führte schließlich zum Bruch Bismarcks mit Theodor Lohmann.

Ein anderes Thema aus der Zeit des eisernen Kanzlers behandelt L. Maenner (1927 Nr. 1520, 1928 Nr. 1176). Bismarcks Abkehr von den Nationalliberalen und der wirtschaftliche Umschwung des Jahres 1879 bilden den Gegenstand seiner scharfsinnigen und formgewandten Monographie. Sehr klar hat er die Motive herausgearbeitet, die Bismarck veranlaßten, zum Schutzzoll überzugehen, und mit festen Strichen umreißt er die führenden Persönlichkeiten des Liberalismus, die damals im Kampf mit dem Reichskanzler unterlagen.

Die aus den achtziger Jahren des 19. Jhds. stammenden Briefe des Grafen Gustav Blome an Baron Karl v. Vogelsang (1928 Nr. 1227) -- beide waren Sprößlinge niedersächsischer Uradelsgeschlechter, beide waren zum Katholizismus übergetreten und Österreicher geworden -- sind für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des ausgehenden 19. Säkulums von geringer Bedeutung. Aber sie geben über die Verhältnisse im damaligen Österreich und die Anschauungen der österreichischen Aristokratie über Bismarcks Politik, über Kaiser Friedrich III. und Kronprinz Wilhelm mancherlei Aufschlüsse. Blome ist strenger Katholik. Um so eigenartiger wirkt sein schroffes, ja verletzendes Urteil über Windthorst.

Der durch seine Arbeiten über König Leopold I. und Alexander von Battenberg bekannt gewordene Conte Corti schildert in breiter, doch fesselnder Darstellung, die sich auf gründliche Kenntnis der Spezialliteratur und handschriftliches Material aus österreichischen Staatsarchiven stützt, die Entwicklungsgeschichte


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des Hauses Rothschild (1927 Nr. 1516, 1928 Nr. 1167). Fleiß, Einsicht, rechnerische Talente, geschmeidiges Anpassen und geschickte Ausnutzung der jeweiligen Lage des Anleihemarktes, vor allem aber das wundervolle Zusammenarbeiten der fünf Söhne von Meyer Amschel führten die Rothschilds in die Höhe und ließen sie in erstaunlich kurzer Zeit die größten Bankiers Europas werden. Da die Familienarchive der Benutzung nicht offenstehen, konnte Corti keinen Einblick in die Technik der großen Rothschildschen Finanzoperationen gewinnen. Dieser Mangel gab ihm die -- anscheinend nicht unwillkommene -- Veranlassung, auf die etwas komplizierte wirtschaftsgeschichtliche Betrachtung so gut wie vollständig zu verzichten und das Schwergewicht auf die weltpolitischen Beziehungen des Bankhauses zu legen. Ihre gewaltigen Engagements nötigten die Rothschilds, sich in allen Konflikten auf die Seite der Friedensfreunde zu stellen, und mit welchen Erfolgen sie diese Politik getrieben haben, lehrt Cortis Werk in den ihm am besten gelungenen Abschnitten.

Eine vortreffliche Biographie des Gußstahl- und Kanonenkönigs Alfred Krupp hat W. Berdrow (1927 Nr. 1518) uns geschenkt und durch eine Ausgabe von Briefen (1928 Nr. 1175) ergänzt. Aus bescheidensten Anfängen hat Alfred Krupp sich langsam heraufgearbeitet. 1851 ward ihm auf der Londoner Ausstellung die erste große Auszeichnung, die goldene Medaille, zuteil. Und nun begann der zähe, an Enttäuschung und Rückschlägen so reiche Kampf, dem Kruppstahl, dem nahtlosen Eisenbahnradreifen und vornehmlich der Gußstahlkanone Weltgeltung zu verschaffen. Geldnöte und die geschwächte Gesundheit Krupps ließen diesen Kampf zeitweilig als aussichtslos erscheinen. Aber der Essener Fabrikherr gab nicht nach. Er überwand schließlich auch das stärkste Hindernis, die Abneigung der preußischen Militärbehörden gegen seine vom Ausland längst anerkannte Gußstahlkanone. Auf Befehl des Prinzregenten Wilhelm erfolgte 1859 die erste preußische Bestellung. Damit war der Weg geöffnet, der Krupp zum Geschützlieferanten der preußischen Armee machte. Einsam geworden schloß am 14. Juli 1887 der ruhelose Kämpfer und Arbeiter, nach Erfolgen ohnegleichen, die müden Augen.


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