Frühes und hohes Mittelalter.

Unter dem Titel »Das Vizepapsttum des Abtes von S. Denis« legt M. Buchner quellenkritische Studien über Hilduin, den Erzkaplan und Staatsmann Ludwigs d. Fr., und seine Urkundenfälschungen zur Erhöhung des Ruhms seiner Abtei vor ( 1238). Neben manchem Wertvollen zur Biographie und zum literarischen Opus Hilduins, das Levison in einer Besprechung bereits gewürdigt hat, muß die Hauptthese als verfehlt bezeichnet werden. B. kommt von der Titulatur apocrisiarius, die sich für Hilduin einmal findet, zu einer völlig unzutreffenden Gleichsetzung mit vicarius apostolicae sedis, welche höchste hierarchische Würde Drogo, zwar ebenfalls Erzkaplan, doch nur als Sohn Karls d. Gr. und Bischof von Metz erhalten hat. Selbst vicarius apostolicae sedis aber würde höchst unglücklich mit »Vizepapst« wiedergegeben werden, und so ist nur zu wünschen, daß dieser neue Terminus ebenso plötzlich wie er aufgetaucht ist, wieder verschwinden möge. Ebenso erledigen sich alle weittragenden Folgerungen, die B. aus seiner Interpretation gewinnt. -- G. Laehr widmet der Übersetzertätigkeit des päpstlichen Bibliothekars Anastasius einen Aufsatz ( 1239), welcher die Edition der Vorreden des Anastasius im VII. Band des Epistolae zu illustrieren bestimmt ist. Er verfolgt die Beziehungen dieser Vorreden zu den wechselnden Bedürfnissen der päpstlichen Politik der Zeit und zeigt, wie der Gelehrte und der Diplomat Anastasius nicht voneinander zu trennen sind. --Eichengrün ( 1240) versucht Gerbert (Silvester II) als Persönlichkeit zu würdigen und mittels einer Analyse der Briefe und Schriften des Mannes eine Grundlage zu gewinnen, um Meinungen und Taten dieses vielbewegten Lebens aus einer einheitlichen Geistigkeit heraus zu deuten. Aber weder das spröde Material, noch die geringe Übung des Verfassers in geistesgeschichtlicher Arbeitsweise reichen zu solchem Unternehmen aus, und vielleicht muß die Beantwortung der Grundfrage überhaupt eine negative sein: der Papst Silvester II. ist nicht mehr der Gelehrte Gerbert, sondern durch die übermächtige Tradition seines Amts umgeprägt. Die Studie von Rony ( 1241) über die französische Politik Gregors VII., besser über die Spezialfrage der Legation Hugos von Die-Lyon, berücksichtigt die vorangegangene deutsche Literatur, die Monographien von Lühe und Wiedemann (Manasses von Rheims) nicht; auch die neuere Forschung über das Gregorregister und die Monumentenausgabe desselben (1920--1923) sind ihm unbekannt geblieben. R. hätte sonst nicht mehr in den alten Irrtum der Umdatierung von Briefen des Registerschlußteils (9. Buch) um Jahre zurück verfallen können, welche bei ihm ein falsches Bild des Konflikts zwischen Gregor und seinem Legaten ergibt. --Derselbe ( 1242) versucht in einem Aufsatz über die Wahl Victors III. Desiderius gegen die Auffassung von Fliche, welcher sich Hugo von Dics Vorwürfe gegen Desiderius zu eigen macht, zu verteidigen. Sein langes Hinauszögern der Annahme der Wahl sei dadurch zu erklären, daß er nicht zu den von Gregor VII. designierten Kandidaten gehörte, während die Normannen seine Kandidatur betrieben. Erst


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als er die Hoffnung, diesem Zwang zu entgehen, entschwinden sah, habe er angenommen. Die Schilderung der Ereignisse bei Petrus diaconus von Monte Cassino sei der tendenziösen Hugos vorzuziehen (ist aber selbst, wie alles bei diesem Autor, mit Vorsicht zu behandeln). Ein Anachronismus ist es natürlich, wenn R. bei dieser Papstwahl bereits von einem 'Konklave' spricht. -- Ein prächtiger Fund ist W. Holtzmann im Britischen Museum geglückt ( 1243): das Protokoll einer Konstantinopler σἋνοδοσ ἔνδή;μοῦσα vom September 1089 in Gestalt eines Rundschreibens an die östlichen Metropoliten, betreffend den Antrag Papst Urbans II., seinen Namen in die diptycha der Konstantinopler Kirche aufzunehmen, dazu ein Brief des Patriarchen Nicolaus von Konstantinopel an Urban II. mit der Aufforderung, ein Glaubensbekenntnis (zwecks weiterer Verhandlung der westöstlichen Lehrdifferenzen) einzusenden, und ein anderer Brief des (vertriebenen) griechischen Metropoliten Basilius von Reggio (Calabrien) an Nicolaus über seinen Zusammenstoß mit Urban II. auf dem Konzil von Melfi 1089, welch letzterer Brief dann zum Scheitern der ganzen Anknüpfung führte. Diese Dokumente bereichern in der sachkundigen und erschöpfenden Interpretation von H. unsere Kenntnisse über Urbans II. Politik im besonderen und die aktive Unionspolitik des Reformpapsttums im allgemeinen in vielfacher Hinsicht bedeutend. -- P. Kehr beschenkt uns erneut mit zwei Abhandlungen, welche seine spanischen Papsturkundenfunde historisch auswerten. In der einen ( 1245) behandelt er die Frage der Lehnsübertragung des Reichs Aragon an die römische Kirche. Sicher steht fest, daß sie durch König Sancho Ramirez im Jahre 1068 mittels Kommendation an Alexander II. erfolgte, worauf im Jahre 1089 die Verpflichtung zu einem Jahreszins von 500 Mankusen durch Urban II. festgesetzt wurde, ferner, daß die Einführung des römischen Ritus in Aragon den Bemühungen des Kardinallegaten Hugo Candidus, nach einem vergeblichen Versuch im Jahre 1065, bei seiner zweiten Legation im Jahre 1071 gelang. Die Originalurkunde Gregors VII. aber, welche die Lehnsnahme bereits dem Vater Ramiro Sanchez', Ramiro I., und die Einführung des römischen Ritus dem Bischof Garcia von Jacca zuschreibt, berichtet historisch Falsches; der Papst ist offenbar durch Intrigen Garcias gegen seinen Bruder Sancho Ramirez irregeführt worden. Die zweite umfassende Abhandlung ( 1244) setzt die vor zwei Jahren erschienene Untersuchung über die Beziehungen des Papsttums zum katalonischen Prinzipat fort für die Reiche Navarra und Aragon; sie ist nicht minder reich an neuen Aufschlüssen; die intensive Arbeit der Päpste von Alexander II. bis zur Mitte des 12. Jhds. an der völligen Einordnung Spaniens in das römische System, die hier einen Erfolg wie nirgend sonst zeitigte, tritt eindrucksvoll hervor. -- Das Entsprechende leistet für Portugal eine Abhandlung von C. Erdmann ( 1246), der für das Kehrsche Unternehmen die dortigen Papsturkunden gesammelt hat. Die Unterordnung Portugals unter Rom geht Hand in Hand mit der Entstehung eines selbständigen Königreichs Portugal, das sich nicht ohne Schwierigkeiten gegen den päpstlichen Generalplan einer Zusammenfassung aller christlichen Kräfte der Halbinsel gegen den Islam durchgesetzt hat. Die Entwicklung setzt hier freilich erst in den neunziger Jahren ein mit der Errichtung einer Grafschaft Portugal durch Alfons VI. von Leon für seinen Schwiegersohn Heinrich von Burgund, der die Cluniacenser heranzog. Die Streitigkeiten um die hierarchische Organisierung der portugiesischen Kirche in Auseinandersetzung mit den Ansprüchen spanischer Metropolen hat

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sich bis in die Mitte des 12. Jhds. hingezogen. -- Die formale und sachliche Eigenart der berühmten Deliberatio Innocenz' III. über den Thronstreit des Jahres 1198 beleuchtet G. Tangl ( 1251) durch Heranziehung eines früheren, schlichteren Beispiels einer auf Konsistorialverhandlungen beruhenden Entscheidung des Papstes vom März 1198 (Reg I, 69) mit der gleichen Dreigruppierung der Argumentation: quid liceat, quid deceat, quid expediat.


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