§ 41. Geschichte des Judentums.

(F. Friedlaender.)

Ein Forschungsbericht über die wichtigsten Neuerscheinungen auf dem Gebiete der Geschichte der Juden in Deutschland muß notwendigerweise mit einem Hinweis auf die zentrale Unternehmung der gegenwärtigen jüdischen Wissenschaft beginnen: die Encyclopaedia Judaica ( 1480). Das monumentale Nachschlagewerk bietet für unser spezielles Gebiet eine Fundgrube der vielseitigsten Belehrung. Die einzelnen Artikel, die bisweilen den Charakter von kleinen Monographien annehmen, fassen das bisherige Wissen über die verschiedenen Gegenstände in einem wohlabgerundeten Bilde zusammen und gewähren darüber hinaus neue beachtenswerte Gesichtspunkte. In dem Mitarbeiterstab sind eine Reihe von Gelehrten vertreten, die sich bereits durch einschlägige Forschungen und Studien hervorgetan haben. Diese Feststellung gilt zunächst für die beiden zuerst erschienenen Bände. Eine Übersicht über die Artikel aus den ersten drei Bänden habe ich auf S. 174 des I. Jahrg. der neu begründeten »Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland« (Berlin, Philo-Verlag) gegeben. Kein Gelehrter, der künftig auf dem Gebiete der Geschichte der Juden in Deutschland arbeitet, wird jenes gewaltige Sammelwerk entbehren können.

M. Freudenthal hat bereits seinerzeit in der »Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums«, Bd. 45 (1901) die Verzeichnisse der jüdischen Besucher der Leipziger Messen aus den im Dresdener Hauptstaatsarchiv befindlichen Leipziger Meßbüchern veröffentlicht. Damals behandelte er nur den Zeitraum von 1668 bis 1699. Dank der Unterstützung, die ihm jetzt die »Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums« gewährte, konnte Freudenthal in einem selbständigen Werke die Fortsetzung und endgültige


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Zusammenfassung seiner Forschungen bringen ( 1490). Jene Meßbücher wurden zur Steuerkontrolle über sämtliche Juden, die die Leipziger Messe aufsuchten, geführt. Jeder jüdische Messebesucher mußte an den Toren der Stadt Leipzig für sich und seine Angehörigen einen hohen Leibzoll entrichten. Außerdem mußte er für alle Waren, die er zur Messe einführte und dort verkaufte, bestimmte Einfuhr- und Akzisezölle bezahlen. Leider fehlen in den Meßlisten die Namen derjenigen Juden, die im direkten Auftrag regierender Landesherren die Messe besuchten. Denn gerade jene mit Frei- und Kammerpässen versehenen »Hofjuden« haben eine hochbedeutsame Rolle gespielt. Von den übrigen Juden haben in dem angegebenen Zeitraum nicht weniger als 81 937 Handeltreibende die Messen aufgesucht; darunter befanden sich 59 264 selbständige Kaufleute sowie 22 673 Frauen, Diener, Mäkler und Musikanten. Die von ihnen bezahlten Leibzollgebühren brachten der Stadt Leipzig die erhebliche Summe von 719 661 Talern ein. Sehr aufschlußreich ist das Bild, das die geographische Verteilung der Leipziger Meßjuden entrollt. An weitaus erster Stelle stehen die Juden aus Dessau, Halberstadt und Prag. Jedoch auch ausländische Juden scheuten die weite Reise nicht. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Juden, wie auch Sombart in seinem Werke »Die Juden und das Wirtschaftsleben« bemerkt hat, an der immer wachsenden Bedeutung der Leipziger Messen einen erheblichen Anteil gehabt haben. Aber nicht nur für die Wirtschaftsgeschichte sind die Verzeichnisse der jüdischen Messebesucher aufschlußreich. Die nunmehr in Fluß gekommene jüdische Familienforschung erhält durch die Personennamen reiche Fingerzeige. Die Ortsangaben liefern der Gemeinde- und Lokalgeschichte, die Mitteilung der verschiedenen Berufe der Kultur- und Sittengeschichte der deutschen Juden überaus wertvolles Material. Mithin werden die wichtigsten Diszipline der Geschichte der Juden in Deutschland durch Freudenthals Quellenwerk befruchtet.

Ellen Littmann gibt in ihrer Abhandlung »Studien zur Wiederaufnahme der Juden durch die deutschen Städte nach dem schwarzen Tode« ( 1481) einen in mancher Hinsicht klärenden Beitrag zur Geschichte der Judenpolitik der deutschen Städte im späten MA. Obwohl die Verfasserin ihre Arbeit, die auf ihrer Kölner Doktordissertation beruht, infolge der Fülle des Stoffes auf eine Auswahl beschränken mußte, erhalten wir dennoch eine systematische Zusammenfassung der Bedingungen, die an die Wiederaufnahme der Juden in die deutschen Städte geknüpft waren. Das eigentliche Hauptproblem, das sie sich gestellt hat, ist die Erforschung des merkwürdigen Phänomens, das durch die baldige Wiederansiedlung der vertriebenen Juden gegeben ist. Die furchtbare Judenschlacht des Jahres 1348 war die intensivste Verfolgung, die die Geschichte der deutschen Juden aufweist. Nunmehr begann ein häßliches Feilschen um ihr hinterlassenes Gut und daran anschließend ein heftiger Kampf um das einträgliche Judenregal, das nach 1348 allgemein auf die Städte übergeht. Es ist die Stadt, die die Wiederansiedlung gewährt und auch die Höhe der Steuern festsetzt. Schon in den fünfziger und sechziger Jahren des 14. Jhds. werden die Juden durch Vermittlung und unter Vormundschaft der deutschen Städte wiederaufgenommen. »Drei Gründe veranlassen ... die Städte zur Wiederaufnahme der Juden: einmal sind sie gezwungen, für das an die Gläubiger bezahlte Geld neue Geldquellen zu erschließen oder sie sind ohne Einnahme seitens der Juden nicht zur Auszahlung an ihre Gläubiger imstande, endlich wird auch die schlechte


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Lage des Geldmarktes, die durch das Ausscheiden des jüdischen Geldhändlers bedingt ist, die Stadt zur Wiederaufnahme gezwungen haben.« Die Aufnahme der Juden, deren Bedingungen die Stadtobrigkeit festsetzte, war eine zeitlich begrenzte. Einzelaufnahme wurde mehr und mehr üblich. Die Juden wurden vom Grundbesitz ausgeschlossen und in Zwangswohnsitze in bestimmt abgegrenzten Bezirken verwiesen. Nur der Geldhandel war ihnen erlaubt. Sie wurden Bürger zweiten Ranges. -- Das große, auf neuem Urkundenmaterial aufgebaute Werk R. Anchels: Napoléon et les Juifs ( 1487) gibt der Judenpolitik des Kaisers, die man bisher als eine Förderin der Judenemanzipation ansah, ein negatives Vorzeichen. Wenn auch dieses summarische Urteil überspitzt ist, so sprechen doch viele der von Anchel beigebrachten Tatsachen für sich selbst. Auch die Verhältnisse der deutschen Juden, insbesondere der elsässischen und der rheinischen, werden hiervon berührt. Namentlich auf die gegen die elsässischen Juden gerichtete Wucherbeschuldigung fällt neues Licht. Danach hatten die Erwerber der konfiszierten Emigrantengüter vielfach den Kredit der jüdischen Finanz in Anspruch genommen. Sie suchten nun durch eine -- nur in vereinzelten Fällen berechtigte -- Wucherbezichtigung sich ihren Verpflichtungen zu entziehen. Napoleon willfahrte ihnen, indem er 1806 die Forderungen der Juden, soweit sie die bäuerliche Bevölkerung betrafen, in den östlichen Departements auf ein Jahr suspendierte. Auch in Napoleons seltsame Bemühungen, den jüdischen Kultus zu organisieren, wurden deutsche Juden als Mitglieder der jüdischen Notabelnversammlung und des Großen Sanhedrin verwickelt. Gegen Napoleons sog. »schmachvolles« Dekret von 1808 standen sie in Opposition.

Moritz Stern behandelt unter Zugrundelegung des Aktenmaterials den Passauer Judenprozeß im Jahre 1478 ( 1484). Die schwere Beschuldigung der Hostienschändung bildete ebenso wie in dem vorangegangenen Regensburger Judenprozeß, mit dem der Paussauer in Zusammenhang steht, den Gegenstand der Anklage. Über den Passauer Prozeß gibt ein illustrierter Geschichtsbericht -- ein Flugblatt mit zwölf Holzschnittbildern, das wohl aus dem Kreise der Passauer Geistlichkeit stammt -- sowie ein ausführlicher lateinischer Prosabericht eines Anonymus im Anfang des 16. Jhds. Nachricht. Danach verkaufte ein christlicher Kirchenräuber den Juden Hostien; er verriet späterhin der christlichen Obrigkeit jenen Kaufhandel. Die Juden wurden wegen Hostienfrevel angeklagt, gefoltert, zum Tode verurteilt und nach einem vergeblichen Eingreifen des Kaisers Friedrich III. sämtlich, zehn an der Zahl, hingerichtet. Der Bericht über die Geständnisse der Juden wurde nach Regensburg gesandt, wohl um etwaige Verbindungsfäden mit dem dortigen Hostienschändungsprozesse festzustellen. Bei der objektiven Nachprüfung der Schuld der gefangenen Juden kommt der Verfasser zu dem Ergebnis, daß beweiskräftige corpora delicti überhaupt nicht existierten. Die bezichtigenden Aussagen jenes christlichen Verbrechers sind durchaus nicht glaubwürdig. Die »wider des Kaisers Willen« hingerichteten Juden haben weder die Hostien gekauft noch sie durchstochen oder verbrannt.

Ebenso für die Geschichte der Juden in Berlin wie für die Geschichte des Siebenjährigen Krieges aufschlußreich ist das statistische Material, das J. Meisl veröffentlicht ( 1491a). Bekanntlich ist Berlin während des Siebenjährigen Krieges zweimal in Feindeshand gefallen. Bei der ersten Besetzung der Stadt durch die Österreicher am 16. Oktober 1757 mußte die Judenschaft Berlins 3545 Rtlr. in Friedrichs- und Louisdor, 1300 Dukaten à 3 Rtlr. und 12 555 Rtlr. in 66 Beuteln


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und Paketen an Weiß- und Silbergeld zur Kontributionssumme beitragen. Bei der zweiten Besetzung durch die Russen und Österreicher in der Zeit vom 9. bis zum 12. Oktober 1760 trug die Judenschaft zu der ersten Rate der Kontribution, die noch während der Okkupation bezahlt werden mußte, 100 000 Rtlr. bei; außerdem noch für gelieferte Waren an den Kaufmann Gotzkowsky, der die Verhandlungen leitete, 11 598,23 Rtlr. Am 18. Oktober zahlte sie 41 900 preußische Eindrittel-Taler und ferner in Gold 44 600 neue Friedrichsdor, 13 500 Augustdor und ferner am 13. oder 15. Januar 1761 29 300 preußische Eindrittel- Taler und 10 400 neue Friedrichsdor und 1300 Augustdor. -- Der Aufsatz enthält mit seinen spezifizierten Angaben auch einen Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte der Berliner Juden.

Die beiden folgenden Schriften gehören der apologetischen Literatur an. Sie entsprechen jedoch beide den Anforderungen wissenschaftlicher Objektivität. Denn obwohl sie Tendenzschriften gegen den Antisemitismus sind argumentieren sie nicht mit subjektiven Meinungen, sondern mit historischem Tatsachenmaterial. A. Eckstein, der Erforscher der Geschichte der fränkischen Judenheit, veröffentlicht in seiner geschichtswissenschaftlichen Untersuchung ( 1485) vornehmlich sorgfältige und genaue kriegsstatistische Tabellen, aus denen die Anteilnahme der bayrischen Juden am Weltkriege hervorgeht. Eine Einleitung über die seelische Situation der bayrischen Juden geht voraus. Vom Standpunkt des christlichen Theologen erörtert Eduard Lamparter in seiner Schrift: Das Judentum in seiner kultur- und religionsgeschichtlichen Erscheinung den Beitrag, den das Judentum zur Kulturentwicklung der Menschheit geleistet hat. Er streift dabei auch die Geschichte der Juden in Deutschland und charakterisiert Persönlichkeiten wie Börne, Heine, Karl Marx und namentlich Gabriel Rießer im Sinne eines gemäßigten und toleranten Liberalismus.

Entsprechend der Überlieferung der alten Reichsgeschichte gehören die Juden in Österreich gleichfalls zu dem hier behandelten Stoffkreis. H. Flesch teilt mit dem »Pohrlitzer Memorbuch« (Jb. jüd.-lit. Ges. 19) eins jener literarischen Erinnerungszeichen mit, die dem Andenken der jüdischen Märtyrer gewidmet wurden. Es sind dies sieben lose Blätter, die die Namen der 1421 in Wien verbrannten 90 Männer und 120 Frauen aufbewahren. -- Die von M. v. Portheim in dreißigjähriger Sammelarbeit zusammengestellten und von M. Holzmann mitherausgegebenen »Materialien zu einer Bibliographie der österreichischen Juden 1740--1792« ( 1482) bringen zum erstenmal für die Geschichte der österreichischen Juden im Zeitalter des Absolutismus zahlreiche bibliographische Notizen bei, die freilich eine schärfere kritische Auswahl vertragen hätten. -- L. Batos Buch: Die Juden im alten Wien schildert in mehr essayistischliterarischer Form die wechselvollen Schicksale, die die Wiener Juden von dem Judenprivileg des Jahres 1244 bis in die Gegenwart hinein erfahren haben. Die führenden Persönlichkeiten, insbesondere die historisch bedeutsamen jüdischen Finanzmänner sowie die sozialen Zustände, der gesellschaftliche Auf- und Abstieg der jüdischen Schichten werden anziehend geschildert. Dabei findet die moderne Entwicklung der Wiener Juden in dem zionistisch gesinnten Verfasser einen gestrengen Kritiker ( 1483).

Eine Querverbindung von Sozial- und Rechtsgeschichte stellt Guido Kischs Untersuchung: Die Anfänge der jüdischen Gemeinde zu Halle ( 1491) dar. Der Verfasser gibt zunächst einen Überblick über die Geschichte der Juden in Halle


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im MA. Er zeigt sodann, wie die brandenburgisch-preußische Judenpolitik, namentlich die des Großen Kurfürsten, entsprechend der ökonomischen Staatsmaxime des Merkantilismus mit den Juden toleranter verfuhr. Trotzdem konnten die Juden erst im Jahre 1686 sich in Halle festsetzen. Von vier Familien im Jahre 1692 wuchs die jüdische Bevölkerung in Halle auf zwölf Familien im Jahre 1700 an, wobei die Kopfzahl wenigstens ungefähr siebzig Personen betrug. Im Anfang des 18. Jhd. vergrößerte sich die jüdische Gemeinde Halles ebenfalls nur sehr langsam; und zwar infolge der starken Beschränkung der Zulassungen. Die wesentlichste Ursache hierfür ist in dem eigenen Widerstand der zugelassenen Juden zu suchen, die in dem Kampfe um die Erlangung eines Schutzbriefes die gefährliche Konkurrenz der unvergleiteten, d. h. nicht privilegierten Juden abwehren mußten. (Vgl. auch S. 433. 474. 500.)


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