§ 43. Staatsanschauungen des 16. und 17. Jahrhunderts.

(H. Baron.)

Über die Staatsanschauungen des 16. Jhds. erhalten wir zum ersten Male eine einheitliche Darstellung in einem englischen Werk von F. W. Allen ( 628). Das Buch verdient auch bei uns Aufmerksamkeit, da wir keine entsprechende Zusammenfassung in der deutschen Literatur besitzen. Die Darstellung gliedert sich nach Ländern. Italien, das Land Machiavellis, steht am Schlusse, wird also gewissermaßen aus der übrigen Entwicklung herausgenommen. Dadurch konzentrieren sich die übrigen Teile auf die Fragestellung, die wirklich die entscheidende für die Staatsanschauung des 16. Jhds. ist: Hat die Staatslehre der Reformatoren sich allmählich auch außerhalb der Theologie durchgesetzt, oder sind die politischen Faktoren stärker gewesen und haben die ursprünglichen Anschauungen der Reformatoren grundlegend verändert oder ganz unterdrückt? Die Antwort hängt natürlich großenteils davon ab, was man als Standpunkt der Reformatoren gelten läßt. Nach A.'s Auffassung haben die Reformatoren als spezifisch religiöse unpolitische Geister keine auf die Dauer haltbare Staatslehre geschaffen. Das scheint A. vor allem am Beispiele Luthers deutlich. Er findet bei ihm eine ganz unpolitische Grundstimmung, »his profound pacifism, his conviction, that violence was no remedy for anything, his dislike and suspicion of man-made law« ( 28). Duldender Gehorsam und Verurteilung jedes Widerstands der Untertanen ergaben sich daraus als Folgerungen für das staatliche Leben. Nur gezwungen, unter dem Ansturm der übermächtigen politischen Wirklichkeit, sei Luther von dieser Linie abgewichen. Ziemlich das Gleiche gilt nach A. für alle Reformatoren, auch für Calvin, trotz einer etwas größeren Nähe zum politischen Leben. Auch Calvin war ohne inneres Verhältnis zu einer bestimmten Verfassungsform, auch er kannte kein Widerstandsrecht der Untertanen gegen eine tyrannische oder nicht rechtgläubige Obrigkeit. Bei dieser Auffassung von den Reformatoren kann A. ihren Staatsanschauungen natürlich keine großen Wirkungen auf die Folgezeit zutrauen und ebenso wenig später einen nennenswerten Unterschied zwischen der Staatsanschauung des Luthertums und der des Calvinismus feststellen. In beiden Konfessionen hat sich, nach seiner Schilderung, die unpolitische Forderung nach unbedingtem Gehorsam auch gegen die andersgläubige Obrigkeit gleichmäßig als unmöglich erwiesen. Lutheraner wie Calvinisten wandten sich von der ursprünglichen reformatorischen Staatslehre ab und nahmen auch für die sogenannten »unteren Obrigkeiten« (hier Territorialfürsten, dort Parlamente und Stände) einen direkten göttlichen Auftrag zum Schutze der Religion in Anspruch. Bei den einen bedeutete das Magdeburger Bekenntnis von 1550, bei den andern das Auftreten von John Knox den vollständigen Bruch mit den Lehren der Reformation. Der Hauptteil des Buches schildert diese neuen Ideen, die


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an die Stelle der reformatorischen traten. (Besonders berücksichtigt sind Frankreich und England, während die deutsche Entwicklung zurücktritt und keinen eigenen Abschnitt erhält.) Die politischen Verhältnisse haben sich also nach dieser Darstellung als stärker erwiesen als der religiöse Ausgangspunkt der Reformation. Ein grundsätzlicher Fehler der ganzen Betrachtungsweise liegt m. E. in A.'s unrichtiger Beurteilung der Reformatoren; auch die spätere Entwicklung tritt dadurch in ein schiefes Licht. Schon daß Zwingli völlig übergangen und Melanchthon mit wenigen Seiten abgefunden wird, schafft einen falschen Ausgangspunkt. Das Entscheidende aber ist das Fehlen jeder »religionssoziologischen« Betrachtungsweise. Die Feststellung einer Spannung zwischen Religion und Politik trifft ja nur die eine Seite des Tatbestands. Ebenso sicher ist, daß jede religiöse Grundidee auch positive Wirkungen auf die Gestaltung der politisch-sozialen Wirklichkeit entfaltet, insofern sie bestimmte Vorstellungen über das Zusammenleben der Gläubigen untereinander und damit mittelbar auch für die Gestaltung des staatlich-sozialen Lebens in sich schließt. Daß Luther und Calvin auf diesem Wege zu sehr verschiedenartigen politischen und sozialen Anschauungen gelangten, steht, wie man kaum bezweifeln kann, seit Troeltschs Untersuchungen über die »Soziallehren der christlichen Kirchen« fest. Nur über den Grad der Unterschiede kann man streiten. Besonders deutlich sind bei Calvin die Verbindungsfäden zwischen der Religiosität und bestimmten Idealen der Staatsform, des Widerstandsrechts usw.; ich verweise zur Korrektur von A.'s Darstellung auf meine 1924 erschienene Untersuchung über Calvins Staatsanschauung. Wird aber einmal die Bedeutung der religiösen Überzeugungen für die politische Gedankenbildung und ein tiefgreifender Unterschied zwischen Luther und Calvin in dieser Hinsicht zugegeben, so wird man den Einfluß der verschiedenen religiösen Standpunkte auch auf die spätere Entwicklung viel höher anschlagen müssen als A. es tut. Dann ergäbe sich ein ganz anderes Bild des historischen Ablaufs.

Daß freilich über Tragweite und Grenzen der religionssoziologischen Fragestellung heute das letzte Wort noch nicht gesprochen ist, zeigt u. a. jetzt wieder die Untersuchung von Leube über die Staatsanschauungen des Luthertums ( 1395). L. prüft nach, wieweit für die lutherischen Juristen und Theologen des 16.--18. Jhds. der Satz gilt, »daß der Glaube, den sie bekennen, notwendig zu bestimmten, gesellschaftlichen Anschauungen führt.« Er glaubt in der Tat feststellen zu können, daß die Balthasar Schupp, Seckendorf und andern lutherischen Staatslehrer, deren Anschauungen er vorführt, subjektiv davon durchdrungen waren, »daß die Reformation soziologische Bedeutung hat«. Aber der objektive Befund stimmt damit, wie L. feststellt, nicht überein. Tatsächlich war der konservativ gebundene Patriarchalismus dieser Männer doch ein Sieg der politischen Verhältnisse des deutschen Territorialstaats über religiöse Motive. »Wir dürfen uns nicht darüber hinwegtäuschen,« warnt L., »daß Seckendorf ebensowenig wie Schupp und die protestantischen Dogmatiker des 17. Jhds. ihrem christlichen Glauben sozial gestaltende Wirkungen im eigentlichen Sinne des Wortes zugeschrieben haben« ( 149). Nur außerhalb der offiziellen Lehre, bei Joh. Val. Andreae, glaubt L. das genuine lutherische Staatsdenken sich wenigstens in der Form der Utopie (in der »Reipublicae christianae descriptio« 1619) frei entfalten zu sehen. Aber selbst diese Annahme ist nicht bedenkenfrei. Aus Andreae spricht sicherlich kein reines Luthertum,


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liegt doch seine historische Bedeutung gerade in der Erweiterung des Lutherischen Ideenkreises durch fremde (darunter Erasmische) Gedanken.

Die kurzen Bemerkungen von Wendorf ( 634) versuchen Zwinglis Staatsanschauung psychologisch zu interpretieren, ohne aber dabei viel nach seinen religiösen Überzeugungen zu fragen. Sie führen Zwinglis politischen »Optimismus« und sein lebendiges Interesse am staatlichen Leben auf einen »naturhaft angeborenen Sinn für alles staatliche Sein« zurück und leiten seine Neigung zu demokratischen Staatsformen aus den »Verfassungsverhältnissen seiner Schweizer Heimat« ab. Das ist natürlich nicht falsch, streift aber nur die Oberfläche. Ohne Rücksicht auf Spannung und Zusammenhang der politischen und religiösen Überzeugungen läßt sich ein tieferes Verständnis des Reformators nicht gewinnen.

Ich verweise hier noch auf eine Studie von Paul Kirn über »Saul in der Staatslehre« (in nr. 149), die zwar zeitlich ebensosehr das Mittelalter berührt, aber wegen ihrer Ergebnisse beim Vergleich Luthers und Calvins auch in unserem Zusammenhange Interesse besitzt. K. gibt eine Art Parallele zu der bekannten Untersuchung Jellineks über »Adam in der Staatslehre«. Die Gestalt Sauls ist für einen derartigen Längsschnitt sehr geeignet, weil Saul auf der einen Seite als Vernichter der politischen Freiheit der Richterzeit und als Typus des Tyrannen, der sich über jede rechtliche Bindung hinwegsetzt, auf der andern Seite wegen seiner göttlichen Berufung und Salbung durch Samuel als Inbegriff des von Gott gewollten, durch geistliche Krönung legitimierten absoluten Monarchen aufgefaßt werden konnte. Für die Staatslehre des Mittelalters, die in der Bibel eine Rechtsquelle sah, spielte die Gestalt Sauls daher eine wichtige politische Rolle: Kaiserliche, päpstliche und demokratisch gesinnte Publizisten deuteten sie jeder in seinem Sinne aus. Mit der Reformation schien zunächst Sauls Rolle ausgespielt: Für Luther, der die Welt des inneren Glaubens und die Welt des Staates scharf voneinander trennte und es ablehnte, im alten Testament politische Regeln für die Gegenwart zu suchen, spielte das ma.liche Motiv keine Rolle mehr. Dagegen gelangte Saul bei Calvin, der im alten Testament und besonders im Staat der Richterzeit eine Norm für das politischsoziale Leben fand, noch einmal zu politischer Bedeutung: Er erschien jetzt mehr denn je als Prototyp des Tyrannen, als Werkzeug göttlicher Strafe für ein Volk, das der republikanischen Freiheit der Richterzeit unwürdig geworden war. Von Calvin ging diese Tyrannen-Auffassung Sauls mit steigender Bedeutung in die Staatslehren der Monarchomachen über.

Im einzelnen kreist die Diskussion über die Probleme der Staatsanschauung der Reformatoren vielfach noch immer um die Streitpunkte, die durch die Angriffe Holls gegen die bekannte Luther-Auffassung Troeltschs vor etwa zehn Jahren in den Mittelpunkt des Interesses traten. Vor allem handelt es sich dabei um das Verhältnis der Reformatoren zur Idee des »Corpus Christianum« und um die Rolle des sog. »Christlichen Naturrechts« für die Staatsanschauung der Reformation.

Die Behauptung, daß die Reformation die ma.liche Idee des »Corpus Christianum«, also die Auffassung der weltlichen Obrigkeit als eines Gliedes der christlichen Gesellschaft, nur umgebildet, aber nicht durch eine Säkularisierung des Staates im modernen Sinne ersetzt habe, hat bekanntlich zuerst durch Rudolf Sohms »Kirchenrecht« Verbreitung gefunden. Als dann Troeltsch


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diese Auffassung durch den Nachweis bestärkte, daß die »3 Ämter« oder »Ordnungen«, auf denen Luthers Sozialanschauung sich aufbaut, in Luthers Sinne nur verstanden werden, wenn man auch ihre Funktion als »Stände der Kirche« oder »Hierarchien« betont, schien die Bedeutung der Corpus Christianum-Idee für das Verständnis der reformatorischen Staatsanschauungen eine sichere Tatsache zu sein, bis Holl vor etwa 10 Jahren grundsätzliche Angriffe gegen diese ganze Auffassungsweise richtete. Holl behauptete nichts weniger, als daß Wort und Begriff eines Corpus Christianum den Quellen vollständig fremd und von Sohm und Troeltsch willkürlich in sie hineingelesen wären. Holl glaubte den alten Anspruch, daß Luther der Schöpfer der modernen Staatsauffassung sei, aufrechterhalten zu können. Ein großer Teil der jüngeren Forscher, besonders unter den politischen Historikern, trat auf seine Seite. Seitdem geht die Diskussion hin und her, ohne daß man behaupten dürfte, daß bisher eine endgültige Entscheidung gefallen wäre. In dieser etwas verworrenen Lage kann eine Besinnung auf die Entstehung und Entwicklung der ganzen Streitfrage Nutzen stiften, wie sie K. Matthes in seinem gewissenhaft gearbeiteten Überblick über die Auffassung des »Corpus Christianum« im Wandel der Lutherforschung von der Aufklärung bis zur Gegenwart vorlegt ( 1414). Nach einer Skizze der älteren Forschung werden hier die beiden großen Heerlager in ihren Hauptvertretern charakterisiert: Auf der einen Seite die Gegner des Corpus Christianum- Begriffs, darunter Brieger, Lenz, Brandenburg, v. Schubert, v. Below und die neuerdings von Holl beeinflußten oder ihm nahestehenden Forscher W. Walther, Joachimsen, Holstein, Binder, Boehmer, Ritter, Pauls, -- auf der andern Seite der mehr oder minder am Corpus Christianum orientierte Typus der Forschung, außer Sohm, Troeltsch und Meinecke: Rieker, Eger, Hermelink, Karl Müller, v. Gierke, Wünsch, Wolff, Wendland, E. Foerster, Bredt, Borcherdt, Joh. Kühn und W. Koehler. Matthes selbst steht im wesentlichen auf der Seite von Sohm und Troeltsch, obwohl er auch die Schwächen der Troeltschen Bücher kennt. In Holls Kampf gegen den Gebrauch des Corpus Christianum-Begriffs für Luther kann er letzten Endes doch nur einen verhängnisvollen Irrtum erblicken, der die Forschung einen weiten Umweg gekostet hat. Es ist auch sicherlich richtig, wenn er in der raschen Verbreitung der Hollschen Thesen gutenteils den Sieg einer gefühlsbetonten Verteidigung sieht, die sich Luther als Ahnherrn der eigenen Auffassungsweise nicht nehmen lassen will und ihn deshalb unbewußt »modernisiert« (vgl. 81/82). Doch hat M.'s persönliche Stellungnahme (was man zum besonderen Lobe der Arbeit sagen muß) die Objektivität in Auswahl und Wiedergabe der gegnerischen Meinungen nirgends getrübt. Die kleine Schrift ist eine wirkliche Einführung in den heutigen Stand des Problems. (Noch nicht berücksichtigt ist darin das neue wichtige Werk von G. Holstein über »Die Grundlagen des evangel. Kirchenrechts« [1394]. Ich komme auf dieses im nächsten Bericht zurück.)

Daß eine gewisse Revision des Hollschen Standpunkts zugunsten Troeltschs sich anzukündigen beginnt, scheinen mir auch einige andere Erscheinungen des Berichtsjahres zu zeigen. Ferd. Kattenbuschs große und materialreiche Abhandlung über »die Doppelschichtigkeit in Luthers Kirchenbegriff« ( 1412) betont wieder ganz im Sinne Troeltschs die Notwendigkeit der Corpus-Christianum-Idee für das Verständnis von Luthers Drei-Stände-Lehre. Anerkennung des Corpus Christianum und Neubewertung des Staates schlossen einander, wie


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K. ausführt, für Luther nicht aus, sondern umgekehrt: Gerade die religiösen Motiven entspringende, von der Idee des Corpus Christianum getragene Würdigung der drei Stände (Kirche, Familie und Obrigkeit) als gleichwertiger irdischer Auswirkungen der unsichtbaren »communio sanctorum« ließ Familie und Staat auf gleiche Ebene mit der Kirche treten und gab dem Staate dadurch auf religiösem Grunde einen höheren Wert.

Eine direkte Auseinandersetzung mit Holl enthält die Abhandlung von Elert ( 1418). Sie versucht am Beispiel Melanchthons eine exakte philologische Nachprüfung von Holls Behauptung, daß nicht nur der strikte Begriff des »Corpus Christianum« den Quellen fehle, sondern auch ähnliche Bildungen wie »res publica christiana« oder »populus christianus« von den Lutherischen Theologen im Sohm-Troeltschschen Sinne nicht gebraucht würden. Das Ergebnis ist eine vollständige Widerlegung Holls: Melanchthon sowohl wie seinem ganzen Kreise war der von Holl bestrittene Begriff der »res publica christiana« in der Bedeutung des modernen Schlagworts des »Corpus Christianum« vollkommen geläufig. »Ob man es für bedenklicher hält«, meint daher E. etwas ironisch, »wenn man wie Holl die Sache nicht sieht, oder wenn man sie sieht, dafür aber, wie Troeltsch, ein Wort, [Corpus Christianum statt Res publica Christiana] gebraucht, das nicht in den Quellen steht, ist Geschmackssache« (115). Auf der andern Seite beweist gerade diese Arbeit E.s, wie notwendig eine exakte, philologische Nachprüfung auch für die Erkenntnis der Grenzen des Corpus-Christianum-Begriffs ist. Ein weiterer Nachbarbegriff wie »societas christiana« besaß nach E.s Feststellungen für Melanchthon keineswegs den Sohm-Troeltschschen Sinn, sondern war (wie überhaupt der Begriff »societas« bei Melanchthon) eine der Brücken, über die »ein Einbruch der antiken Moral und Soziologie in das Luthertum« sich vollzog, also das Kennwort für eine von der Antike beeinflußte Auffassungsweise. Diese humanistische Idee der »societas christiana« modifizierte nicht nur für Melanchthon selber die Corpus-Christianum-Idee ganz beträchtlich, sondern auch bei den lutherischen Theologen des späteren 16. Jhts., »bei M. Chemnitz, Nik. Selnecker, Simon Pauli, Chytraeus, spielt die societas eine viel größere Rolle als die traditionelle Auffassung vom 'lutherischen Obrigkeitsstaat' erwarten lassen sollte«. Auch Troeltsch, tadelt E., habe durch die Vernachlässigung dieses humanistischen Elements sein Bild der lutherischen Orthodoxie arg verzeichnet und I. Wünsch dieses neuerdings geradezu karikiert!

Die schrittweise Entfaltung naturrechtlich-humanistischer Staatsgedanken bei Melanchthon ist an sich längst bekannt. Es handelt sich nur um ihre richtige Bewertung für das Ganze seiner Gedankenwelt. Auch die Arbeit von Lüthje über Melanchthons Stellung zum Widerstandsrecht ( 1417), die das Quellenmaterial erschöpfend verwertet, zeigt wiederum ein langsames, durch die Erfahrungen des Bauernkrieges nur zeitweilig unterbrochenes Anwachsen des humanistisch-naturrechtlichen Elements. L. kommt für seinen engeren Gegenstand zu genau dem gleichen Ergebnis wie vor Jahren Walter Sohm in seiner schönen Arbeit über Melanchthons »Soziallehren«: Die Versuche, die am Anfang der Entwicklung stehen, aus dem Evangelium Maßstäbe für das staatliche Leben zu gewinnen, werden Schritt für Schritt ersetzt durch eine unabhängig neben den religiösen Zentralideen sprudelnde humanistische Quelle. An die Stelle des Evangeliums treten für die Ordnung der staatlichen Sphäre


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zunächst Paulus und das Alte Testament, dann Aristoteles, Cicero und das Naturrecht. Diese allmähliche Rückkehr zur Antike und zum Naturrecht gilt auch L. als die entscheidende Tat Melanchthons für die Entwicklung der protestantischen Staatslehre.

Ähnlich dem »Corpus Christianum« erging es dem Begriff des »Christlichen Naturrechts« in der neueren Forschung: Troeltsch sah in diesem »Naturrecht« einen Grundbegriff des lutherischen Staatsdenkens, Holl dagegen bestritt die Verwendung des Begriffs durch Luther, ja sah gerade Luthers Verdienst darin, daß er weitgehend die naturrechtlichen Maßstäbe des MA.s »durch solche, die der christlichen Sittlichkeit entnommen sind«, verdrängt habe. Auch dieser Streit hängt mit einer verschiedenen Gesamtauffassung Luthers zusammen. Troeltsch hielt es für eine innere Notwendigkeit, daß Luther in einem »natürlichen Recht« eine Norm für das staatliche und soziale Leben suchen mußte, weil das Evangelium an sich die im staatlichen Leben notwendige Gewalt nicht legitimiert und Luther deshalb ohne eine solche Hilfe die tiefe, schmerzende Kluft, die er zwischen der innerlichen Welt des Evangeliums und der Machtsphäre des Staates empfand, nicht zu überbrücken vermocht hätte. Dagegen glaubte Holl in der Lutherschen Sozialforderung, die berufliche Pflichterfüllung innerhalb der drei Stände des sozialen Lebens im Geiste freier christlicher Liebesgesinnung zu leisten, schon eine harmonische, klare Lösung zu finden, die Luther über innere Konflikte hinweghob, und er hielt es daher sozusagen für unnötig, daß Luther noch auf ein »natürliches Recht« für die staatlich-soziale Sphäre zurückgriff. Auch diese Naturrechtsfrage hat seitdem viel Staub aufgewirbelt, doch scheint sich neuerdings ein mittlerer Standpunkt anzubahnen. Wie sich die Dinge für einen Troeltsch nahestehenden Forscher heute ausnehmen, kann man der großen Besprechung von Holls Lutherbuch durch W. Koehler in der Z. f. ges. Staatswiss. 85 (1928, S. 343 ff.) entnehmen. Die schroffe Formulierung Troeltschs, daß Luther im Konflikt zwischen Evangelium und staatlicher Lebenswelt gewissermaßen zweierlei Sittlichkeit, eine Person- und eine Amtsmoral, unterschieden hätte, gibt Koehler wie fast alle heutigen Beurteiler preis und erklärt bis hierhin Holls Einspruch für berechtigt. Aber darf man deshalb, wendet er gegen Holl ein, das Vorhandensein jeder Spannung bei Luther einfach leugnen, wo dieser doch in der Zeit des Bauernkrieges mit seinen eigenen Worten »Gottes Reich, ein Reich der Gnaden und Barmherzigkeit« und »das weltliche Reich, ein Reich des Zornes und Ernstes« aufs schroffste trennte? Gewiß gab es Versuche Luthers, in der in Liebesgesinnung erfüllten Berufsleistung eine Brücke zwischen den beiden Reichen zu finden, »aber die restlose Durchführung dieses Gedankens dürfte nicht geglückt sein und Troeltsch sich im Rechte befinden, wenn er Luther im Problem stecken bleiben läßt. Es erscheint bei Holl alles zu ausgeglichen..., die Empfindsamkeit für die Fremdartigkeit der Weltordnung kommt zu kurz und dementsprechend die Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit jener Ordnung.«

Eine ganz ähnliche Kritik an Holl übt, trotz wesentlich anderer Voraussetzungen, ein Aufsatz von H. M. Müller über »Das christliche Liebesgebot und die lex naturae« in der Z. f. Theol. u. Kirche (N. F. 9, 1928, S. 161--83). M. steht Holl in der Grundauffassung nahe, insofern auch er an die Möglichkeit einer harmonischen Lösung glaubt, aber er gesteht sich ein, daß diese von Holl, so wie dieser das Problem faßte, nicht bewiesen sei. Wie kann aus derselben


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Christlichkeit -- wendet auch er gegen Holl ein -- bald »Gottesliebe und freiwilliges Sichopfern«, bald »Handhaben des Rechts mit Gewalt«, je nach der Sphäre, hervorgehen? »Wie kann die Form ein und derselben christlichen Liebe bald im Unrechtleiden und bald im Handhaben des Rechts bestehen?«. Auf die eigene Interpretation, durch die Müller die Hollsche Auffassung mehr praktisch-theologisch als historisch auf eine neue Basis zu stellen sucht, braucht hier nicht eingegangen zu werden.


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