§ 44. Neuere Staatsanschauung.

(G. Masur.)

Die Situation des Forschungsbezirkes, über den zu berichten uns obliegt, ist charakterisiert durch ein starkes Vordringen monographischer Tendenzen. Fast die Gesamtheit der zu beurteilenden Werke ist Einzelpersönlichkeiten oder Einzelproblemen gewidmet, ein Umstand, der geeignet ist, um so größeres Nachdenken zu erregen, als die höhere Kategorie, die diese Arbeiten umschließt, eine sehr allgemeine ist und allgemeine Betrachtung herausfordert. Ist es zu kühn, darin ein Symptom für eine Lageänderung des geschichtlichen Interesses zu erblicken? Die starke geistesgeschichtliche Befruchtung, die die politische Historie in den letzten zwei Jahrzehnten erfahren hat, hat Rückschläge ausgelöst, die eine rein ideengeschichtliche Betrachtung bedrängt und in ihre Grenzen verwiesen hat. Stärker als vorher wird die Gefahr einer spiritualistischen Verblasenheit, einer Betrachtung der geschichtlichen Realität nur aus ihrer ideellen Spiegelung empfunden und ausgesprochen. Der erhöhten Wachsamkeit auf dieses Risiko einer rein geistesgeschichtlichen Betrachtung mag es zuzuschreiben sein, daß die Absorption des allgemeinen Interesses durch die Theorie und also auch durch die Staatstheorie nachgelassen hat, daß es nach anderen Gebieten abgewandert ist, und daß wir es hier und heute mit einer monographischen Spätlese zu tun haben. Doch soll damit nicht zum Ausdruck gebracht werden, daß die angeschnittenen Themen der allgemeinen Bedeutung ermangeln.

Einem Teilproblem von allerhöchster Bedeutung ist eine Abhandlung Hans Leubes gewidmet ( 1395), die Staatsgesinnung und Staatsgestaltung im deutschen Protestantismus zu ihrem Gegenstande macht. Seitdem der katholische Zweig der politischen Romantik die These von der kausalen Verknüpfung von Reformation und Revolution aufgestellt hat, harrt die Frage der Antwort. Aber es scheint das Los dieses schicksalhaften Themas bleiben zu sollen, nur kursorisch behandelt zu werden. Wie G. Holstein es bisher nur in der Einleitung zu seinem Schleiermacher und in der großen Überschau seines Vortrages über Luther und die deutsche Staatsidee anrühren konnte, so läßt es auch diese Studie -- ein Festschriftbeitrag -- bei einer raschen Betrachtung bewenden. Nur einige der protestantischen Staatsdenker, vor allem des 17. und 18. Jhds., greift sie heraus. Sie knüpft den Faden von Althusius, Johann Valentin Andrae, Benedikt Carpzow, Calovius, Balthasar Schupp, Seckendorf und Spalding zu Stahl. Es wird also mehr die Staatsgesinnung als die Staatsgestaltung aus dem Geiste des deutschen Protestantismus betrachtet und nicht gezeigt, wie beide zusammenhängen, sich bedingen und befruchtet haben. Auch die von dem Verf. eher angedeutete als ausgeführte Linienführung bedarf noch nach allen Seiten


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der Ergänzung. Um nur eines zu nennen: eine wie große Bedeutung man Stahl auch zuschreiben muß, und wie richtig es ist, grade seine Philosophie als aus dem Geiste des lutherischen Protestantismus geboren zu bezeichnen, es geht doch nicht an, ihn zum Kulminations- und Endpunkt einer solchen Entwicklungsreihe zu überhöhen. Viel wichtiger scheint es uns, einmal aufs genauste die protestantischen Substanzen herauszudestillieren, die in der Philosophie des deutschen Idealismus bei Kant und Fichte, Hamann und Herder, Jakobi und Krause, Schelling und Hegel lebendig waren, und zu zeigen, wie sie lebendig waren, wie pietistisches und mystisches Gut hier in philosophische Münze umgeschlagen worden ist. Es bleibt also dabei, daß die Hauptarbeit für die von dem Verf. gestellte Frage noch zu tun ist. Wie fruchtbar es sein kann, grade an diesem Punkte anzusetzen, lehrt das Buch von K. Borries über Kant als Politiker ( 1527). Trotz der zentralen Rolle, die Kant noch heute oder heute wieder in der deutschen Gesamtgeistesgeschichte überschrieben wird, gebrach es bisher an einer befriedigenden Darstellung seiner Staats- und Soziallehren. Diesen Mangel füllt das Borriessche Buch, dessen preziös prätentiöser Titel seinen Gehalt nicht völlig adäquat zum Ausdruck bringt, in glücklicher Weise aus. Borries versucht nicht weniger als eine Darstellung der Geburt der Staatsidee Kants aus dem Geiste des Kritizismus. Die Schicksale der Staatsidee innerhalb des kantischen Systemes sollen zur Anschauung gebracht werden. Es ist eine historische Biographie, die Borries zu geben beabsichtigt, freilich die Biographie einer Idee. Hierin erfüllt der Verf. seinen Anspruch nicht, denn systematische und biographische Betrachtung liegen bei ihm in Gemengelage; sie sind auf eine eigentümliche und untrennbare Weise verfilzt, die wohl den methodischen Anspruch keiner Seite ganz befriedigen wird. Aber hiervon hängt für eine Betrachtung wie die unsrige auch weniger ab. Die eigentliche und beträchtliche Leistung Borries' sehen wir darin, wie er aus der schablonisierten und konventionalisierten Auffassung der kantischen Rechtsphilosophie herausgetreten ist, und den Nachweis zu führen versucht hat, daß der Staat für Kant den Charakter eines Selbstzweckes hat. Er deduziert das aus Kants Bemühungen, die von ihm aufgerissene Scheidung in Sinnenwelt und intelligible Welt zu überbrücken, eine Bemühung, die, wie Borries meint, notwendig auf die Geschichte und also auf den Staat führen mußte. Der Nachweis ist dem Verf., der sich dafür auf die kleinen geschichtsphilosophischen Schriften der Spätzeit und gewisse berühmte Abschnitte der Kritik der Urteilskraft stützt, so weit gelungen, wie er gelingen konnte. Er kann vor uns den ganzen Aufriß der kantischen Staatslehre ausbreiten, ihre Vertragstheorie, ihren Begriff der Souveränität, ihre Idee von Staatsraison und Völkerbund, er kann ihre Abhängigkeit und Gebundenheit an die sie umschließende Wirklichkeit mit feiner Interpretationskunst nachweisen. Aber er kann uns nicht davon überzeugen, daß diese Staatslehre aus dem Geiste des Kritizismus geboren ist. Schon Troeltsch hat darauf hingewiesen, daß Kants Metaphysik der Geschichte aus anderen Wurzeln erwachsen ist als der Kritizismus. Und E. Spranger hat grade aus Anlaß dieses Buches (D. L. Z. Jg. 50, Spalte 1281 ff.) noch einmal betont, daß sich der grundlegende Dualismus aus Kants System nicht wegdisputieren lasse, und daß die Rechnung hier so wenig aufgehe wie in irgendeinem anderen Teile seiner Philosophie. Borries hat die Spannungen und Antinomien der kantischen Philosophie wohl gespürt und aufgespürt, aber ein Zug der Vereinheitlichung und Harmonisierung

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bleibt charakteristisch für seinen Versuch. Wenn trotz dieser Tendenz eine von großem politischen Atem erfüllte Theorie nicht sichtbar wird, so beweist das eben, daß sie in dem System Kants weder entwickelt noch beschlossen ist. Ungeachtet dieser Einwände bleibt man dem wichtigen Buch dankbar nicht nur für die in ihm aufgeworfenen Probleme, die mit ungewöhnlicher Feinheit und Belesenheit traktiert werden, sondern auch für seine Formkraft, der es (von gelegentlichen Entgleisungen im Aperçu abgesehen) gelingt, die schwierigen Sachverhalte ihres Gegenstandes klar und ohne Geheimterminologie zum Vortrag zu bringen. -- Ergänzend darf neben der Arbeit Borries die Schrift A. Schuhmanns genannt werden ( 1528), die sich ihr zwar nicht an Weite und Eindringlichkeit der Betrachtung, wohl aber im Gegenstande vergleicht, indem sie Kants Stellungnahme zu Politik und Presse behandelt. Ich weiß nicht, ob die Koordination von Politik und Presse sich rechtfertigen läßt; sie erklärt sich wohl aus dem Aufgabenkreis des Verf., der selbst der Journalistik nahesteht. Richtig ist an der Begrenzung seiner Aufgabe jedenfalls -- was wir gegenüber Borries betonen müssen -- daß es sich bei Kant doch immer nur um eine Stellungnahme, nicht um eine tätige oder schriftstellerische Anteilnahme an der Politik handelt, und daß auch diese Stellungnahme kein geschlossenes System offenbart, sondern in verschiedenen, zeitlich und sachlich auseinandergehenden Schriften hervorbricht, die eine allzu straffe Interpretation zur geschlossenen Theorie hin verbietet. Was der Verf. trotz dieser wohl angebrachten Vorsicht an durchgehenden Resultaten der Stellungnahme Kants zu Staatsform, Regierungsart, Rechtsprechung und Revolution ermittelt, stimmt weitgehend mit Borries' Ergebnissen überein. Leider serviert er seine Resultate in einer pedantisch schematischen Form, die sich dem »philosophischen Kanzleistil« Kants so weit annähert, daß es meistens dem Leser überlassen bleibt, aus dem dargebotenen Material die notwendigen Schlüsse zu ziehen.

Eine große historische Biographie Kants mangelt uns noch und wird vielleicht auch nicht geschrieben werden. Denn allzu schmal ist die Lebensbasis, über der das gigantische Werk aufgetürmt ist, allzu gering sind die Aufschlüsse, die wir uns von einer biographischen Durchhellung des Kritizismus versprechen können. Ganz anders verhält es sich mit der Figur seines großen Zeitgenossen Möser. Hier bricht Leben und Werk aus dem gleichen Keim an das Licht. Die Betrachtung des Lebens führt uns unaufhaltsam zu dem Werk, das Werk weist rückwärts auf die Ursprünge, denen es entstiegen ist. Der biographisch genetische Weg ist also der sachgewiesene zum Verständnis Mösers. Ihn hat W. Pleister in einer Studie beschritten ( 1525), die die geistige Entwicklung Mösers bis zur Abfassung der Osnabrückischen Geschichte, also bis zum Jahre 1762, vor uns enthüllt. Das Ziel des Verf.s ist, die nach seinem Dafürhalten bisher unzulänglich behandelte historische Stellung Mösers und damit auch seine Entwicklung zum Historiker genauer zu fixieren. Er hat zu diesem Behuf die Papiere Mösers auf dem Osnabrücker Archiv, die Bestände der Göttinger Universitätsbibliothek und der Bibliothek des Ratsgymnasiums zu Osnabrück, das Mösers Bibliothek übernommen hat, durchforscht. Mit großer stofflicher Dichte können wir nun Möser die ersten Schritte der geistigen Entwicklung auf Schule und Universität nachtun; wir sehen ihn in Jena und Göttingen den Anschluß an die Bildung seines Zeitalters finden, wir erblicken ihn tief verstrickt in die Welt der Aufklärung und können verfolgen, wie er


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über Gelegenheits-Dichtung, Tugendlehre und erste historische Versuche hinüberwächst in eine Welt, die weit ab liegt von der Struktur der französischen Aufklärung. So ergänzt diese Studie das Bild, das wir von Mösers Jugendentwicklung besaßen, ohne es in entscheidenden Punkten anders zu gestalten, als es K. Brandi in seinem meisterhaften Essay entworfen hat. -- Der Staatsauffassung Mösers widmet E. Hölzle eine Betrachtung ( 1526), die das Verhältnis von Staat und Freiheit in der politischen Gedankenwelt Mösers untersucht. Hölzle zeigt, wie weit Mösers politisches Denken dem Niveau der deutschen Publizistik, den Schlözer, Abbt und Moser schon entrückt war. Er betont Mösers Anknüpfen an die Idee einer altgermanischen Freiheit und arbeitet die genossenschaftlichen Elemente in Mösers Denken eindrucksvoll heraus. Vielleicht unterschätzt er dabei den politischen Wirklichkeitssinn der Reichspublizisten, vielleicht überschätzt er Mösers Verständnis für Staat und staatliche Dinge ein wenig. Denn wie Hölzle selbst zusammenfassend sagt, suchte Möser mehr den Staat der freien Selbstbestimmung ehrbarer Bürger ohne große Staatsmaschine und Organisation als den mächtigen, organisierten Großstaat.

Staat und Freiheit, so könnte man überhaupt die Grundmelodie des politischen Gedankens im geistigen Leben Deutschlands bezeichnen. Auch Fichtes wechselndes Verhältnis zur politisch-historischen Welt ließe sich daran abzollen. Es ist eigenartig zu sehen, wie dieser Geist und seine Entwicklung immer wieder die betrachtenden Blicke auf sich zieht. Obschon die Zahl der ihm gewidmeten Forschungen wahrhaftig nicht gering ist, obschon es uns scheinen will, als wären in ihnen die Grundlinien ein für allemal gezogen, treten immer wieder neue Versuche zutage, die Entwicklung dieses mächtigen, eigenwilligen, widerspruchsvollen Kopfes begreiflich zu machen. Dies Bemühen bildet auch den organisierenden Kern des umfangreichen Werkes, das G. A. Walz vorlegt ( 1529). Zwar ist der Anspruch und Titel des Unternehmens ein anderer. Der Verf. nennt es die Staatsidee des Rationalismus und der Romantik und die Staatsphilosophie Fichtes. Ja, er will überdies damit den Grund zu einer allgemeinen Sozialmorphologie legen. Wir müssen diese Absicht und damit den ersten Teil des fast 700 Seiten starken Buches hier auf sich beruhen lassen. Aber auch was der Verf. über die Staatsidee des Rationalismus und der Romantik vorträgt -- die er an Friedrich, Kant, Möser, Humboldt, Burke, Schlegel, Novalis, Adam Müller und (seltsamerweise auch) Hegel belegt und erläutert, ist teils so sehr abgestandenes und verblaßtes Convenu, teils so unverbunden additiv den Ausführungen über Fichte vorausgesetzt, daß wir uns für berechtigt halten, in eben diesen das Zentrum des Werkes zu erblicken. Der Verf. sucht in der Persönlichkeit Fichtes nach einer strukturpsychologischen Konstante; er sieht in ihm, allen demokratischen Tendenzen zum Trotz, den »aristokratischen Geistes- und Willensheros, der in genialer Konzeption einer philosophischen Gesamtschau die ungeheure Dynamik der abendländischen Kulturseele, wie sie sich im 19. und 20. Jhd. entwickeln sollte, in kühnem Wurfe vorweggenommen hat.« (S. 337.) Uns scheint, daß schon an diesem Ausgangspunkt der Betrachtung die Vorzüge und Mängel des Buches sich entschleiern. Es offenbart einen starken Willen, die Persönlichkeit Fichtes aus ihrem innersten Kerne nachlebend begreiflich zu machen; aber unverkennbar zugleich eine politische Tendenz, die sich bis in die wissenschaftlichen Resultate hinein geltend macht; einen energischen Zug, die Persönlichkeit in den Gesamtzusammenhang


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der Geistesgeschichte einzuordnen; aber ebenso einen Hang zur Simplifizierung komplexer Tat- und Geistbestände und endlich eine Neigung zu feuilletonistischen Formulierungen. Die Entwicklung Fichtes führt der Verf. von der allseitigen Staatsverneinung der Frühperiode zu der Übergangsperiode einer einseitigen Staatsbejahung, schließlich zur Schlußperiode der allseitigen Staatsbejahung. Ohne Zweifel kann man die Dinge so deuten, wenn man alles Licht auf den Reden an die deutsche Nation und der Schrift über Macchiavelli sammelt. Der Verf. hat sein Werk demgemäß organisiert. Hier wird Fichte gradezu zum Macchiavellisten, sein Denken gipfelt in der macchiavellistischen Staatsidee; er ist nicht der klare reine Ethiker, für den man ihn lange gehalten hat, vielmehr sei seine Staatsphilosophie der Ausdruck einer vollendeten Diesseitigkeitskultur, die sich nach der Konzeption des organischen Nationalstaates dem außenpolitischen Macchiavellismus verschreiben mußte. (S. 316). Daß Fichte nebenbei noch zum Imperialisten avanziert, wird danach niemand wundernehmen. Zu Ende führen läßt sich diese gewagte Interpretation natürlich nur durch eine gewaltsame Belichtung, bei der in der Schlußperiode die eine Seite des Fichteschen Wesens völlig in den Schatten tritt. Ganz konsequent gelten dem Verf. die staats- und rechtsphilosophischen Schriften von 1812 und 1813 als Abstieg. Er findet ein Nachlassen der geistigen Gestaltungskraft in ihnen, einen Rückfall in den extremen Konstruktivismus (S. 620/21). Daß er im Grunde damit nur die Fehler seiner eigenen Konstruktion enthüllt, ist ihm verborgen geblieben. Es ist unmöglich, einen Zugang zu Fichtes Staatsidee zu finden, wenn man sich über die unsagbar enge und dichte Verschlungenheit von Kosmopolitismus und Nationalität, staatlichem Willen und überstaatlichem Denken hinwegsetzt, die Fichtes ganzes Denken strukturiert. Nur ein Mangel an geschichtlicher Demut kann glauben, so diffizile Probleme mit Formulierungen zu klären, die ihre Nähe zu den Schlagworten des Tages leicht verraten, während im Gegenteil ein Maximum deskriptiver Bescheidenheit und phänomenologischer Reserve von dem Betrachter gefordert werden muß.

Bestätigt zu werden scheint uns dieses Urteil auch durch die gleichzeitig erschienene Schrift Nico Wallners ( 1530), die ebenfalls Fichte als politischen Denker behandelt, Wesen und Werden seiner Gedanken über den Staat untersucht und sich die Aufgabe stellt, die Genesis seiner Staatsanschauung in ihrer geistigen Kontinuität aufzuzeigen. Auch Wallner spricht von einer philosophischen Warte aus. Er unterstreicht und betont die durchgehenden systematischen Gehalte; aber er tut es mit größerer Einsicht und Umsicht als Walz. Den Grundgedanken der Fichteschen Philosophie formuliert er als die Gewinnung der sittlichen Freiheit in dieser wirklichen Welt und erleuchtet von hier aus den Wandel der Lagen und Mittel, mit denen Fichte dieses Endziel ins Werk zu setzen versucht. Sehr schön und überzeugend kommt dabei die Doppelgesichtigkeit der Fichteschen Staatsphilosophie heraus, die zugleich gegen die Unfreiheit der realen Staaten und gegen die Unfreiheit der beherrschten Massen kämpft. Auch der Wandel in den Jahren 1806 und 1807 macht Fichte nicht zum Macchiavellisten, denn auch damals bleibt der Staat für ihn doch nur Erzieher zum Vernunftideal, nicht Selbstzweck. Die mancherlei Einwände, die man gegen die im Ganzen vortreffliche Schrift erheben kann, hat Meinecke (H. Z. Bd. 137, S. 313 ff.) ausgesprochen, auf dessen Würdigung wir im übrigen hier verweisen.


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Einen eigenartigen politischen Denker dieser Periode, Johann Benjamin Erhard, hat Hans Schulz (In nr. 149) jetzt der Vergangenheit entrissen. Erhard war Arzt in Nürnberg; er stand in Beziehungen zu Schiller und seinem Kreise und zu Kant und gehört zu jenen philosophischen Deutschen, denen die Besinnung über die Ereignisse der französischen Revolution, ähnlich wie Fichte, eine Reihe von Schriften abgezwungen hat. Ihre wichtigste ist das hier von Schulz sorgfältig analysierte Werk über das Recht des Volkes zu einer Revolution. Es ist nicht, wie man denken könnte, und wie das Buch auch von einer ängstlichen Zensur mißverstanden wurde, der Erweis der Rechte des Volkes zu einer Revolution, vielmehr eine nachdenkliche Prüfung dieser Rechte, die sich im Gegensatz zu Fichte durchaus nicht naturrechtlich oder deduktiv gibt. Erhard leugnet die Vertragstheorie. Der Staat entsteht für ihn als Naturwirkung aus der moralischen, mit physischen Bedürfnissen verbundenen Anlage des Menschen. Erhard ist abgeneigt, aus einem Prinzip das ganze System des menschlichen Geistes aufzustellen. Er will es wagen, nach Anleitung der Geschichte und Erfahrung vorzugehen. Von dieser historisch empirischen Basis aus kommt der merkwürdige Mann nun zu bedeutsamen Schlüssen. Er findet, daß nur unter einer bestimmten feststehenden Oberherrschaft die Kultur Fortschritte gemacht hat, und sichert mit diesem Argument die Notwendigkeit monarchischer Regierung. Alles scheint auf eine Begründung der Autorität hinauszulaufen. Aber der philosophische Gesichtspunkt überwiegt den rechtlichen, und die Hauptuntersuchung spitzt sich auf die Frage zu, welche Herrschaftsformen mit der Würde des Menschen vereinbar sind. Das wird unter Zuhilfenahme der kantischen Begriffsapparatur und Terminologie in einem gemäßigt konstitutionellen Sinne beantwortet. Der Hauptzweck des Staates ist ein sittlicher, der Grund jeden Rechtes liegt für Erhard in der Moral. So löst sich ihm denn auch die Frage nach dem Recht zu Revolutionen, das er nur dann bejaht, wenn die Menschenrechte selbst gefährdet sind. Die Staatsverfassung soll nicht Glückseligkeit hervorbringen sondern Gerechtigkeit. So ist die Schrift, die uns wert erscheint, ihrer fast völligen Nichtbeachtung entrissen zu sein, ein Denkmal jener Aufklärung, die unter der Führung Kants allen flachen Hedonismus und Utilitarismus überwindet. Sie ist zugleich ein eigenartiges Produkt der Auseinandersetzung mit dem elementaren Weltgeschehen der französischen Revolution, das in Deutschland ein so vielstimmiges Echo gefunden hat.

Dieser Resonanz hat A. Stern soeben eine selbständige Untersuchung gewidmet, die den Einfluß der französischen Revolution auf das deutsche Geistesleben zum Gegenstande hat ( 722). Daß der greise Historiker, nachdem er das große Werk seines Lebens vollendet hat, uns mit dieser Frucht einer außerordentlichen Belesenheit und eines stupenden Fleißes überrascht, erregt unsere größte Bewunderung, auch wenn wir uns mit seiner Behandlung des Stoffes nicht zufrieden geben können. Man weiß, daß der Einfluß der französischen Revolution sehr verschiedenartig war und in allen Farben des Prismas schillert. Stern teilt seinen Gegenstand nicht nach den großen Geistesströmungen auf, sondern schildert nacheinander die ersten Eindrücke und Äußerungen über den revolutionären Ausbruch, die Reaktion der deutschen Schweiz; Gegner und Bekehrte in Deutschland, die Weimarer Dichtergruppe, die Wirkung der Revolution auf die philosophischen Denker und die Romantik. Wenn schon neben vielem hinreichend Bekannten auch eine Fülle von Seltenem und nie


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Gehörtem dabei zutage gefördert wird, so vermißt man doch sehr eine durchgeführte Anlage und Gliederung des Ganzen. Ebenso, ja noch mehr vermißt man eine wirkliche Durchdringung des Stoffes. An ihrer Stelle gibt der Verf. kaum mehr als Zettelkastenkompilation, die dank seiner ungewöhnlichen Kenntnis zu einer nützlichen Übersicht der Urteile für und gegen die Revolution wird. Aber geleimt ist nun einmal nicht geschnitzt, und aufgereihte Zitate sind noch keine Geistesgeschichte. Stern hat bewußt die Nachwirkungen französischer Vorbilder auf die Einrichtungen und Gesetze deutscher Staaten außer Betracht gelassen und so den wichtigsten Bezirk ausgesondert. Damit ergab sich aber die Verpflichtung, die im strengeren Sinne ideengeschichtliche Betrachtung an die Adern des geistigen Lebens heranzuführen, zu zeigen, wie die Quellströme des deutschen Denkens -- der naturrechtlich rationalistische, der idealistische und der romantische -- sich mit den Fluten der von Westen hervorbrechenden Bewegung vermischten, durch sie erweitert und umgelenkt wurden, wie Widerstrebendes sich verband und befruchtete, und wie grade in der Abwehr der Ideen von 1789 das politische Denken der Deutschen zu seiner Eigenform gedieh. Unmöglich erscheint es uns, die französische Revolution allein als den Urquell zu bezeichnen, aus dem das weltgeschichtliche Problem der Umbildung des deutschen Geisteslebens vom Kosmopolitismus zum Nationalismus entsprang, wie das Stern im Schlußwort behauptet. In Deutschland war von Lessing und Winckelmann, von Herder und Schiller, Möser, Goethe, Kant und Hamann seit langem eine eigene nationale Gestalt im Werden, die durch die französische Revolution in Anziehung und Abstoßung, Befehdung und Zustimmung nur schneller zum Durchbruch kam.

Ein Denker aus der antirevolutionären Front, der seit längerer Zeit im Mittelpunkt der staatsphilosophischen Diskussion steht, ist Adam Müller. Ihm ist die Schrift Gisela von Busses gewidmet, die als Lehre vom Staat als Organismus auftritt und kritische Untersuchungen zu Müllers Staatsphilosophie geben will ( 1531). Sie will sich dabei jenseits der durch ihre Einseitigkeit in gleichem Maße unfruchtbaren Positionen Carl Schmitts und Ottmar Spanns stellen, von denen der eine durch eine unkritische Verdammung, der andere durch eine kritiklose Verherrlichung den Weg zum Verständnis der Gestalt Müllers versperrt haben. Die Verfasserin glaubt an den Gehalt der Müllerschen Schriften, den Schmitt negiert; aber sie will ihn zugleich auch persönlich als Redner werten und begreifen. Diese Einstellung ist richtig; sie eröffnet nach unserm Dafürhalten sogar den einzigen Weg zum Verständnis Müllers, nur ist ihn die Verfasserin nicht zu Ende gegangen. Was sie gibt, sind nicht so sehr kritische Untersuchungen zur Staatslehre Adam Müllers, dessen Erkenntnis durch dies Buch nicht wesentlich gefördert wird, als Studien zur Lehre vom Staat als Organismus, also eine Fortführung der von Erich Kaufmann angeschlagenen Note, denen wir im einzelnen manche Belehrung verdanken können (so z. B. den Hinweis auf Jakobi S. 16), die aber für das konkrete Verständnis Adam Müllers viel zu formal und viel zu sehr in Schmalenbachschen Kategorien verschachtelt sind. Vielleicht wäre es überhaupt an der Zeit, ein literarisches Schweigegebot über die Gestalt Müllers zu verhängen, die sowohl von der seelen- wie von der geistesgeschichtlichen Seite her eine behutsame und erfahrene Hand erfordert, um sich zu erschließen. Wir glauben allerdings, daß Gustaf Steinbömer in dem Essay, den er der Gestalt Müllers in seiner »Abtrünnigen


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Bildung« gewidmet hat, schon die Wege gewiesen hat, von denen aus das Programm Adam Müller zu bewältigen ist.

Einen Versuch, zum Zentrum eines politischen Denkers von seinen religiösen Grundlagen aus vorzustoßen, macht R. Hübner in einer Studie über Stahl und den Protestantismus ( 1443a). Er will nicht so sehr Stahls praktische, protestantisch-kirchenpolitische Tätigkeit als seine geistesgeschichtliche Stellung betrachten und ihn in die neuerdings so umstrittene Linie einordnen, die er von Luther über den Pietismus bis an die Gegenwart heranführen zu können meint. Hübner hat damit den Finger auf das höchst bedeutsame Problem gelegt, inwiefern man Stahls konservative Staatssystematik als aus echt lutherischem Geiste geboren betrachten kann. Nur schade, daß er für die Bewältigung der angegriffenen Aufgabe zu wenig gerüstet ist. Selbst wenn man sich dazu verstehen wollte, die Beschränkung auf eine rein geistesgeschichtliche Betrachtung gut zu heißen, (was wir für eine Gestalt wie die Stahls niemals zugeben können), ist die Durchführung im höchsten Grade unzulänglich. Dem Verfasser ist nicht einmal die Kirchenverfassung Stahls bekannt geworden ebensowenig wie sein von Salzer veröffentlichter Briefwechsel mit Pfeiffer, der grade für Stahls Religiosität die größten Aufschlüsse hergibt. In gleichem Maße ungenügend ist seine Kenntnis der Literatur. Infolgedessen ist das Bild, das Hübner von Stahl entwirft, teils falsch, teils dürftig. Der Kern seiner Arbeit ist ein Vergleich der Ideenwelt Stahls mit der Luthers, den er nicht ohne Feinheit und gelegentlich gute Durchblicke bewältigt. Aber damit ist das gestellte Problem doch eben nur berührt. Von der biographischen Frage des allmählichen Hineinwachsens Stahls in das Luthertum, der Beeinflussung und Umformung durch evangelische Kräfte und Mächte will ich gar nicht sprechen. Aber da ist das Problem der Kirche und der Kirchenverfassung, da ist Stahls Stellung zu Pietismus und Orthodoxie; da sind seine hochkirchlichen Bestrebungen, seine Stellung zu Hengstenberg, Marheinecke, Vinet, Schelling und Hegel, die der Verfasser nicht auslassen durfte.-- Welche Ernte auch für eine streng geistesgeschichtliche Betrachtung hier noch in die Scheuern zu fahren ist, lehrt jetzt G. Holsteins Kirchenrecht ( 1394). Es gehört zwar nicht unserem engeren Bezirke zu, und wir müssen es uns versagen, es hier ausführlich zu würdigen. Aber das bedeutsame Werk greift doch so weit über die Grenzen des Kirchenrechts in das Gebiet der Staatsanschauung hinein, daß wir auf seine differenzierten Analysen wenigstens mit zwei Worten verweisen wollen. Holsteins Demonstration der Kirchenidee Stahls und ihres Verhältnisses zu seiner Staatsidee gehört zum besten, was überhaupt darüber gesagt worden ist. Aber auch was Holstein von Luther, von der Orthodoxie des 17. Jhds., von den Aufklärern des 18., von Kant, Hegel, Rothe, Schleiermacher und Puchta und der Abwandlung des Verhältnisses von Staat und Kirche bei ihnen sagt, ist von einer so eindringlichen Kraft ideengeschichtlicher Betrachtung, daß der Profanhistoriker diese große und würdige Nachfolge Sohms immer dankbar nennen wird.

Der politisch historischen Welt, der die Staatslehre Stahls in ihrer ersten Form entstiegen ist, gilt eine Arbeit H. Schützenbergers, die die Staatsauffassung in der bayrischen Staatsrechtsliteratur von Kreittmayer bis Moy, also grob gesagt, von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jhds. verfolgt ( 1533). Den Verfasser leitet der Gedanke, daß sich in der Staatstheorie die


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Lebenstriebe eines Staates spiegeln. Er ist erfüllt von der ketzerischen Meinung, daß man hier tiefer in das Wesen einer Epoche einzudringen vermöchte als in einer genauen Darstellung ihrer äußeren Politik. Wir lassen diese problematische Ansicht dahingestellt. Jedenfalls hat der Verfasser mit gutem Griff einen fast unberührten Stoff getroffen, der in der Tat die Abwandlung des bayrischen Staates getreulich wiederspiegelt. Bayern hat in diesem Jahrhundert eine jähe Entwicklung aus dem konfessionell gebundenen Absolutismus über den ministeriellen Absolutismus Montgelas' in das monarchisch konstitutionelle Regierungssystem Ludwig I. durchlaufen. Dieselbe Skala weist die Entwicklung der bayrischen Staatslehre auf. Sie reicht von der patrimonialen Staatsidee Kreittmayers über den Rationalisten Gönner und den Würzburger Beer, einen Liberalen von reinstem Wasser, bis zu Ernst von Moy. Moy, der dem Münchner Eoskreis um Görres und Baader zugehörte, ist der staatsrechtliche Theoretiker dieser katholisch restaurativen Spätromantik, die gegenüber der herrschenden liberalen Doktrin einen ständisch gebundenen, korporativen Staatsaufbau verlangte. Moy hat die Ideenwelt des Münchner Eoskreises, über die uns gerade jetzt Hans Kapfinger eine aufschlußreiche Monographie gegeben hat, auch in der zweiten Kammer als Repräsentant Würzburgs mit Erfolg vertreten. Er fand in dem Minister von Abel den Mann, der fast ein Jahrzehnt nach den Maximen dieses Kreises Bayern regiert hat. Aber nicht nur die katholische Spätromantik, auch der bayrische Frühliberalismus und seine Führer und Wortführer Beer, Cucumus und Aretin werden mit manchem interessanten Streiflicht berührt.

Eines der bedeutsamsten Probleme des vormärzlichen Liberalismus hat Th. Wilhelm mit seinen Untersuchungen über die englische Verfassung und ihre Bedeutung für den deutschen Liberalismus ergriffen ( 1532). Die Geschichte des Englandbildes im deutschen Leben des 18. und 19. Jhds. war seit langem zu schreiben, und sie wird, wie wir zuversichtlich hoffen, auch noch geschrieben werden, da Wilhelms Untersuchungen nur ein Segment aus dem Kreis des Gesamtproblems herausgegrenzt haben. Der Verfasser gibt nach großen verfassungsrechtlichen Stichworten -- Zweikammersystem, König, Parlamentarismus, Verfassungsübertragung -- geordnet eine klare Übersicht der Äußerungen Rottecks, Welckers, Hegels, Dahlmanns, Murhards und Mohls über die englische Verfassung, ihre richtige oder illusionäre Beurteilung des englischen Musters vor und nach der Reformbill. Er führt die Linie leider nur bis zu Mohl, Stahl und Gneist, wo mit der Anerkennung des parlamentarischen Systems durch Mohl, seiner Bekämpfung für die deutsche Staatlichkeit durch Stahl und Gneists Eintreten für das selfgovernement die Frage der paradigmatischen Bedeutung der englischen Verfassung erst ihre ganze Schwere für die Staatwerdung Deutschlands offenbart. Die Arbeit ist, was der Verfasser selbst weiß und eingesteht, nach dieser wie nach vielen Richtungen ergänzungsbedürftig. Sie ist es auch nach der konservativen Seite hin, indem ja, mit der Burkeverehrung Gentzens anhebend, sich hier ein besonderes Bild der englischen Verfassung ausgeprägt hat. Es ist uns fraglich, ob der Verfasser gut daran getan hat, seinen Gegenstand nach rechtlichen Normen aufzuteilen, ob dabei nicht die Eigenart der unter sich doch sehr verschiedenen Liberalismen verwischt und die zeiträumliche Kontinuität der einzelnen Gruppierungen zerstört worden ist. Vielleicht hätte der Verfasser, wenn er eine streng historische Ordnung gewählt hätte, auch gespürt, was ihm Bergsträßer mit Recht vorgehalten hat (H. Z. Bd. 141,


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S. 582), daß sich das Bild der englischen Verfassung je nach der politischen Zeitlage und Praxis gewandelt hat, und daß es sich beim Verständnis seiner Bedeutung für den deutschen Liberalismus nicht um Probleme der historischen Erkenntnis, sondern um Aufgaben der politischen Willensbildung handelt.

Die Arbeit Wilhelms ist die einzige Arbeit des Berichtsjahres, die einen Gegenstand aus der Sphäre des liberalen Gedankens behandelt. Es ist auffallend, wie gering das Interesse an der Ideengeschichte des Liberalismus ist, während der Konservatismus nach wie vor eine rege Anteilnahme zu genießen scheint. Einem seiner großen Außenseiter, Paul de Lagarde, widmet K. Klamroth eine Studie ( 1535), die Staat und Nation in seiner Ideenwelt untersucht. Die Arbeit ist aus rechtsphilosophischen Studien hervorgewachsen und gibt sich als ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte. Während Wilhelm Mommsen in seinem vortrefflichen Essay uns die Persönlichkeit Lagardes in der Einheit eines militanten Willens und einer kämpferischen, geistig politischen Weltansicht vor Augen geführt hat, erscheint hier ausschließlich der Gedankenbau Lagardes, der nach seiner Herkunft und Zusammensetzung, seinem positiven Verhältnis zur Nation und seinem negativen zum Staate aufgehellt wird. Das schwierige Unternehmen, eine so widerspruchsvolle Welt wie die Lagardes in ihren Grundzügen darzustellen, hat der Verfasser mit Besonnenheit und nicht ohne Feinsinn gelöst. Er hebt im ersten Teil ihre Grundzüge heraus: den für Lagarde charakteristischen, von Individualität und Subjektivität geschiedenen, dynamischen Persönlichkeitsbegriff, den auf ihr beruhenden Freiheitsgedanken, der sich in der Idee einer organischen Gliederung des Volkes vollendet. Er schildert Lagardes Idee des Volkstums, seine nationalpädagogischen Zielsetzungen, seine Abneigung, ja Verständnislosigkeit gegenüber jeder transpersonalistischen Staatsidee, die Staat und Nation im Ergebnis auseinanderriß, dies alles beruhend auf einer tief christlichen Religiosität. Im zweiten Teil kontrastiert, vergleicht und beurteilt der Verfasser die Ideenwelt Lagardes mit der des Liberalismus und des Konservatismus Hallerscher Prägung, mit der Staatsidee der Romantik, Wilhelm von Humboldts und Fichtes. Von so verschiedenen Seiten aus kann man mit Recht die Fäden zu Lagarde hinüberspinnen, in dessen politischem Denken sich die widersprechendsten Antriebe kreuzten, der in seiner Tiefe, Abseitigkeit und Problematik vielleicht gerade deswegen eine noch heute unmittelbar zu uns sprechende Figur ist. -- Ein Lagarde im Denkstil verwandter Geist ist Konstantin Frantz, der freilich seine Aussonderung aus den niedergetretenen Bahnen des politischen Gedankens mit weitgehender Ignorierung hat bezahlen müssen. Um so höhere Ansprüche müßte jede Arbeit an sich stellen, die es unternimmt, dies verschüttete Gedankengut wieder aufzugraben. Mit solchen Forderungen darf man nicht an die Arbeit Leni Martins herantreten, die Konstantin Frantz als Staatsphilosophen und Verfassungspolitiker behandeln will ( 1534). In sechs Kapiteln, die von der Geschichtsphilosophie als Grundlage der ganzen Staatswissenschaft, von dem Ursprung der Staaten, von der Struktur und Verfassung des Staates, vom Verhältnis von Staat und Kirche und von den Beziehungen der Staaten untereinander handeln, sucht die Verfasserin ihren Gegenstand einzukreisen. Nun ist die Situation des Stoffes aber derart, daß er gar nicht ohne weiteres eine ideengeschichtliche Betrachtung hergibt. Und überdies gebricht es der Verfasserin durchaus an den Perspektiven und Kenntnissen, um einen so schwierigen Gegenstand in seinen ideengeschichtlichen wie in seinen konkreten Bezügen


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hinreichend zu würdigen. Ihr Bestes leistet sie in dem Versuch, die Staatslehre Frantzens zwischen Naturrecht und Romantik zu lokalisieren und aus dieser Doppelstellung die vielerlei Widersprüche herzuleiten, die sie durchziehen. Wir haben an anderem Orte auf die Schwächen dieser Arbeit und den Typus, den sie repräsentiert, hingewiesen (D. L. Z. 51, S. 231 ff.). Sie enthüllt nur mit besonderer Deutlichkeit, was sich in höherem oder minderem Grade an einer ganzen Reihe der hier behandelten Arbeiten ablesen läßt. Kann man es einen Zufall nennen, daß ihr weitaus größter Teil Dissertationen sind? Man darf darin gewiß ein Symptom sehen, daß die Anteilnahme der jungen Generation sich mit besonderer Intensität der Staatstheorie zugewendet hat. Aber es steht zu fürchten, daß eben dieses Interesse, das nur in wenigen Fällen den methodischen und sachlichen Anforderungen geistesgeschichtlicher Betrachtung wirklich gewachsen ist, am Ende diese selbst diskreditiert. Die schematische Aufarbeitung aller möglichen Figuren unter übernommenen Kategorien in der Form aneinander gereihter Zitate hat wenig mit Geschichte und gar nichts mit Geistesgeschichte zu tun.

Die einzige Arbeit, die über das monographische Spezialinteresse zu einer weit ausholenden, zusammenfassenden Betrachtung vorgedrungen ist, ist bezeichnenderweise keine deutsche, es ist die Studie des amerikanischen Gelehrten Rupert Emerson: State and sovereignity in modern Germany ( 1075). Es sind im wesentlichen die Jahrzehnte von der Reichsgründung bis zur Errichtung der Weimarer Republik, deren staatsrechtliche Resultate und Probleme der Verfasser behandelt, da sie ihm wert scheinen, genauer gekannt zu werden, als sie es bisher sind. Dieser Vorwurf trifft auch die deutsche Forschung selbst; denn so weit wir wissen, steht eine zusammenfassende Würdigung dieses halben Jahrhunderts deutschen Staatsrechtes noch aus. Einzig Carl Schmitt hat vor kurzem in seiner Rede auf Hugo Preuß den Versuch eines Überblicks über die geschichtliche Entwicklung der letzten drei Generationen des deutschen Staatsrechts unternommen, um so zum konkreten geschichtlichen Bewußtsein der eigenen geistigen Situation zu gelangen. Für den amerikanischen Forscher stellt sich das Problem wesentlich anders dar; er steht, wenn wir richtig sehen, den pluralistischen Staatstheorien Laskis nicht fern; er ist lebhaft berührt von der Krisis des Souveränitätsbegriffs, die nach dem Kriege die angelsächsische Welt bewegt und in den Arbeiten C. H. Mc Ilwains, I. Dickinsons und W. J. Elliott einen prägnanten Ausdruck gefunden hat. Von hier dürfte Emerson den Zugang zu der Staatslehre der deutschen Vorkriegsjurisprudenz gefunden haben. Das Gefüge des Bismarckschen Reiches, das die Entscheidung über die Frage nach dem Subjekt der verfassunggebenden Gewalt ebenso suspendierte wie die nach dem Wesen der staatlichen Form, die mit dem Reich geschaffen worden war, war ein staatsrechtlich schwer zu registrierendes und zu normalisierendes Gebilde. Die Fülle komplizierter Konstruktionen, die es zu seiner Erklärung in der deutschen Vorkriegsjurisprudenz gezeitigt hat, die ganze Problematik des Souveränitätsbegriffs, die hier bald latent und bald akut schon zutage trat, mögen das Interesse des Verfassers geweckt haben. In einer tief ausgreifenden Einleitung führt Emerson die Entwicklung des deutschen Staatsrechts von Friedrich, Kant, Fichte, Humboldt, Hegel, Haller, Dahlmann, Stahl, Savigny, Bluntschli, Gneist, Mohl, Ahrens und Lorenz von Stein bis zu Marx. Auf dieser breiten Grundierung läßt er dann die Front der Juristen des Kaiserreichs aufmarschieren:


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Gerber, Laband, Jellinek, Haenel und ihre Lösungen des Souveränitätsproblems. Besondere Anteilnahme widmet er der Theorie des Föderalismus, wofür er aus dem amerikanischen Staatsrecht eine vorzügliche Schulung mitbringt. Das interessanteste Kapitel des Buches ist wohl dasjenige, das die genossenschaftliche Theorie Gierkes und die liberal demokratische Umbildung durch Hugo Preuß behandelt. Aber auch die philosophischen Juristen Stammler, Radbruch, Kohler und Kelsen kommen ausführlich zu Wort. Ja, fast allzusehr zu Wort, da das verdienstliche Werk streckenweis ganz deskriptiv verfährt. Doch bietet es bis zur Weimarer Verfassung eine höchst gründlich und gediegen gearbeitete Literatur- und Dogmengeschichte des deutschen Staatsrechts. Manches sehen wir mit unseren Augen naturgemäß anders, über viele Einzelheiten ließe sich streiten, aber die Details der Disposition und Beurteilung zu diskutieren ist hier nicht der Ort. Jedenfalls wird es der deutschen Wissenschaft ein Ansporn und eine Hilfe sein, die unaufschiebbare und vordringliche Aufgabe selbst bald mit eigenen Mitteln in Angriff zu nehmen.


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