b. Deutschland.

Beim Übergang zum deutschen Humanismus mache ich aufmerksam auf einen kunstgeschichtlichen Vortrag von W. Weisbach über »Deutsche Renaissance und Antike« (abgedr. in »Die Antike« IV, 1928, S. 108--137). W. wendet sich hier gegen die heute weithin herrschende Anschauungsweise, daß die Renaissance ein »Verhängnis« für die deutsche Kultur und Kunst des Spätmittelalters gewesen sei. Im Gegensatz zu dieser Auffassung sucht er folgende Tatsachen anschaulich zu machen: einmal, daß auch ohne das Eindringen der Renaissance »eine Zersetzung und Verwirrung der spätgotischen Kunst aus einer rein immanenten Entwicklung heraus und unter dem Druck der geistigen und religiösen Krise eingetreten« wäre (S. 113) und deshalb der Sieg der »Renaissance so etwas wie eine geschichtliche Notwendigkeit ... gewesen ist« (S. 131); zweitens, daß die italienische Renaissance Deutschland etwas ganz Positives zu bieten hatte, wonach die Zeit sich sehnte: den Sinn für menschliche Größe, für das »Heroische« der Antike. W.s Vortrag will deshalb, unter Verwertung der bekannten Methoden und Ergebnisse des Warburg-Kreises in Hamburg, am Beispiel Dürers, der Vischerschen Werkstatt u. a. zeigen, wie unter der Hülle inhaltlich neuer Konzeptionen die Gestalt- und Bewegungsmotive der antiken Götterdarstellung und Mythologie, in denen diese »heroische« Menschenauffassung zum höchsten Ausdruck kam, in der deutschen Renaissancekunst wieder auferstehen. W. zitiert in diesem Zusammenhang das Dürer-Wort: Wie die Alten die schönste Gestalt eines Menschen ihrem Abgott Apollo zugemessen haben, so wollen wir dieselben Maße brauchen zu Christo dem Herren, der der schönste aller Welt ist.

An zweiter Stelle nenne ich zwei problemgeschichtliche Längsschnitte, deren Titel nicht ohne weiteres ihren Wert für die Humanismus-Forschung erkennen lassen. Das Buch von Paul Hankamer über »Die Sprache, ihr Begriff und ihre Bedeutung im 16. und 17. Jhd.«, das schon 1927 erschien (Bonn, Friedr. Cohen) berührt den Humanismus der Renaissance in seinem ersten Drittel. Wichtig ist, daß H. bei der sprachlichen Theorie nicht stehen bleibt, sondern auch ihren Wirkungen auf die Praxis des Sprachgebrauchs in der Übersetzungsliteratur des deutschen Frühhumanismus gründlich nachgeht. Der Hauptteil des Buches deckt eine Wesensverschiedenheit der Sprachauffassung im Zeitalter der mystischen Naturphilosophie des »Barock« von der Sprachlehre und Sprach- Philosophie des Humanismus auf. Nach H. hat weder die grammatisch-rhetorische Sprachlehre des Humanismus, die in der Sprache einen feststehenden Formelkreis aus dem Sprachgebrauch der »autores«, im wesentlichen also eine Aufgabe des Wissens und Gedächtnisses, sah, noch die reformatorische Schätzung


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des »Wortes« eine direkte Vorstufe der modernen Sprachauffassung gebildet. Erst die zweite Hälfte des 16. und das 17. Jhd., das Zeitalter, das in Kunst und Philosophie die Natur als eine lebendige Macht entdeckte, habe auch die Sprache als natürliches Gebilde erkennen gelehrt. Jetzt pries man die schöpferische Kraft der Sprache für den Ausdruck seelischen Geschehens; die Wissenschaft glaubte nachzuweisen, daß das Grundgefüge der Sprachen keine willkürliche literarische Konvention, sondern eine Verbindung naturhafter Wortwurzeln sei, die onomatopoetisch-symbolisch den Lauten der Natur nachgebildet sind. Jetzt entstand der auch für die Dichtung des Barock wichtige Begriff einer »Natursprache«, der der modernen Auffassungsweise näherstehe als die rhetorisch-grammatische Sprachauffassung des Humanismus. Gewiß erkennt H. auch verbindende Übergänge an: so Reuchlins magischen Sprachmystizismus (der jeder Wort- eine natürliche Zahlenbedeutung zuordnet) und bis zu einem gewissen Grade auch die religiöse Neubewertung des »Wortes« durch die Reformation. Aber das Hauptergebnis des Buches ist die Entdeckung der von der humanistischen Auffassungsweise verschiedenen Idee der »Natursprache« im 16. und 17. Jhd., und diese Entdeckung behält ihre Bedeutung, auch wenn ihr als Gegenbild eine einseitige Auffassung des Humanismus gegenüber gestellt ist. Denn in Wirklichkeit steht neben der humanistischen Rhetorik und Grammatik die humanistische hermeneutische Philologie. Man kann das Verhältnis des Humanismus zur Sprache nicht verstehen, wenn man nicht mit in Betracht zieht, daß seine Hermeneutik zuerst die Individualität des Stils und damit eine wesentliche Grundlage jeder »modernen« Sprachauffassung entdeckt hat.

Das Buch von Walter Rehm über den »Todesgedanken in der deutschen Dichtung« (Halle, Niemeyer 1928), das die Fragestellung eines älteren Aufsatzes über das Todesproblem bei Petrarca und im Ackermann von Böhmen auf die ganze Entwicklung der deutschen Literatur bis zur Romantik des 19. Jhds. ausdehnt, kommt für Renaissance und Humanismus mit den drei Kapiteln »Spätmittelalter«, »Der Ackermann aus Böhmen« und »Das 16. Jahrhundert« in Betracht. Daß Rehms Fragestellung gerade für die Renaissance fruchtbar werden kann, versteht man, wenn man sich der Rolle des Todesproblems in den Totentänzen und überhaupt in Kunst (Dürers Stich des Ritters mit Tod und Teufel!) und Philosophie der Zeit erinnert. Humanismus und Reformation hatten nicht nur über das Verhältnis des Menschen zum Leben, sondern auch zum Tode etwas Neues zu sagen. Es scheint mir freilich, daß Rehm dabei das humanistische Motiv für seine Darstellung des 16. Jhds. nicht ausgeschöpft hat. Wenn er zu dem genannten Dürerschen Stich von 1513 nur bemerkt: »So hat es Luther wenige Jahre später gefordert und immer wieder ausgesprochen« (S. 164), so ist dies eine auffällige Unterschätzung der selbständigen Laienfrömmigkeit der deutschen Renaissance in den Jahrzehnten vor der Reformation. Zweifellos lebt nicht Luthers Geist, sondern der des »Miles christianus«, wie Erasmus' Enchiridion ihn schilderte, in diesem Dürerschen Stich. Rehms ganze Darstellung über die Platoniker, Erasmus und Sebastian Franck hätte unter diesem Gesichtspunkt tiefer graben können. Vorzüglich gelungen scheint mir dagegen die Würdigung des Frühhumanismus des 15. Jhds. Das langsame Aufbrechen neuer renaissancehafter Motive wird in dem Kapitel über das Spätmittelalter, unter Einbeziehung auch entlegenerer Literatur, in großzügiger und schöner Darstellung zusammengefaßt. Besonders die Analyse


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des Ackermanns aus Böhmen, dessen einzigartige Bedeutung für die deutsche Frührenaissance in einem eigenen Kapitel gewürdigt wird, darf neben Burdachs großer Darstellung selbständigen Wert beanspruchen.

Wohin wir gelangen, wenn wir die ernsten, religiös erfüllten Leistungen der deutschen Renaissance in den Jahrzehnten vor Luthers Auftreten einfach als Vorboten der Reformation in Anspruch nehmen, zeigt die Studie von Buchholz ( 1431). B.s Ziel ist eine Abgrenzung der Werke in Architektur, Malerei, Skulptur und Graphik, die als »Reformationskunst« in Frage kommen. Da ihm aber die wirkliche protestantische Kunst seit den 1520er Jahren als Basis zu schwach erscheint, so erweitert er diese in die Zeit vor Luthers Auftreten hinein, nach dem Grundsatz: Wo seit 1500 in der deutschen Kunst männliche Kraft begegnet, die fest im Diesseits steht, aber inhaltlich Beziehungen zu einem Höheren, Göttlichen hat, da handelt es sich nicht mehr um Renaissance -- denn diese ist menschliches Selbstbewußtsein ohne »Beziehung zu etwas Transzendentem«, »isoliert von Gott, egozentrisch«! -- da dürfen wir bereits von »reformatorischer« Kunst sprechen. Man erhält damit eine Art Zauberstab, um überall in der deutschen Renaissance »Vorreformation« zu entdecken. Selbst zu einer »reformatorischen« religiösen Plastik kommt man auf diese Weise, obwohl schon in den 1520er Jahren die Plastik in den protestantischen Gegenden aus guten Gründen fast ganz verschwindet. Man muß dann freilich behaupten, daß die »reformatorische« Plastik am höchsten blühte, ehe die Reformation kam, und das ist wirklich B.s Meinung: In den »vorreformatorischen Leistungen«, sagt er im Hinblick auf die Plastik, wurde »vom echt reformatorischen Geist mehr gegeben, als zu der entscheidenden Zeit selber« (S. 55). Jn der Malerei läßt sich dank dieser Methode die ganze Dürersche Kunst seit etwa 1500 als Reformationskunst in Anspruch nehmen, ja B. geht so weit zu sagen, »daß Dürer ein 'Vorreformator' in größerem Ausmaß war als die vielen, die man mit dieser Bezeichnung belegt hat« (S. 32). Der Beweis ist sehr einfach: Man spürt »transzendente« Kräfte in Dürers Bildern (S. 30), und seine »Freude am schönen Menschenleibe entsprang einer unbefangenen Freude an Gottes Schöpfung« (S. 77). Das sind natürlich alles für B. Zeichen der Reformation, unvereinbar mit Renaissance. Und dazu kommt noch, daß Dürer der Schöpfer eines neuen, männlichen Christustypus war. Denn dieser »männliche Christus« sei deutlich eine Vorwegnahme des reformatorischen Christusglaubens (die Renaissance hat als Symbol »ihrer religiösen Gesinnung die Madonna«!) (S. 64). Dürer selber ist der beste Kritiker dieser Behauptung: Wie die Alten ihrem Gotte Apollo, sagte er, wie wir oben zitierten, wolle er Christus dem Herrn »die schönste Gestalt eines Menschen« geben. Will jemand ernsthaft diese Empfindungsweise als »reformatorisch« betrachten? Gewiß ist es berechtigt, zu fragen, ob deutsche Reformation und deutsche Renaissance so, wie sie dem gleichen Boden entwuchsen, nicht weitgehend auch vom gleichen Empfinden beherrscht waren, weitgehend die gleiche religiöse Sprache sprachen. Aber man darf nicht, wie es heute öfter geschieht, Zeugnisse echter Frömmigkeit, wo diese in Renaissance und Humanismus begegnen, einer falschen Renaissance-Definition zuliebe der »Renaissance« absprechen und willkürlich zu einer angeblichen »Vorreformation« zusammenfügen. Das Buch von B. bedeutet in dieser Hinsicht eine Warnung, darum durfte es hier nicht übergangen werden.


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Einen Querschnitt durch die Kultur der deutschen Renaissance bietet der Aufsatz von W. Andreas über »die Kulturbedeutung der deutschen Reichsstadt« ( 1536a), ein Vorläufer eines in Vorbereitung befindlichen Werkes über »die deutsche Krise im Ausgang des MA.«. A. gibt nicht eine vollständige Sammlung des Materials, sondern ein Mosaik, das die wesentlichen Züge des politischen, soziologischen und geistigen Milieus herausarbeiten soll, in dem die deutsche Renaissance sich abspielte, soweit sie bürgerlicher Herkunft war. Der Schilderung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Städte folgen Skizzen des Kunsthandwerks, der Kunst und des geistigen Lebens, darunter zuletzt des Humanismus. Schade, daß A. die Bedeutung des Humanismus für die deutsche Kultur überwiegend skeptisch betrachtet! »Wir sehen die Schädigungen, die der Humanismus unserer nationalen Bildung zugefügt hat«, sagt er, »heute schärfer als die Früheren« (S. 110/11). Bei der Mischung der Töne bleibt für den Humanismus daher mehr Schatten als Licht. Celtis berühmte »Norimberga« wird im Vergleich mit der ma.lichen Chronistik arm genannt an »individueller Erfassung«, an »greifbarer Gegenständlichkeit, wirklicher Milieufarbe und unmittelbarem Quellenreiz« (S. 84). Der historische Streit der Wimpfeling und Murner über die nationale Herkunft des Elsaß heißt »inferior, ärmlich und geschmacklos« (109). Die Charakteristik Pirckheimers sucht in diesem deutschen Trager einer fremden Kultur einen verhängnisvollen »Bruch«. Wenig wird dagegen über die Bedeutung des religiösen Humanismus erasmischer Prägung und des neuen humanistischen Nationalgedankens für das deutsche Bürgertum gesagt. Man mag diesen Mangel bedauern; wir besitzen trotzdem keine zweite, gleich wertvolle Einführung in das kulturelle Leben der deutschen Renaissancestadt.

Beginnen wir den Gang durch die zeitliche Entwicklung des deutschen Humanismus, so steht am Eingang neben dem Ackermann aus Böhmen die noch immer rätselhafte Gestalt des Nicolaus Cusanus. Die im vorigen Jahrgang (S. 440 ff.) besprochene Schrift Ernst Cassirers über »Individuum und Kosmos in der Renaissance« hat zum ersten Male die Züge in Cusanus' Gedankenwelt einheitlich dargestellt, in denen ein neuer »humanistischer« Geist und eine neue mathematische Naturwissenschaft zum Ausdruck kommen. Von einem Schüler Cassirers, J. Ritter, erschien ungefähr zu gleicher Zeit eine Studie, die Cassirers Gesichtspunkt bis in das Zentrum von Cusanus' Denken, in seine vielgenannte Erkenntnislehre der »docta ignorantia«, verfolgt. (»Docta ignorantia. Die Theorie des Nichtwissens bei Nic. Cusanus.« Leipzig, Teubner, 1927.) Über den Sinn dieses Zentralbegriffs von Cusanus' Denken besteht heute noch keine Einigkeit. In der mystischen Philosophie des MA. hatte das Wort nur die Unfähigkeit der Vernunft ausdrücken sollen, das Göttliche in seinem Wesen zu erkennen. Was aber bedeutete es, wenn ein Cusanus diesen alten Begriff zum Mittelpunkt seines ganzen Denkens machte? R. Stadelmann hat neuerdings in einem Buche über den »Geist des ausgehenden Mittelalters« (das im nächsten Berichte näher zu würdigen ist) die Meinung vertreten, es verrate sich darin der skeptisch und müde gewordene Geist einer zu Ende gehenden Epoche, einer Zeit, die irre geworden ist an der Erkenntniskraft der Vernunft und resigniert ein »ignoramus« an den Anfang ihres Denkens stellt. Den entgegengesetzten Standpunkt: daß Cusanus' »ignorantia« am Eingang einer neuen Weltbejahung und positiven Erkenntnis stehe, legt nach den Andeutungen Cassirers


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jetzt Ritter eingehend und, wie ich glaube, überzeugend dar. Wie R. zu zeigen sucht, hat alle Skepsis gegen die Erkenntnismöglichkeiten der rationalen Theologie und der rationalistischen Methoden der Scholastik überhaupt für Cusanus nur den Sinn, den Weg frei zu machen für eine neue, unscholastische Betrachtungsweise: die neue mathematische Naturwissenschaft und die neue »humanistische« Auffassung von Kosmos und Mensch. Folgendes etwa ist R.s Gedankengang: Wenn Gott nach der Auffassung der »docta ignorantia« die Einheit aller Gegensätze der Welt in sich schließt, in seinem eigenen Wesen aber durch keine abstrakte Vernunftspekulation zu ergründen ist, so »wird man an das Endliche gewiesen ... Die Frage nach Gott erhält einen fest umrissenen und greifbaren Sinn innerhalb des Endlichen« (S. 29 f). Die sichtbare Welt erhält einen neuen Wert als Spiegelbild (als aenigma) der Gottheit. Um aber das Unendliche im Endlichen zu erkennen, bedarf es der mathematischen Methode. Denn diese ist es, die den Geist schon im Endlichen den absolut wahren Proportionen und Gesetzen sich zuwenden läßt. Das also ist für Cusanus der Sinn der neuen mathematischen Methode: Sie hebt den Geist von der Mathematik der sinnlichen Formen hinauf zu den unendlichen Figuren und bereitet ihn so vor auf die göttliche Unendlichkeit. Die Bedeutung von R.s Arbeit liegt darin, daß sie diesen Stufengang der mathematischen Methode und die geistesgeschichtlichen Motive, die ihm zugrunde liegen, zum ersten Male mit voller Klarheit herausarbeitet und zugleich das zweite grundlegende und vorwärtsweisende Erkenntnisprinzip des Cusanus, den Begriff der »Konjektur«, die alle Erkenntnis in der endlichen Sphäre als innerlich auf ein Unendliches bezogen erkennen lehrt, neu und glücklich darin einbezieht.

Fast gleichzeitig erscheint aus der Feder des als Cusanus-Forscher bekannten Mailänder Gelehrten Paolo Rotta eine umfangreiche italienische Monographie ( 1511), auf die schon deshalb nachdrücklich hinzuweisen ist, weil sie mangels eines entsprechenden deutschen Werkes auch bei uns in mancher Hinsicht die Dienste eines Handbuchs erfüllen kann. Das Werk beginnt mit einer ausführlichen Darstellung von Cusanus' äußerem Lebensgange; es folgt ein Überblick über seine Bibliothek und Werke (mit wertvollen Untersuchungen über ihre Chronologie), und den Beschluß macht eine Darstellung von Cusanus' »pensiero«, -- vielleicht nicht das Tiefste und Reifste, was über Cusanus bisher gesagt worden ist, aber doch das Ergebnis einer selbständigen, in sich geschlossenen Anschauungsweise, die die Cassirers und seiner Schule, wie mir scheint, gut zu ergänzen vermag. R. möchte gegenüber den Deutungen, die das Gewicht auf das Neue, »Bahnbrechende« bei Cusanus legen, seinen Zusammenhang mit dem christlichen Denken des Mittelalters mehr betont sehen. Schon von der italienischen Philosophenschule um Gentile oder von etwas anderer Grundlage aus bei uns in Deutschland von Heinr. Heimsoeth (in »Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik«, 1922) ist eine Auffassung der ma.lichen Geistesentwicklung vertreten worden, die in der Rezeption der rationalen hellenischen Begriffsphilosophie im Zeitalter der Patristik und auf dem Höhepunkt der Scholastik in der Hauptsache eine verhängnisvolle Belastung mit fremdem Gute erblickt, eine Berührung mit einem kalten, dem eigenen Wesen nicht angemessenen Intellektualismus, der das natürliche Empfinden, die Frömmigkeit und die christlichen Glaubensprinzipien vergewaltigte. Wenn Mystik und Humanismus am Ende des Mittelalters gegen die scholastische


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Begriffsphilosophie rebellierten, so kämpften sie also tatsächlich zur gleichen Zeit für eine Befreiung der ursprünglichen christlichen Idee von der Verstrickung in hellenische Begriffswissenschaft und für die Befreiung des natürlichen Gefühls von einem überspannten Intellektualismus der Schulwissenschaft. R. wendet diese Betrachtungsweise mit leiser Verschiebung des Akzents auf Cusanus an. Während Heimsoeth den entscheidenden Durchbruch in der deutschen Mystik fand, erscheinen für R. als gläubigen Katholiken die zu Pantheismus und völliger Verdrängung rationaler Wissenschaft führenden Tendenzen der reinen Mystik als ein vergängliches und »sentimentales« Extrem. Das eigentliche Ziel des spätma.lichen Denkens bleibt ihm ein besonnener Ausgleich des elemento razionale und des elemento mistico, und diesen Ausgleich findet er in seiner reifsten Form in der »Docta ignorantia« des Cusanus. Denn diese zerstörte das der lebendigen Frömmigkeit verhängnisvolle scholastische Mischgebilde der rationalen Theologie durch ihre grundsätzliche Trennung intuitivmystischer Gottesschau und rationaler Welterkenntnis und überwand zugleich durch ihre Lehre, das Unendliche im Spiegel des Endlichen zu suchen, das dualistische Denken des Mittelalters vermittelst einer »ben intesa immanenza« (296). Das Recht dieser Auffassungsweise scheint mir darin zu liegen, daß sie das eigene Empfinden des Cusanus trifft, indem sie am besten seine uns heute so schwer verständliche Grundstimmung erklärt, durch die Entdeckung eines neuen Weltbildes und einer methodischen mathematischen Erforschung der endlichen Lebenssphäre zugleich einer Restauration der kirchlichen Geisteswelt und einer Vertiefung der Frömmigkeit zu dienen.

Kürzer dürfen wir uns mit den übrigen den deutschen Frühhumanismus betreffenden Erscheinungen fassen. Gerh. Ritters Abhandlung über den Mainzer Dompfarrer Johann von Wesel, der wegen seiner Verurteilung durch ein Inquisitionsgericht 1479 bekannt geworden ist, stellt äußerlich einen Nachtrag zu R.s »Studien zur Spätscholastik« dar (3. Studie, Sitzungsb. der Heidelberger Ak. d. Wiss., Philos.-hist. Kl., 1927, Abh. 5); dem inhaltlichen Ertrage der Arbeit wird man noch besser gerecht, wenn man sie als Ergänzung zu R.s Abhandlung über »Romantische und revolutionäre Elemente in der deutschen Theologie am Vorabend der Reformation« (vgl. Jhg. 1927, S. 448) betrachtet. R. hatte in diesem Aufsatz die Existenz einer selbständigen Reformtheologie und Frömmigkeit in der niederländischen »Devotio moderna« und bei den ihr nahestehenden Theologen Wessel Gansfort und Pupper v. Goch nachgewiesen und gezeigt, daß in diesem Kreise die Wurzeln der Religiosität des Erasmischen Humanismus liegen. Johann v. Wesel hatte er dieser Gruppe, obwohl er ihr als ehemaliger Erfurter Lehrer und späterer Mainzer Prediger lokal nicht angehörte, doch zugerechnet, weil das Wenige, was über Wesel bekannt war, seine Ketzereien in der Hauptsache als übernommenes Wesselsches Gut erscheinen ließ. Inzwischen hat ein glücklicher Fund von mehreren Briefen und Schriften Johanns von Wesel in einer Stockholmer Hs. (durch Burdach), zu denen noch ein Berliner Sentenzen-Kommentar hinzutritt, unsere Kenntnis auf eine völlig neue Grundlage gestellt. Ritter gibt in der neuen Studie einen auszugsweisen Abdruck dieses neuen Materials und zieht zugleich die Folgerungen für das Verhältnis Wesels zu der religiösen Welt der Niederländer. Es zeigt sich jetzt, daß der lokal anderen Kreisen angehörige Mainzer Prediger auch geistig einer andern Gruppe zugewiesen werden muß. Das entscheidend Neue,


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das unter den Niederländern vor allem Wessel Gansfort auszeichnet: »die positive Wendung seiner Kritik, die theologische Herausarbeitung eines neuen Frömmigkeitstypus, fehlt seinem deutschen Zeitgenossen und Mitkämpfer völlig« (S. 29). Handelte es sich bei Pupper und Wessel um einen Kampf im Namen einer Vergeistigung der Religion gegen die Erstarrung der Kirche zur Rechtsanstalt, so kämpft Johann von Wesel nicht gegen die Gesetzlichkeit an sich, sondern er will nur ein neues, biblisches Gesetz, die lex evangelica, an die Stelle patristischer Autoritäten, Konzilsbeschlüsse und Papstdekrete setzen. Er gehört also nicht zu den Niederländern und in die Vorgeschichte der Erasmischen Religiosität, sondern zu jener verbreiteten spätma.lichen biblizistischen Opposition, aus der schon der englische Wiklifismus und das böhmische Hussitentum hervorgegangen waren. Es ist wie eine Bestätigung dieses Resultats, daß auch Wesels Nachwirkung nicht auf den niederländischen, sondern den ober- und mitteldeutschen Humanismus erfolgte: Der Straßburger Wimpfeling schilderte Wesel um 1503 in idealisierendem Lichte als Opfer dominikanischen Mönchshasses gegen die neue Wissenschaft und ließ, während der Gothaer Mutianus diese Darstellung mit empfehlenden Worten nach Rom weitergab, eine unter diesem Gesichtspunkte veränderte Fassung des Prozeßberichts von 1479 erscheinen. (Diese Nachgeschichte von Wesels Prozeß im oberdeutschen Humanismus wird von R. in einem umfangreichen kritischen Exkurs zum ersten Male deutlich gemacht. Als Mittelsperson und Bearbeiter des Prozeßberichts nahm R. anfangs einen Schüler Wesels, Konrad Hensel aus Frankfurt, an. N. Paulus lieferte darauf aber in der Z. f. Gesch. d. Oberrh. 81, 296 ff., den Nachweis, daß der wirkliche Bearbeiter Wimpfeling selber war. R. stimmte inzwischen dieser Zuweisung an Wesel (ebd. 451 ff.) ausdrücklich zu. Umstritten bleibt nur noch, ob die ganze Fassung des Prozeßberichts von Wimpfeling herstammt, wie Paulus will, oder nur die für Wesel Partei ergreifenden Parteien im Anfangs- und Schlußteil, wie R. annimmt.)

In den fränkischen Frühhumanismus führt der Aufsatz von G. Gailhofer über Albrecht v. Eyb ( 1511a). Er bringt nichts grundsätzlich Neues über die Arbeiten von Max Herrmann hinaus, sondern will in der Hauptsache nur die Gestalt des Eichstätter Domherrn »auch einem Kreise lokalhistorisch interessierter Leser näher bringen, da sich Herrmanns Darlegungen vor allem an Fachleute wenden«. Aber G.s Arbeit stützt sich trotzdem auf gründliche eigene Nachforschungen, besonders über die erhaltenen Reste der Eybschen Bibliothek, und kann daher mehrere Ergänzungen und Berichtigungen zu Herrmann beibringen. Der Übersicht über Eybs Leben und Werke folgt ein genauer Katalog der erhaltenen humanistischen Hss. der Eybschen Bibliothek. (Darunter erstmalig verzeichnet der Cod. Eichst. 613, der u. a. ausführliche Exzerpte Eybs aus Petrarcas »De remediis utriusque fortunae« enthält.) -- Einen Beitrag zur Vorgeschichte des südostdeutschen Humanismus will der auf der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft 1927 gehaltene Vortrag von R. Newald liefern ( 1511b). Er ist herausgewachsen aus Forschungen über die Geschichte des Humanismus in Oberösterreich, auf die hier seinerzeit (Jhg. 1926, S. 502 f.) hingewiesen wurde. Die behandelten Persönlichkeiten sind einige hervorragende Lehrer der Wiener Universität aus der 2. Hälfte des 14. und dem Anfang des 15. Jhds. -- im Mittelpunkt steht Heinrich v. Langenstein -- und die Träger der Benediktiner- und Augustiner-Kloster-Reform in


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Österreich (besonders von Melk und Raudnitz aus), die, wie früher auch Horawitz schon nachgewiesen hat, im ganzen deutschen Süden das spätere Eindringen des Humanismus erleichtert hat. Daß diese mit der Bildung des Spät-MA. gesättigten Scholastiker und Ordensleute selber schon irgendwie humanistische Züge tragen, kann freilich nur annehmen, wer wie N. in Petrus v. Rosenheim den »Künder eines neuen Geistes« sucht und »zwei Welten aufeinanderstoßen« sieht, weil dieser Benediktiner bei der Fortführung der Melker Stiftsannalen die Antiqua der italienischen Humanisten an die Stelle der gotischen Schrift seiner Vorgänger setzte! -- Einen interessanten Fund aus einer etwas späteren Phase des Wiener Frühhumanismus legt K. Großmann (in M. Ö. J. G. 42, 1927) vor. Man kannte bisher von Peuerbach laut den Universitätsakten der Wiener Universität vier humanistische Vorlesungen, die die Aeneis, Juvenal und Horaz betrafen. G. wurde jetzt durch eine Münchner Hs. noch auf eine weitere Vorlesung Peuerbachs hingewiesen, die die »Rhetor. ad Herennium« behandelt und wahrscheinlich in die Jahre 1457/8 gehört. Da die Universitätsakten sie nicht verzeichnen, vermutet G., daß sie im »Collegium civium« (in der Bürgerschule zu St. Stephan) gehalten wurde. Die in der Münchner Hs. erhaltene Ansprache an die Hörer bei Beginn des 4. Buches wird von G. im Druck wiedergegeben.

Ich reihe hier noch einige Editionen aus der späteren Zeit des deutschen Humanismus an. Die wichtigste ist die Erstausgabe von Rudolf Agricolas »Vita Petrarcae« durch L. Bertalot, leider an schwer zugänglicher Stelle, in der italienischen Zeitschrift »Bibliofilia« (Dez. 1928), publiziert. Unter den Werken Agricolas war dieses Schriftchen, da nur handschriftlich erhalten, wenig bekannt; für die Geschichte der Nachwirkung Petrarcas im deutschen Humanismus ist es eine der wichtigsten Quellen. -- Von der seit einigen Jahren im Erscheinen befindlichen Gesamt-Ausgabe von Thomas Murners deutschen Schriften liegen zwei weitere Bände vor ( 1518); sie enthalten Streitschriften gegen Luther. Murners »Purgatio vulgaris« von 1524, eine Selbstverteidigung, die für die Beurteilung von Murners Charakter in der neueren Forschung eine Rolle gespielt hat, wird gleichzeitig von I. Lefftz im Arch. f. Elsäss. Kirchengesch. (III, 97--114) zum erstenmal vollständig publiziert. -- Eine Edition mit umfangreichem Kommentar stellt auch die kleine Arbeit von Schrohe ( 1564) dar. Gelegentlich des Abdrucks eines Humanisten-Briefes aus dem Jahre 1562, in dem die Lehrer, die kurz vor 1520 an der Mainzer Universität wirkten, aufgezählt werden, stellt Sch. für alle genannten Dozenten (Capito und Hedio sind darunter) die erreichbaren Lebensdaten aus der Zeit ihrer Mainzer Tätigkeit zusammen. Man findet hier also eine Art Gelehrten-Kalender für die Mainzer Hochschule um 1520.

Mit dem Buche von Huizinga über Erasmus ( 1512) erhalten wir, wie der Übersetzer, Werner Kaegi, im Vorwort hervorhebt, seit hundert Jahren zum ersten Male wieder eine Erasmus-Biographie in deutscher Sprache, die »die volle Lebenskurve des Erasmus zeichnet«. Es ist die erste Biographie im modernen Sinne, die Erasmus' Persönlichkeit mit Mitteln moderner Psychologie von innen her erfaßt. Es ist kein Zufall, daß diese psychologische Analyse bis heute auf sich warten ließ. Was Erasmus als Mensch und Persönlichkeit war, das ließ sich nicht erkennen, solange sein unerhört reicher und ausgedehnter Briefwechsel nicht gesammelt und für die Forschung kritisch zubereitet


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war. Daß diese Erasmus-Biographie erscheinen konnte, ist daher nicht zuletzt das Verdienst des Herausgebers von Erasmus' Briefwechsel, P. S. Allen, der es möglich gemacht hat, sein in jeder Hinsicht musterhaftes »Opus Epistolarum Erasmi« so zu fördern, daß mit dem Berichtsjahre schon der 7. Band anzuzeigen ist, der die Jahre 1527--1528 umfaßt ( 1513). Die erste Baseler Zeit des Erasmus (1521--1529) ist damit in der Hauptsache abgeschlossen, was fehlt, sind nur noch die Altersjahre in Freiburg und wieder in Basel. Auch in Huizingas Darstellung ist der Unterschied zwischen der von Allens Briefwechsel schon erschlossenen und der noch unbearbeiteten Periode deutlich zu spüren. Wieviel aber aus den schon vorliegenden Bänden für die Erkenntnis des Menschen Erasmus von H. herausgeholt werden konnte, ist auch für den Erasmuskenner eine Überraschung. H.s Buch ist so komponiert, daß es zuerst biographisch-chronologisch Erasmus' Leben bis 1516, dem Höhepunkt der ersten Baseler Zeit, verfolgt. Es folgen drei zusammenfassende Kapitel über Erasmus' »Geist« und den »Charakter des Erasmus«. Danach rollen Leben und Werk weiter chronologisch bis zum Lebensende ab. In den drei Mittelkapiteln faßt sich H.s psychologische Kunst zusammen, aber sie ist nicht geringer in den biographischen Teilen, wo sie sich mit einer knappen, immer das Wesentliche treffenden Schilderung des äußeren Lebens verbindet. Man braucht nur die Darstellung von Erasmus' Verhalten gegenüber Luther und der Reformation (S. 148 ff.) mit allem bisher darüber Gesagten zu vergleichen. Der vor einer gewaltsamen Entscheidung zurückbebende Gelehrten-Charakter; der Heroismus, der diesen Mann trotzdem beseelt, wo es sich um Opfer für seine eigenen Ideale handelt; seine »tiefste und innerste Überzeugung«, die ihn von Luther trennt, »daß keine der streitenden Meinungen die Wahrheit vollkommen ausdrücken könne, daß menschlicher Haß und Kurzsichtigkeit die Geister verblenden« --: alles das kommt zu seinem Recht. Man greift nicht zu hoch, wenn man H.s Buch als biographisch-psychologische Leistung klassisch nennt. Dazu haben auch Übersetzer und Verlag ungewöhnliche Sorgfalt an dieses Werk gewendet. Kaegis Übersetzung (eine in der deutschen Ausgabe hier und da geänderte und vermehrte Übersetzung der zweiten holländischen Ausgabe, die selber einer englischen Erstausgabe gefolgt war) läßt die ursprüngliche Abfassung in einer anderen Sprache fast vergessen, und die äußerliche Ausstattung -- eine Aldus Manutius-Type von 1499 und Buchschmuck nach Hans Holbein d. J. -- ist eine bibliographische Kostbarkeit. So ist das Ganze in seiner Art vollkommen. Ebenso eindringlich aber muß die Kritik auch hervorheben: Die Herrschaft der psychologischen Methode ist nicht nur der Vorzug, sondern auch die Grenze dieses Buches. Nur die menschliche, nicht die geistesgeschichtliche Bedeutung des Erasmus kommt zu ihrem Recht. Der Leser erfährt nicht, was Erasmus für den Humanismus bedeutete, was der innere Sinn und Wert des Werkes war, durch das Erasmus eine europäische Stellung gewann; er wird durch die Kenntnis Erasmus' nicht zur Erkenntnis dessen hingeleitet, was der Humanismus der Renaissance als geistesgeschichtliche Erscheinung bedeutete. Dieser Mangel ist eine Folge von H.s persönlichem Verhältnis zu seinem Objekt: H. sieht im Humanismus der Renaissance nicht eine geschichtliche Kraft, die er als Historiker freilegen, erklären, dem modernen Betrachter verständlich und wertvoll machen will. Ihn interessiert der Mensch mehr als die Sache, weil die Wirkung von Erasmus' geistigem Werke »abgelaufen ist. Er hat sein

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Werk getan und wird nie wieder zur Welt sprechen. Wie der Kirchenvater Hieronymus, sein verehrtes Vorbild, und Voltaire, mit dem man ihn gerne vergleicht, hat er seinen Lohn dahin« (202). »Was die reine Latinität und der klassische Geist für Erasmus bedeutet haben, das können wir nicht mehr nachfühlen« (109). Was hat denn aber alle unsere historische Darstellung des Humanismus für einen anderen Sinn, als den modernen Leser »nachfühlen« zu lehren, was Antike und »humanitas« einst in der Renaissance bedeuteten? Daß es im Zeitalter des Erasmus eine besondere, humanistischem Geist entsprungene Sittlichkeit, Religiosität usw. gab, erfährt H.s Leser kaum. Alles wird psychologisch interpretiert: Erasmus' angeborener Reinlichkeitssinn, der sich körperlich und im Verkehr mit Menschen merkwürdig äußert, als die Grundlage des humanistischen Ideals »neuer Klarheit, Reinheit und Einfachheit des Wissens« (106, 125); die Verträglichkeit und Freundlichkeit seines Charakters als die Quelle seiner Toleranz auf religiösem und seines Pazifismus auf politischem Gebiete. Wo diese psychologische Betrachtungsweise nicht weiterhilft, verschwimmen die geistigen Konturen. Ein Beispiel für viele: Bekanntlich hat Paulus für Erasmus eine besondere Rolle gespielt. Auch H. hebt aus dem »Enchiridion« das Wort des Galater-Briefes heraus: Ihr seid berufen zur Freiheit, fallt nicht zurück unter das Joch der Knechtschaft! »Dieses Wort an die Galater,« lautet H.s Erläuterung, »enthielt die Lehre von der christlichen Freiheit, die die Reformatoren alsbald so laut erschallen lassen sollten. Erasmus wandte sie hier noch nicht in einem Sinn an, der den Lehrsätzen der katholischen Kirche Abbruch tun konnte. Aber er hat durch das Enchiridion die Geister vorbereitet, vieles fahren zu lassen, das er selbst noch festhalten wollte« (55). Also die Reformation die Erbin von Erasmus' Paulinismus? Im Leser muß diese Anschauung entstehen -- in Wirklichkeit gibt es keinen Punkt, an dem der Unterschied humanistischer Religiosität und Lutherischer Religion sich deutlicher greifen ließe als in ihrer verschiedenartigen Interpretation des Paulus. Der Paulus der Humanisten ist nicht der Paulus Luthers. Erasmus sucht und findet bei Paulus die Geistlehre ebenso einseitig wie später Luther die Rechtfertigung durch die »sola fides«. Der ganze Unterschied von Humanismus und Reformation läßt sich darin wie in zwei Schlagworten erfassen: Für jenen ist die sittliche Vergeistigung des Lebens, für diese der Glaube und die Rechtfertigung durch Gott der Kern der Religion. Und nun vergleiche man mit dieser Perspektive, die sich der geistesgeschichtlichen Betrachtungsweise hier eröffnet, die oben zitierten dürftigen und noch dazu irreführenden Bemerkungen! Nur an einem Punkte ist H. gewillt, Erasmus' Werk als einen noch heute verständlichen Wert anzuerkennen und als eine geistige Form sui generis zu würdigen: Das literarische Künstlertum des Schriftstellers, der das »Encomium moriae« und die »Colloquia familiaria« geschaffen hat, scheint ihm noch heute zu leben. »Von all seinen in zehn Foliobänden vereinigten Schriften ist eigentlich allein das Lob der Narrheit wirklich lebendig geblieben. Es ist vielleicht zusammen mit den Colloquia das einzige unter seinen Werken, das noch um seiner selbst willen gelesen wird. Der Rest wird nur noch vom historischen Gesichtspunkt aus studiert, zu dem Zweck, seine Person oder seine Zeit kennenzulernen. Es scheint mir, daß hier die Zeit vollkommen recht getan hat« (81). In diesen Worten hat man das Programm des Buches: Soweit es über das Biographisch-Psychologische hinausführt, sucht es den Verfasser des

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Lobs der Narrheit und der Kolloquien. Die Masse der theologischen und philologischen Arbeiten wird höchstens gestreift, selten in ihrem literarischen und geistigen Selbstwert vorgeführt. Dagegen fällt auf die genannten beiden Schriften aller Nachdruck, und besonders die Analyse des »Lobs der Narrheit« ist ein Glanzstück des Buches und voll von neuer Erkenntnis. Dem Schriftsteller und Künstler Erasmus will H. »seinen richtigen und hohen Platz« wiedergeben »in jenem leuchtenden Sternbild der Demokrite des 16. Jhds.: Rabelais, Ariost, Montaigne, Cervantes und Ben Jonson« (165). Das ist also mehr die alte Vorstellung von Erasmus als dem »Voltaire des 16. Jhds.« als das Bild des schöpferischen Humanisten. Das Problem des Humanismus des Erasmus und seiner Religiosität harrt auch nach diesem Buche noch seiner geistesgeschichtlichen Lösung.

Der Aufsatz von Born »Erasmus on political ethics« ( 1515) beschäftigt sich, trotz des allgemeiner formulierten Obertitels, nur mit der »Institutio principis christiani«. Außer einigen Angaben über Abfassungszeit und Verbreitung der Schrift erhält man eine eingehende Analyse dieses Traktats, im wesentlichen reines Referat, ohne eigene Stellungnahme. Beigefügt ist (S. 540 ff.) ein Verzeichnis von Prinzenspiegeln des 12. bis 17. Jahrhundert aus allen europäischen Ländern, das freilich unvollständig ist und gelegentlich Irrtümer enthält. -- Ferner liegen einige Arbeiten über Persönlichkeiten niederländischer Erasmianer vor. Roersch ( 631) sucht in zwei Abhandlungen einen der humanistischen Sekretäre Karls V., Maximilian Transsylvanus, wieder lebendig zu machen, der eine gewisse Rolle spielte bei den Versuchen der Erasmianer Mitte der 20 er Jahre, Karl V. zu einer Vertrauenskundgebung für Erasmus zu bewegen, um ein Gegengewicht gegen die feindselige Haltung der Kölner Fakultät zu schaffen. Im allgemeinen erlauben die Quellen wenig mehr als die Rekonstruktion der Lebensdaten. -- Der niederländische Jurist und Humanist Franz v. Cranevelt -- 1515 bis 1521 Stadtschreiber in Brügge, dann 40 Jahre Mitglied des obersten Gerichtshofes in Mecheln -- ist von Interesse als Erasmianer und naher Freund des Thomas Morus und Vives. Seine wichtigste Hinterlassenschaft war eine sorgfältige Sammlung der von seinen Freunden an ihn gerichteten Briefe, die aber späterhin verloren ging. Erst 1913 kam durch Zufall der die Jahre 1522--28 umfassende Teil dieser Korrespondenz wieder zum Vorschein und wird jetzt von De Vocht nach mühsamer Entzifferung vorgelegt ( 1517). Von den 269 Stücken sind 12 Originalbriefe des Erasmus bereits in Allens »Opus Epistolarum Erasmi« mit verwertet worden; so bleiben als Wichtigstes 48 Originalbriefe des Ludovico Vives, die für die innere und äußere Geschichte dieses spanischen Humanisten wesentliches neues Material mitteilen. (Vgl. auch die eingehende Anzeige durch Piur in D. L. Z. 1929, Sp. 1301--4.)

In der Huttenforschung beginnt sich jetzt ein einschneidender Wandel zu vollziehen. Fast ein Jahrzehnt hindurch war diese von den Kalkoffschen Arbeiten und von der Polemik, die sie hervorriefen, beherrscht. Seit den letzten Lebensjahren des inzwischen verstorbenen K. scheint sich aber langsam aus dieser vielstimmigen Kritik ein neues Hutten-Bild zu entwickeln. Will man sich über das letzte Stadium der durch K. hervorgerufenen Polemik unterrichten, so leistet die beste Dienste einer der letzten Aufsätze K.s über »Hutten als Humanist« ( 1520). Nennenswert neues Material vermag er freilich


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nach K.s stoffreichen Hauptwerken nicht mehr vorzulegen. Seine Bedeutung liegt in der noch einmal aufs schärfste zugespitzten Formulierung des ganzen K.schen Standpunktes in der Verteidigung gegen seine Kritiker, besonders gegen Kaegi, Holborn und W. Koehler. Gerade bei dieser konzentrierten Zusammenfassung tritt deutlich hervor, wie erstaunlich gefühlsbetont K.s Methode, Urteil und selbst Quellenkritik gewesen ist.

In der Schrift von P. Held ( 1519) findet man den ersten Versuch, das durch Kalkoff problematisch gewordene Verhältnis Huttens zur Reformation durch eine positive neue Würdigung von Huttens Humanismus zu klären. H.s Untersuchung geht auf breiter Basis vor sich, wir erhalten eine Analyse von Huttens ganzer Gedankenwelt. Bleibenden Ertrag bieten die Kapitel, die Huttens Verhältnis zu Erasmus und zu Luther beleuchten. Über das Luther-Kapitel könnte man als Motto setzen: Verbündete, aber ungleiche Kampfgefährten. Bei Hutten blieben -- dieser Nachweis ist das wichtigste Ergebnis des Buches -- trotz der äußeren Übereinstimmung mit Luther tatsächlich doch humanistischerasmische und nationalpolitische Motive ausschlaggebend. Für Luthers »tiefste Gedanken«, seinen Paulinismus und Augustinismus, für alle religiösen Kerngedanken der Reformation war Hutten ohne Verständnis. Er erfaßte Luthers Gedanken nicht »von innen her«, sondern nur ihre nationalpolitische Auswirkungen (144/5). Er führte auch an Luthers Seite den Kampf gegen das Papsttum als Verfechter des deutschen Nationalgefühls und seiner Idee der »deutschen Freiheit«. Kalkoff war also im Recht, soweit er die seit D. Fr. Strauß übliche Zusammenstellung Huttens und Luthers als der »beiden deutschen Reformatoren« bekämpfte. Aber wenn Hutten künftig auf diese Rolle verzichten muß, so geschieht dies nicht (wie Kalkoff wollte) wegen der Mängel seines Charakters, sondern weil sein Kampf an der Seite der Reformation nicht aus reformatorischem Geist, sondern von einem selbständigen nationalpolitischen Standpunkt aus erfolgte. Aus welcher geistigen Quelle stammt nun aber dieser Huttensche Freiheits- und Nationalgedanke? In wessen Namen führte Hutten seinen Kampf, wenn nicht in dem der Reformation? Auf diese jetzt wichtigste Frage findet man bei H. noch keine endgültige Antwort. Der »Nationalgedanke«, auf den seine Analyse überall zurückführt, wird geistig nicht eingeordnet. Er erscheint als bloßer Ausfluß von Huttens reichsritterlicher Herkunft und Interessenwelt und steht überall deutlich als ein Zweites neben Huttens »Humanismus« (z. B. 121, 144 ff.). Das bedeutet aber, daß H. Huttens positive historische Bedeutung noch nicht aus ihrem wirklichen Mittelpunkt heraus zu würdigen vermag. Denn diese beruht darauf, daß Huttens »Nationalgedanke« nichts anderes ist als die in politische Agitation und Praxis umgesetzte National- und Geschichtsidee des deutschen Humanismus. Das Wesen dieser humanistischen National- und Geschichtsauffassung ist längst bekannt aus Joachimsens (auch in H.s Buch angeführten) grundlegenden Untersuchungen über die »Geschichtsauffassung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus« (1910). Erst in der bald nach H.s Untersuchung erschienenen Hutten-Biographie von Holborn (auf die im nächsten Bericht einzugehen ist) sind diese Erkenntnisse für die Würdigung von Huttens Humanismus fruchtbar gemacht worden.

Neben dem Verhältnis der Humanisten zur Reformation sollte die Humanismusforschung auch das Kapitel »Luther und der Humanismus«, d. h. das


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Problem, was Luthers geistige Entwicklung, trotz aller späteren Gegensätze, dem Humanismus verdankte, nicht ganz aus dem Auge verlieren. M. Burgdorf ( 1407) glaubt den Zeitpunkt für eine Wiederaufrollung dieser Frage gekommen durch die Ergebnisse von Ritters Studien über die nominalistische Spätscholastik in Deutschland. Wir gingen lange von der Voraussetzung aus, argumentiert B., daß der Nominalismus, der ja in Luthers Jünglingsjahren in Erfurt herrschend war, durch manche Züge, besonders durch seine angeblich ausgesprochene Gegnerschaft gegen rationale Theologie und Metaphysik und durch seine Überordnung der Bibelautorität über die Vernunft, als Ausgangspunkt der geistigen Entwicklung Luthers eine bedeutende Rolle gespielt habe und daß eine nennenswerte Einwirkung des Humanismus daneben nicht angenommen zu werden braucht (so Scheel, Hans v. Schubert, Th. Neubauer und fast alle neueren Darsteller von Luthers Frühzeit). Nun aber sei durch Ritters Untersuchungen gezeigt worden, daß die eigentlich revolutionären Elemente von Occams Philosophie, mit denen man in diesem Zusammenhange rechnete: die nominalistische Skepsis gegen den Wert der ratio in Metaphysik und Theologie und ihre teilweise Ersetzung durch die Autorität der Bibel, bei Occams deutschen Nachfolgern längst erschlafft waren. Damit wird, wie B. richtig sieht, die Frage wieder akut, ob Luther in seinem Mißtrauen gegen die spekulative Vernunft der scholastischen Theologie und in seinem direkten Rückgang auf den kritisch und philologisch interpretierten Bibeltext nicht doch zunächst einmal aus der geistigen Atmosphäre heraus verstanden werden muß, die der Erasmische Humanismus in Deutschland geschaffen hatte. Denn wenn der Occamismus ausscheidet oder zurücktritt, so kommt der Humanismus als diejenige geistige Bewegung in Frage, in der damals jene beiden Tendenzen ausgesprochen vereinigt waren. B. unternimmt unter diesem Gesichtspunkte eine eingehende und bemerkenswerte Nachprüfung aller Zeugnisse, die wir über Berührungen oder besser Möglichkeiten einer Berührung Luthers in seiner Jugend mit dem Humanismus besitzen. Die Voraussetzungen für eine solche Untersuchung sind quellenmäßig denkbar ungünstig. An Selbstzeugnissen Luthers gibt es in der Hauptsache nur solche aus einer Zeit, in der die Kampfstellung der Reformation gegen den reinen Humanismus schon offenkundig geworden war. Man bleibt also (wie übrigens auch die Vertreter eines weitreichenden Einflusses des Nominalismus) in der Hauptsache angewiesen auf eine Rekonstruktion der äußeren Umwelt des jungen Luther, um daraus indirekte Schlüsse zu ziehen. B. untersucht deshalb noch einmal eingehend die Verbreitung des Humanismus in der Erfurter Atmosphäre, an der Erfurter Universität wie im Gothaer Kreise des Mutianus Rufus, und kommt dabei (z. T. unter Verwertung neuen Briefmaterials für Peter Eberbach) zu wesentlichen Ergänzungen der Darstellungen von Bauch und Scheel. Stärkere persönliche Berührungen Luthers mit den jungen Erfurter Humanisten erscheinen danach zum mindesten als möglich. Freilich schildert B. diese Möglichkeiten nur allzu oft, als ob es sich um apodiktische Gewißheiten handle, so daß seine Darstellung fortwährend kritischer Nachprüfung bedarf. Doch ist das, was er z. B. über den Einfluß humanistischer Gedanken auf Luthers älteste wissenschaftliche Niederschrift, die Randbemerkungen zu Augustin (1509/10), in denen Scheel eine reine occamistische Theologie gesehen hatte, vorbringt, bestimmt beachtenswert. Ein eigenes Kapitel ist der Schilderung der Kämpfe gewidmet, die sich an Wimpfelings

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Angriffe gegen das Mönchtum 1505 in der Schrift »De integritate« knüpften, weil B. in der Stellungnahme des Humanismus gegen das Mönchtum eine weitere der Reformation vorarbeitende Tendenz erblickt.

In diesem Zusammenhang verweise ich auch auf das an anderer Stelle zu würdigende Buch von Karl Bauer über die »Wittenberger Universitätstheologie« ( 1425). Wenn nämlich Bauer als Hauptquelle von Luthers reformatorischen Gedanken neben dem persönlichen Glaubenserlebnis mehr als bisher die neue »Hermeneutik«, den wissenschaftlichen Weg zu einem neuen lebendigen Bibelverständnis, würdigen will, so verschiebt sich damit das Interesse der Lutherforschung auf Züge im Werdegang des Reformators, bei denen es besonders nahe liegt, an Beziehungen zum Humanismus zu denken. Zwar bemüht sich B. durchweg um den Nachweis, daß die neue reformatorische Hermeneutik nicht nur gegen die allegorisierende Bibelexegese der Scholastik, sondern auch gegen die humanistische Hermeneutik eines Erasmus bewußte Distanz einhielt. Aber sicherlich ist mit der Feststellung der Verschiedenheit der inhaltlichen Ergebnisse, zu denen die hermeneutische Methode im humanistischen und im reformatorischen Lager führte, für das historische Endurteil noch nicht alles entschieden. Mochte Luther Erasmus' Exegese als tote Buchgelehrsamkeit verurteilen, weil ihr bloß menschlicher Geist die Bedeutung der Erbsünde und Paulus nicht begreife, -- er konnte darum doch die Methode seiner Bibelinterpretation als solche zuerst dem Humanismus verdankt haben. Mir scheint, sobald man einmal der neuen hermeneutischen Methode einen entscheidenden Rang in Luthers Entwicklung zuspricht, wird man die humanistische Bibelwissenschaft als eine wesentliche Voraussetzung für die Verbindung der Reformation mit dem Bibelworte anerkennen müssen.

Bei dem fühlbaren Mangel an einer Sebastian-Franck-Biographie wird man es begrüßen, daß die »Deutsche philosophische Gesellschaft« in ihren »Blättern für deutsche Philosophie« ein Sammelheft vorlegt, in dem vier verschiedene Verfasser in gegenseitiger Ergänzung über Franck das Wort ergreifen. Der einleitende Aufsatz von P. Joachimsen »Zur inneren Entwicklung Sebastian Francks« ( 1521) macht m. W. zum ersten Male den Versuch, die geistige Entwicklung Francks auf Grund der zeitlichen Folge seiner Werke nachzuzeichnen. J. glaubt folgendes feststellen zu können: Das ganze Leben dieses Spiritualisten war eine beständige Auseinandersetzung mit dem ihm fremden überragenden Geiste Luthers, und gerade diese innere Auseinandersetzung hat Franck zur eigenen Reife gelangen, ihn seine anfängliche pessimistische Unsicherheit gegenüber der Welt überwinden lassen. Francks theologische Spekulationen, sein universaler Theismus und seine religiöse Toleranz bedeuteten, mit dieser Entwicklung seines Lebens verglichen, »nur einen Nebentrieb an dem großen Baum der Erasmischen Bildungsreligion«. Dies dagegen sei die bleibende Bedeutung Francks für die deutsche Geistesgeschichte: »Das eigentümliche Bündnis, das der deutsche Geist, nachdem die Sturmjahre der Reformation abgelaufen sind, mit dem Rechtfertigungsgedanken Luthers eingeht, wird nirgendwo deutlicher als bei Franck«. »Man sieht [bei ihm], wie überall die vorreformatorischen Regungen des deutschen Geistes gegen Formen rebellieren, die sie als von außen auferlegt empfinden und von denen sie doch nicht loskommen.« Müßte dann aber Franck nicht gerade vor allen Dingen als letzter Ausläufer und Verteidiger dieser »vorreformatorischen


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Regungen des deutschen Geistes«, d. h. der deutschen Mystik, der Devotio moderna und des erasmisch-spiritualistischen Humanismus, gewürdigt werden? Dies scheint mir ein wesentlicher Einwand gegen J.s fein durchdachten, aber doch wohl einseitigen Gedankengang. -- Der zweite Beitrag des Heftes von G. Lehmann beleuchtet unter dem Titel »Realdialektik und Subjektivitätsprinzip in Francks Religionsphilosophie« das Verhältnis der pantheistischen Tendenzen, die sich bei Franck unleugbar zeigen, zum christlichen Theismus und betont mit vollem Recht, daß man Franck nicht gerecht werde, solange man nach einem Entweder--Oder bei ihm suche und die eine Tendenz auf Kosten der andern verdamme. Eine »Dialektik von Theismus und Pantheismus« durchziehe das ganze Werk Francks und gebe diesem seine geschichtliche Bedeutung. Denn unsere moderne, religionsphilosophisch geklärte Betrachtungsweise wisse hinter die Gründe dieses Wechselspiels zu blicken, in der Erkenntnis, daß »ein Theismus ohne pantheistische Ansätze religiös ebenso bedeutungslos ist wie ein Pantheismus ohne theistische Ansätze« ( 37). Das ist heutzutage ein ungewohnter Gesichtspunkt bei der Würdigung der Frömmigkeit des Reformationszeitalters, aber mir scheint, man wird ohne ihn der Religiosität des Humanismus und des Spiritualismus der Reformationszeit in der Tat nicht gerecht zu werden vermögen. -- Der folgende Beitrag von Lotte Blaschke über den »Toleranzgedanken bei Seb. Franck« faßt diesen schon von Dilthey und Joh. Kühn gewürdigten Gesichtspunkt nochmals zusammenfassend ins Auge. Es folgt eine Studie von A. v. Grolmann über Francks »Wissen um das Verhältnismäßige in der Paradoxie des Seins«, ein Versuch, die Erkenntnis der Teilhaftigkeit aller menschlichen Gedanken und Taten als den Kern von Francks scheinbarem Dualismus und seiner Freude an Paradoxien nachzuweisen. Doch sei dieses »Wissen um das Verhältnismäßige«, das einen unversieglichen Optimismus zuläßt, vom pessimistischen »Relativismus« moderner Art scharf zu unterscheiden. Zum Schluß gibt L. Blaschke einen für die bibliographische Orientierung wertvollen Überblick über die Franck-Forschung von Dilthey und Hegler bis zur Gegenwart.

Gleichzeitig erhalten wir von der Ideenwelt eines zweiten dieser lange vernachlässigten Spiritualisten der Reformationszeit, von Valentin Weigel, eine klare, gut unterrichtete Analyse. A. Koyré umreißt in der Straßburger »Revue d'Histoire et de Philos. religieuses« (a. VIII, 1928) zunächst Weigels Standpunkt innerhalb des Spiritualismus seiner Zeit (z. T. unter Polemik gegen R. H. Grützmacher). Mit Recht unterstreicht er dabei die Züge, die den reinen Spiritualisten Weigel von der humanistisch beeinflußten Denkweise eines Franck unterscheiden (234). Der Hauptteil der Arbeit bietet einen aus den Quellen gearbeiteten Überblick über Weigels Erkenntnislehre und Metaphysik. In den Weigel gelegentlich abgesprochenen Schriften »Studium universale« (346 ff.) und »Principal und Haupttraktat von der Gelassenheit« (228) glaubt K. doch echten Weigelschen Geist zu erkennen. Die wichtige Arbeit von Hans Meier über Weigels »mystischen Spiritualismus« (1926) wird von K. noch nicht herangezogen.

Auch die Naturphilosophie eines Paracelsus trifft neuerdings auf reges Interesse. Die Grundlage für jede Beschäftigung mit Paracelsus bietet jetzt Sudhoffs kritische Gesamtausgabe der Werke, von der nun schon ein stattlicher Teil vorliegt. Auch im Berichtsjahr ist wieder ein neuer Band (Sämtl.


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Werke, Abt. 1, Bd. 10: Die große Wundarznei u. a. Schriftwerk d. J. 1536, München, Oldenbourg) erschienen. Gleichzeitig tritt eine neue, etwa vierbändige Ausgabe der Werke hervor, die im Unterschied von Sudhoffs rein wissenschaftlicher Bearbeitung sich an ein breites ärztliches Publikum wendet (Sämtliche Werke, zum 1. Mal in neuzeitl. Deutsch übersetzt von B. Aschner. Bd. 1 u. 2, Jena, Fischer 1926 u. 28). Diesem Zweck entsprechend hat der Herausgeber den Text vollkommen modernisiert, so daß er sich wie modernes Deutsch liest. Es ist dabei aber leider vieles nur allzusehr geglättet und sogar positiv falsch interpretiert worden. Dazu kommt, daß A. seiner Modernisierung nicht den Text Sudhoffs, sondern die alte Husersche Ausgabe von 1589/91 zugrunde legte und auch die kritischen Ergebnisse Sudhoffs über die Komposition der einzelnen Schriften usw. unberücksichtigt ließ. A.s Ausgabe darf deshalb, soweit der vorliegende Teil der Bearbeitung erkennen läßt, auch von demjenigen, der sich schnell in Paracelsus hineinlesen will, nur mit beständiger Kritik benutzt werden (vgl. dazu H. Bornkamm in Theol. Lit. Zeit. 1928, Sp. 370 f.).

Zuletzt verweise ich auf L. Stüblers Biographie des humanistisch gesinnten Arztes und Botanikers Leonhard Fuchs, eines Zeitgenossen des Paracelsus ( 1523). Fuchs' Lebensgang ist verbunden mit der Entstehung protestantischer Hochschulen in Südwestdeutschland. Nach Teilnahme an den Versuchen, in Ansbach (um 1528) eine protestantische Hochschule zu schaffen, fand er seit 1535 in Tübingen den endgültigen Wirkungskreis; die Statuten der Tübinger medizinischen Fakultät sind von ihm entworfen. Sein Lebenswerk war der Versuch, »die arabistisch gefärbte Medizin« des Mittelalters »durch die griechische zu ersetzen«, die für diesen Humanisten mit der Neuausgabe und Kommentierung Galens begann. Die Wiederbelebung der medizinischen Literatur der Griechen überwog bei ihm völlig die eigene Beobachtung. Für einen Paracelsus, der die Buchweisheit verachtete, hatte er kein Verständnis. Aber es ist sein Verdienst, zusammen mit seinem Gegner Joh. Cornarius zuerst im deutschen Ärztetum humanistische Interessen geweckt zu haben.


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