§ 48. Allgemeine Kultur- und Bildungsgeschichte der Neuzeit.

(Fr. Andreae.)

Im Berichtsjahr hat J. Nadler ( 1552) seine »Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften« mit dem vierten Bande: »Der deutsche Staat (1814--1914)« zum Abschluß gebracht und damit in achtzehn Jahren ein Werk vollendet, das in seinem, nach dem Ausmaße der Konzeption wie nach der Intensität der Durchführung betrachtet, ungewöhnlichen Format eigentlich mehr wie das Endergebnis einer langen Lebensarbeit, als wie die Leistung einer Lebensmitte anmutet. Den beiden ersten, noch vor dem Kriege (1912 u. 1913) veröffentlichen Bänden: »Die Altstämme (800--1600)« und »Die Neustämme von 1300 -- Die Altstämme von 1600 bis 1780« folgten beim Kriegsende (1918) der dritte Band: »Hochblüte der Altstämme bis 1805 und der Neustämme bis 1800« und im letzten Jahrzehnt (1923--24) die Neuauflage der bisher erschienenen Bände unter veränderten Titeln, analog der veränderten Bandgestaltung der zweiten Auflage. Nach dieser übersichtlicheren, auch für die zur Zeit einsetzende dritte Auflage beibehaltenen Umgruppierung behandeln die beiden


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ersten Bände in Paralleldarstellung »Die altdeutschen Stämme (800--1740)« und »Sachsen und das Neusiedelland (800--1786)«, während der Polyphonie aller Stämme und Landschaften -- auch der Auslanddeutschen -- im obengenannten vierten Bande, die des dritten: »Der deutsche Geist (1740--1813)« entspricht. Jedem Band sind genaue Personen- und Ortsregister, sowie zahlreiche Literaturnachweise beigefügt. Sie geben eine eindrucksvolle Vorstellung von der erstaunlichen Sachkenntnis N.s auf sehr verschiedenartigen Gebieten des Schrifttums. Der beigegebene wissenschaftliche Apparat ist eine bibliographische Fundgrube ersten Ranges. Wie sich auch der einzelne Leser methodologisch zu dieser Literaturgeschichte stellen mag, sie bleibt, unbeschadet der möglichen methodischen Einwendungen, ein eminent brauchbares Buch, das dem Historiker wie kaum eine andere deutsche Literaturgeschichte Belehrung und Anregung gewährt. Das gilt nicht nur für die allgemeinen historischen Disziplinen, sondern mindestens im gleichen, wenn nicht erhöhten Maße für die Territorial- und Lokalgeschichte. In Sonderheit sollten die biographischen Sektionen unserer historischen Kommissionen weit häufiger als bisher für ihre Veröffentlichungen die N.schen Forschungen zu Rate ziehen.

Ungefähr den gleichen literaturgeschichtlichen Zeitraum wie N.s vierter Band behandelt H. Cysarz ( 1549) in seinen »als Vorfrucht zu einem Schiller gereiften« Studien: »Von Schiller zu Nietzsche«, in denen ein -- nach dem Prinzip: wie ich es sehe -- umgewerteter Schiller und ein an diesem Schillerbild -- koste, was es koste -- polar gespannter Nietzsche das Blickfeld der »Dichtungs- und Bildungsgeschichte des jüngsten Jahrhunderts« abstecken und in ihren Spannungen die gesamte Kulturproblematik und Dynamik des »Zwischenlandes« erhellen sollen. Was C. bietet, sind im wesentlichen Gedankenexperimente, ein Essay im eigentlichsten Sinne und gehört in die lange Reihe der Versuche, mit denen ihr Verfasser fast alljährlich eine neue, höhere Stufe der Modernität wesensforschlicher Darstellung zu erklimmen trachtet, ohne doch den Absprung in die rein souverän gestaltende Gedankendichtung zu wagen.

Eine dritte große literaturgeschichtliche Darstellung des 19. Jhds., die sich allerdings nur auf die Jahrzehnte zwischen 1830 und 1880 beschränkt, bietet H. Biebers Buch »Der Kampf um die Tradition« ( 1555). Schon ein Blick auf das Personenregister, in dem Namen von Vertretern der verschiedensten und außerhalb eines im engeren Sinne literaturgeschichtlichen Aufgabengebietes stehenden geistigen Betätigungsarten: Politiker, Soziologen, Historiker, Musiker, bildende Künstler usw. Deutschlands wie des Auslandes zahlreich und mit vielen Seitennachweisen vorkommen, zeigt, daß B. den Rahmen seiner Darstellung sehr weit gespannt hat. Eine solche Betrachtungsweise setzt also eine umfassende Beherrschung nicht nur der geistesgeschichtlichen Disziplinen, sondern auch der politischen und sozialen Geschichte des behandelten Zeitraumes voraus und wir glauben B. nachrühmen zu dürfen, daß seine Darstellung in dieser Beziehung nur wenig zu wünschen übrig läßt. Hinzukommen die ruhige, von dem expressionistischen Lärm eines Cysarz' wohltuend abstechende Darstellungsweise, das unbeirrbare Streben nach Objektivität und das geschmacksichere Urteil.

Von den im Berichtsjahre erschienenen biographischen Einzelschriften zur Kultur- und Geistesgeschichte des 17. Jhds. bleibt die fleißige, aber unbeträchtliche


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Freiburger Dissertation der M. Kern über Daniel Georg Morhof (Lpz., Harrassowitz) in einer ziemlich äußerlich aufgefaßten Lebensdarstellung des berühmten Polyhistors und in einer etwas ängstlichen Inhaltswiedergabe seines literarhistorischen Hauptwerkes: »Unterricht von der deutschen Sprache und Poesie« (1682) stecken. -- Größeres Interesse erregen -- namentlich als charakteristisches Beispiel für die Artung einer aussterbenden Gelehrtengeneration -- die 766! Seiten starken auf zwei Bände (1926 und 1928) verteilten »Quellen und Forschungen zur Lebensgeschichte Grimmelshausens«, von dem langjährigen früheren Marburger Archivdirektor G. Könnecke ( 1541). Sie kontrollieren die Werke des Dichters auf ihre Abhängigkeit von fremden literarischen Vorbildern und suchen namentlich im »Simplizissimus« gestützt auf ein in der Sammelarbeit eines Menschenalters gewonnenes archivalisches Vergleichsmaterial Wahrheit und Dichtung, Selbsterlebtes und Nachempfundenes zu scheiden. Die minutiöseste, auch den kleinsten Seitenweg nicht aus dem Auge verlierende Akribie, mit der das geschieht, macht diese Arbeit zum wahren Kabinettstück einer Editions- und Interpretationskunst, wie man sie in dieser Strenge des l'art pour l'art heutzutage wohl nur noch bei den Bibliophilen findet. -- Das Zeitalter der Aufklärung ist an der monographischen Literatur des Berichtsjahres mit der umfangreichen, gut geschriebenen und gut beobachtenden Heidelberger Dissertation von Friederike Fürst über A. L. von Schlözer (1735--1809) beteiligt ( 1544), die an der Hand seiner Biographie die bestimmenden Einflüsse in Sch.s Entwicklung festlegt und in eingehender Betrachtung seines gesamten praktischen (pädagogischen und publizistischen) Wirkens wie seiner politisch-theoretischen und historischen Produktion die Verbindung zwischen den verschiedenen Arbeiten aufweist, um aus dem »Vielerlei der Interessen« zu einem »einheitlichen Bilde« der Persönlichkeit zu gelangen. Von den früheren Schriften über Sch. unterscheidet sich das F.sche Schlözerbild durch die schärfere Präzisierung der gedanklichen Leistung Sch.s und die feinere Nüancierung seiner geistigen Eigenart. Die Verfasserin lehnt es ab, mit Sch. -- wie E. Berney (vgl. Hist. Z. Bd. CXXXII, S. 57) will -- »eine Geschichte des deutschen Liberalismus beginnen zu lassen«. Dafür erscheint er ihr in seiner weitgehenden Abhängigkeit von den im wesentlichen in der politischen Ideenwelt des aufgeklärten Despotismus wurzelnden Anschauungen seiner aufgeklärten Göttinger Lehrer (z. B. Michaelis oder Achenwall) zu wenig selbständig und bei seinem Mangel an systematischer Durchdringung der einzelnen Gedanken auch nicht widerspruchslos und einheitlich genug. -- Zur Romantikforschung, auf die auch diesmal wieder ein sehr erheblicher Teil der kultur- und geistesgeschichtlichen Einzeldarstellungen entfällt, bietet der Kunsthistoriker A. Neumeyer mit seinem Aufsatze: »Die Entdeckung der Gotik in der deutschen Kunst des späten 18. Jhds.« einen sehr beachtenswerten Beitrag (Repertor. f. Kunstwiss. Bd. 49). Unter Zugrundelegung eines reichhaltigen kunst- und kulturgeschichtlichen Materials untersucht N. die verschiedenen Gotikauffassungen von etwa 1750 bis zu den Anfängen der frühromantischen Gotikbegeisterung um 1800, zu der der jüngere Gilly (als darstellender Künstler) und Wilhelm Wackenroder (als literarischer Verkünder) überleiten. In dem Augenblicke, »da die Romantik zur herrschenden Kunstrichtung wird« und die ästhetische Gotikauffassung des 18. Jhds. der mehr historischen Friedrich Schlegels zu weichen beginnt, bricht programmäßig die Darstellung ab. Innerhalb dieses Zeitraumes werden die

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Wurzeln des sogenannten altdeutschen Geschmackes bis in ihre feinsten Verästelungen verfolgt. Dabei ergibt sich, daß die »sentimentalische« Erneuerung der Gotik in Deutschland ihrem Ursprunge nach nicht an die einheimischen gotischen Denkmäler anknüpft. Vielmehr erhält sie ihre ersten Antriebe mit den Einflüssen der englischen Gartenbewegung, die im Zeichen der Anglomanie zu zahlreichen Nachahmungen neugotischer englischer Architekturen führen. Neben diesen »rationalistisch-sentimental.schen« englischen Einflüssen geht in Deutschland eine irrationale Kunstauffassung einher, die sich im wesentlichen in die Komponenten der »enthusiastischen Sturm- und Drang-Nationalbewegung« und der »Herder-Junggoethischen Kulturphilosophie« zerlegen läßt. Ihre Auswirkung wird zwar erst in der historischen Gotikauffassung voll fruchtbar, bewirkt aber schon vorher, daß in Menschen wie Wackenroder oder Gilly die »vage Gefühlsgotik der Gartenschöpfungen« patriotisch und religiös vertieft und damit die Gotik vom Spiel zum Erlebnis wird. -- Die in der Kieler Dissertation von Irmgard Tanneberger: »Die Frauen der Romantik und das soziale Problem« (Oldenburg, Schulze) vereinigten fünf, nach dem Taineschen biographischen Schema (race, milieu, moment) ansprechend gestalteten Einzelporträts der Caroline und Dorothea Schlegel, der Henriette Herz, Rahel Varnhagen und Bettina von Arnim füllen den zu weit gespannten Rahmen des Themas nicht voll aus. -- In der auf dem Gebiet der Romantikforschung zur Zeit wohl am lebhaftesten geführten Debatte über die Wesens- und Wertbestimmung der politischen Romantik tritt der Tübinger Historiker A. Rapp ( 1551) in der Below-Gedächtnisschrift für die weite und unpräzise Auffassung seines verstorbenen Lehrers (vgl. Berichtsjahr 1925, S. 474) ein und sucht sie dadurch zu stützen, daß er auch bei nichtkonservativen Politikern Einflüsse der politischen Romantik feststellen zu können glaubt. Seine subjektiv-gefühlsmäßigen Zuschreibungen und willkürlichen Gleichsetzungen, auf deren Unzulässigkeit schon R. Holtzmann (Hist. Z., Bd. CXXXIX, S. 572) hinwies, lassen jedoch an begrifflicher Schärfe so viel zu wünschen übrig, daß seine Polemik gegen C. Schmitts exakte Definition der politischen Romantik so gut wie gegenstandslos bleibt. -- Die schwache, nur als Sammlung von Äußerungen brauchbare Dissertation von S. Hellmund (Die Stellung der deutschen Frühromantiker zur französ. Revolution u. zu Napoleon. Diss. Frankf. Masch.schr.) stimmt zwar insofern mit C. Schmitt überein, als sie dessen negative Bewertung der politischen Romantik teilt, möchte aber die Schärfe der Schmittschen Ablehnung dadurch mildern, daß sie der, heute als überwunden geltenden, Betrachtung der Romantik als einer rein literarischen Bewegung wieder das Wort redet, die nicht mit politischen Maßstäben gemessen werden dürfe. -- Dem Einfluß der französischen Revolution auf das deutsche Geistesleben, den H. nur für den frühromantischen Kreis verfolgte, ist der greise Züricher Historiker A. Stern ( 722) im Gesamtbereich des geistigen Deutschlands von 1789--1814 nachgegangen. Freilich eine groß angelegte »Geistesgeschichte«, wie die wohl zu Lasten des Verlages gehende anspruchsvolle Ankündigung auf dem Buchumschlage verheißt, gibt die St.sche Darstellung nicht. Es wäre jedoch unbillig, dieses Alterswerk eines Forschers vorwiegend im Vergleich mit Dilthey oder Meinecke zu beurteilen, um so mehr, als mit den St. generations- und artmäßig näherstehenden Arbeiten Wencks oder Heigels kommensurablerere Vergleichsobjekte vorhanden sind (vgl. auch S. 342). -- Der Versuch E. Gelp-

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ckes (Fichte und d. Ideenwelt des Sturm und Drang) ( 1547), der entgegen der üblichen und zuletzt von X. Léon (Fichte et son temps. [1927] energisch vertretenen Auffassung eine wesentliche Beeinflussung Fichtes durch die französische Revolution leugnet und die F.sche Gedankenwelt aus der des Sturm und Drang abzuleiten sucht, vermag den Historiker nicht völlig zu überzeugen. Denn die dokumentarischen Zeugnisse für F.s Beziehungen zum Sturm und Drang bleiben nach wie vor sehr gering, während seine nachweisbaren Beziehungen zur Revolution bedeutend sind. Bei G. wird der Nachweis ergänzt durch eine auf die charakterologischen Wahlverwandtschaften gegründete Vergleichung, die naturgemäß auf einer andern als der geistesgeschichtlichen Ebene verläuft und außerzeitliche Affinitäten ergibt.

In einer Anthologie von Zeitstimmen versucht der Leipziger Byzantinist K. Dieterich ( 1554 a) die mehr gefühlsmäßigen Reflexwirkungen der griechischen Revolution (1821--28) auf ihre deutsche Mitwelt zu veranschaulichen. Die D.sche Auswahl vermittelt aus damaligen deutschen Selbstzeugnissen von dem Für und Wider der Meinungen in der »griechischen Sache« ein rundes, umfassendes Bild und bietet dem wissenschaftlichen Benutzer ein gut zubereitetes Quellenmaterial, dessen er sich als Forscher wie als Lehrer mit Vorteil bedienen wird.

Wenn auch die planmäßigere Erforschung des deutschen Zeitungswesens in den letzten Jahrzehnten natürlich auch der belletristischen und kritischen Zeitschriftenliteratur zugute gekommen ist, so läßt sich unser Besitz an historischen Darstellungen der großen kritischen Zeitschriften des 18. Jhds. immer noch bequem an den fünf Fingern herzählen. Um so dankbarer ist daher jede Neuerscheinung auf diesem Gebiete zu begrüßen, zumal wenn es sich um eine so umsichtige Darstellung wie die von G. Ost ( 1545) -- ursprünglich eine Berliner Dissertation -- und um ein so bedeutsames Darstellungsobjekt wie die Nicolaische »Allgemeine Deutsche Bibliothek« (1765--1806) handelt. Im Hinblick auf die lange und ungemein fruchtbare Lebensdauer der Nicolaischen Zeitschrift, aber auch mit Rücksicht darauf, daß sie »faktisch eine Verkoppelung aller als möglich denkbaren Fachjournale war«, glaubte O. von vornherein sein Thema begrenzen zu sollen. Er überließ daher die Reproduktion und die kritische Wertung ihres geistigen Gehaltes »reifen Kennern« der einzelnen Fachdisziplinen und beschränkte sich auf ihre äußere Geschichte, d. h. die Untersuchung und Darstellung ihrer buchhändlerischen Organisation, der Zusammensetzung des Mitarbeiterstabes, die wechselnde zahlenmäßige Beteiligung der verschiedenen Literaturzweige an der Berichterstattung, des Absatzes unter möglichster Berücksichtigung der landschaftlichen Absatzgebiete, des Verhältnisses zum Publikum, zur Konkurrenz, zu den Behörden u. dgl. Innerhalb dieses Rahmens hat O. sein Thema bis zu einem hohen Grade erschöpft und seine Hoffnung, mit dieser Teillösung doch auch ein Ganzes geboten zu haben, wird durch die Vielseitigkeit der Gesichtspunkte, die er einer offenbar sehr lückenhaften Überlieferung abgewann, durchaus gerechtfertigt. -- Den umgekehrten Weg wie O. ist der jüngst verstorbene Emeritus der Königsberger Universität, H. Prutz ( 1584), gegangen, als er seinem Vater Robert, dem bis heute unerreichten deutschen Historiker des Zeitungswesens in seiner praktischen journalistischen Betätigung als Herausgeber des »Deutschen Museums« (1852 bis 1866) ein Denkmal setzte. Er verzichtete auf jede Darstellung der äußeren Geschichte


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dieser Zeitschrift und beschränkte sich auf eine knapp gehaltene Würdigung ihres Programmes und seiner redaktionellen Verwirklichung.

Nur wegen ihres reichen, gut ausgewählten und meist glücklich reproduzierten Bildermaterials sei schließlich noch auf eine Veröffentlichung des Heineschen Verlages in Cottbus (F. Zahn u. R. Kalwa, Fürst Pückler-Muskau als Gartenkünstler u. Mensch) hingewiesen, die dem Andenken des vor den Toren dieser Stadt im Branitzer Pyramidengrabe ruhenden Fürsten Hermann von Pückler-Muskau gewidmet ist. Überrascht diese dem berühmten Landsmanne zugedachte Ehrung durch ihre, von den üblichen Heimatpublikationen vorteilhaft abstechende Großzügigkeit und Kostbarkeit der graphischen Ausstattung, so enttäuscht sie desto mehr durch ihre literarische Dürftigkeit.


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