§ 49. Zeitungswissenschaft.

(E. Dovifat.)

1928 war das Jahr der »Internationalen Presseausstellung« in Köln. Es hat eine bunte Fülle mannigfaltigen Schrifttums über das Zeitungswesen hervorgebracht. Darunter sehr viel Zweckliteratur. Viel Erinnerungs- und Gedenkschriften von Zeitungen und Verlagsanstalten. Mehr oder weniger verhüllte Reklame- und »Repräsentationsschriften«, selbst für die Pressesysteme ganzer Länder (Sowjetrußland). Jeder war bemüht, seine Leistung dem Ausstellungsstil entsprechend eindrucksstark und gedächtnishaftend festzuhalten. So war der Erfolg der Ausstellung für die Presse von allgemein werbender Bedeutung. Viele, die bisher kaum über das Zeitungswesen nachgedacht hatten, wurden dazu angeregt. Doch blieb das eigentliche wissenschaftliche Ergebnis dürftig. Zumal sich die Stadt Köln bisher nicht dazu aufgeschwungen hat, die schon rein zahlenmäßig sehr beachtlichen Leistungen der großen Kulturhistorischen Abteilung, die in erster Linie der Anregung und Führung des Münchner Zeitungswissenschaftlers Prof. Dr. d'Ester zu danken ist, auch nur katalogmäßig festzuhalten. Damit ist eine gründliche Bearbeitung dieser aus Sammlungen aller Welt zusammengetragenen Schätze und die Nutzung der Beweiskraft all dessen, was sie belegten, unmöglich gemacht. So bleiben als eigentliche wissenschaftliche Ergebnisse eine Reihe von Sondernummern bekannter Fachzeitschriften, in denen die führenden Fachleute neues und wissenschaftlich Wertvolles geboten haben. Auch aus dem Gebiete der Zeitungsgeschichte wurde mancher neue Beitrag zugesteuert.

Unabhängig von der »Pressa« sind 1928 einige grundlegende Arbeiten der neuen Disziplin herausgekommen. Sie bewiesen das wache Interesse an der wissenschaftlichen Erforschung unseres öffentlichen Lebens im allgemeinen und der Zeitung im besonderen. Ein Interesse, das sich in den letzten Jahren auch in der Gründung neuer Professuren für Zeitungswissenschaft kundgetan hat. Neben den im eigentlichen Sinne zeitungswissenschaftlichen Arbeiten stehen einige Arbeiten aus anderen Gebieten, in erster Linie auch aus der Geschichtswissenschaft, die für die zeitungswissenschaftlichen Erkenntnisse besonders förderlich gewesen sind.

Die Frage, wo die Grenze läuft zwischen der rein historischen und der rein zeitungswissenschaftlichen Literatur, liegt hier nahe. Da die Jahresberichte heute zum ersten Male sich auch der zeitungswissenschaftlichen Arbeiten in


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dankenswerter Weise annehmen, sei hier eine kurze grundsätzliche Darlegung voraufgeschickt. Die junge Zeitungswissenschaft ist sich durchaus bewußt, daß die Universalität ihres Forschungsgegenstandes sie in die schwere Gefahr der Zersplitterung bringt. Eben darum sucht sie in strengster Selbsterziehung ihr Arbeitsgebiet deutlich und fürs erste auch ganz eng zu begrenzen. Sie findet zunächst die Tatsache vor, daß sehr viele Disziplinen, darunter insbesondere die Geschichtswissenschaft, sich der Zeitung annehmen. Den Historikern ist sie eine Quelle, den Soziologen »Ausdruck des gesellschaftlichen Bewußtseins«, den Staatswissenschaftlern ist sie ein bedeutsamer Wirtschaftszweig, Verkehrsorgan und Wirtschaftsvermittler. Den Germanisten und Literaturhistorikern ist die Zeitung Vorzeichen und Ankündigung jüngster literarischer und literarischkritischer Entwicklung, den Juristen ein besonders heikler Gegenstand des Straf- und Privatrechts mit wesensbedeutenden Bindungen im Verfassungsrecht. Schließlich ist sie sogar den Medizinern in ihrem Verhältnis zu gewissen psychopathologischen Erscheinungen der Zeit ein Gegenstand ernster Betrachtung. Diese vielfältigen Beziehungen, die auch noch zu anderen Disziplinen bestehen, bekräftigen die vielfältigen Aufgaben der Zeitung. Sie sind alle von besonderem Reiz, doch haben sie mit Zeitungswissenschaft zunächst nichts zu tun. Die Zeitungswissenschaft ist dankbar für jeden Beitrag, der ihr aus anderen Arbeitsgebieten zukommt, aber alle Wirkungen der Zeitung in ihrer Umwelt interessieren sie zunächst nur insoweit, als dadurch die Zeitung selbst in ihrem Wesen beeinflußt und gewandelt wird. Es ist ja auch gar nicht die Zeitung selbst, die die anderen Disziplinen im Zuge ihrer Forschungsarbeit suchen. Sie suchen nur jeweils eine Seite der Zeitung oder eine Kraftrichtung ihres Wirkens zu erkennen. Wenn die Zeitung dem Historiker Quelle sein soll, Spiegelbild einer Zeit, eines zeitlichen Geschehens, so interessiert den Zeitungswissenschaftler dieses Spiegelbild nicht in erster Linie. Er will den Spiegel selbst erkennen und die Gesetze der Spiegelung. Somit beschränkt sich die Zeitungswissenschaft zunächst bewußt auf die Erforschung der Lebensgesetze der Zeitung, des Wechselspiels zwischen den geistigen, wirtschaftlichen und technischen Kräften, die in ihr zur Einheit werden. Daher sind auch ihre Arbeitsmethoden ebenso wirtschaftswissenschaftlicher wie kulturwissenschaftlicher Natur. Aus der historischen Betrachtung der Zeitung zieht sie z. B. viele ihrer Beispiele und Beweise zur Erkenntnis gegenwärtiger Tatsachen. Neben diesem ihrem wissenschaftlichen Selbstzweck glaubt die Zeitungswissenschaft auch der Erkenntnis vieler Vorgänge des öffentlichen Lebens dienen zu können, die sich in der Zeitung wie in einem Brennpunkt treffen. Ist es ihr erst gelungen, die Zeitung in all ihren Teilen und in ihren verschiedenen Entwicklungsstadien zu durchleuchten, dann ist der unschätzbare Nutzen deutlich, den sie auch der Geschichtsforschung bietet. Alles was Bernheim und Spahn und andere Historiker über die Zeitung als Geschichtsquelle gesagt haben, wird praktisch erst dann anwendbar sein, wenn die Natur dieser Quelle ganz klar erfaßt und z. B. für jeden Zeitabschnitt die Kriterien erkannt sind, nach denen hier die Nutzung zu erfolgen hat. Dazu gehört keineswegs die rein historische Betrachtung der Zeitung allein, auch nicht das einseitige Studium ihrer geistigen Haltung. Dazu muß sie als wirtschaftlich-geistige Einheit in ihrer Eigenart festgelegt und erläutert sein. Diese Arbeit kann daher nur von einer Disziplin geleistet werden. Sie muß, wie die Zeitung selbst, eigen und eigengesetzlich sein. Ihre Ergebnisse stehen allen

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Wissenszweigen zur Verfügung, aber für keinen ist sie eine einseitig dienstbare Hilfswissenschaft.

Das sind die Grundsätze, nach denen im Nachfolgenden über die zeitungswissenschaftliche Literatur des Jahres 1928, mit besonderer Berücksichtigung der zeitungsgeschichtlichen Ergebnisse, berichtet wird.

Die wichtigste Erscheinung des Jahres ist der erste Band des auf vier Bände berechneten Werkes von Otto Groth, »Die Zeitung« ( 1577). Dies ist das erste grundlegende Werk über die Zeitung, geschaffen von einem praktischen Journalisten, dem Vertreter der Frankfurter Zeitung in München, aus langjähriger Berufserfahrung und einer zwölfjährigen intensiven Arbeit in ungeheurem Fleiß und großer wissenschaftlicher Gründlichkeit. Schon die Einleitung kennzeichnet deutlich die zeitungswissenschaftliche Arbeitsmethode: »Es sind die Methoden der Soziologie, vor allem die massenpsychologische, der Geschichtsschreibung, -- Geschichte im weitesten Sinne, die die gesamte kulturelle Entwicklung der Neuzeit umfaßt, -- und der Volks- und Privatwirtschaftslehre; aus ihrer Verbindung und gegenseitigen Durchdringung entsteht das »besondere« Forschungsprinzip, dessen die Zeitungswissenschaft bedarf. Der vorliegende 1. Band umfaßt in einem ersten Buch eine »Allgemeine Zeitungskunde« (Theorie der Journalistik), dem im zweiten Buche die »Spezielle Zeitungskunde« (das deutsche Zeitungswesen) folgt. Davon umfaßt der 1. Band noch die Darstellung der »Äußeren Entwicklung des Zeitungswesens«, der äußeren Erscheinung der deutschen Zeitung, sowie der gesamten redaktionellen Seite der Zeitung. (Beschaffung, Wesen, Arten und Formen des Textes.) Mit einer oft weitschweifenden Ausführlichkeit hat Groth jedem neuen Kapitel eine umfassende historische Behandlung des Stoffgebietes voraufgeschickt. Es ist also in diesem Bande auch eine Geschichte des Zeitungswesens enthalten. Sie ist zwar nicht zusammengefaßt oder nach Zeitungstypen oder nach Geschichtsperioden aufgeteilt, sondern geht zur Begründung und Klärung des gegenwärtigen Zustandes jedem Kapitel vorauf. Selbst in den einzelnen Begriffsbestimmungen wird die historische Entwicklung jeweils eingehend abgewandelt. So zeigt sich die Bedeutung dieser historischen Betrachtung für das zeitungswissenschaftliche Ergebnis. Dem Geschichtsforscher, der über bestimmte Zweige der Zeitungsarbeit in bestimmten Epochen Auskunft sucht, öffnet sich hier eine ausführliche Informationsmöglichkeit, die mit umfassender Literaturangabe verbunden ist. Groth hat freilich im Zitieren sich oft von der Fülle tragen lassen, so daß namentlich jüngeres Artikelmaterial mehrfach in einem Umfange abgedruckt ist, der den Band aufschwemmt. So ist noch mancher unbehauene Stein eingebaut worden, der die Architektur dieses Werkes unklar macht. Das System tritt nicht immer deutlich hervor. Das Werk bleibt aber schon durch die Fülle des zusammengestellten Materials für die künftige Arbeit der Zeitungswissenschaft von größtem Werte. Auch die Vertreter anderer Disziplinen, die das Buch zu Rate ziehen, erkennen das an.

In kurzer, aber stark systematischer Gesamtdarstellung entwickelt W. Schön, Privatdozent für Zeitungskunde an der Universität Leipzig, das Stoffgebiet in seinem Buche: »Die Zeitung und ihre Wissenschaft« (Leipzig, Timm, 235 S.). Der Verfasser setzt der Zeitungswissenschaft das Erkenntnisziel, die Zeitung als »Ausdruck des gesellschaftlichen Bewußtseins« zu erkennen. Dazu möchte er die vollständige Darstellung des zeitungskundlichen Wissens »durch


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ein arbeitsteiliges Zusammenwirken der Vertreter verschiedener Wissensgebiete« gewährleistet sehen. Das wäre der Bankrott der selbständigen, die Zeitung aus ihren eigenen Gesetzen erfassenden Disziplin. Eine Aufteilung der bunten Mannigfaltigkeit der Stoffgebiete in verschiedene Hände. Aufnahme des Wissens von der Zeitung als Teilgebiet eines halben Dutzends anderer Diszipline. Womit die Erkenntnis des eigentlichen Wesens der Zeitung und damit auch ihre rechte Einschätzung im Interesse der übrigen an ihr interessierten Wissensgebiete unmöglich würde. Den Nachteil würde auch die Geschichtswissenschaft tragen. Trotz diesen hart umstrittenen Grundauffassungen des Verfassers ist sein Werk im einzelnen eine klare Zusammenfassung der Hauptteile des Gebietes, selbständig gesehen und eigen beurteilt. Mit besonderer Sachkunde und Anschaulichkeit ist die Statistik bearbeitet. Leider ist der wirtschaftliche und technische Teil der Zeitung nur in seinen ganz allgemeinen Beziehungen zum geistigen Teil dargestellt. Dafür sind die »amtlichen Pressedienste« besonders sachkundig bearbeitet. Das Kapitel über die Formen der periodischen Presse in ihrer geschichtlichen Entwicklung gibt über Neubildung und Niedergang in der Pressegeschichte der letzten drei Jahrhunderte einen sehr unterrichtenden Überblick.

Von kleinen Abrissen ist zuerst zu nennen d'Ester: »Zeitungswesen« ( 1578). Eine an treffend ausgewähltem und anschaulich illustriertem Material reiche, vornehmlich zeitungs geschichtlich gerichtete Darstellung. Das kleine Buch von Dr. Hans Traub: »Zeitungswesen und Zeitunglesen« (Dessau, Dünnhaupt, 198 S.), ist weltanschaulich nicht ganz unbefangen, hat aber den großen Vorzug, neben der geistigen Seite der Zeitung die wirtschaftliche und technische gleichberechtigt herauszuarbeiten. Traub sieht beim Ursprung der Zeitung das Neue »in der Übermittelung möglichst rasch aufeinander folgender Nachrichten, die einen Kreis nach Charakter, Interessen, sozialer und wirtschaftlicher Stellung verschiedenster Menschen verbinden«. Diese Ursprungstheorie hat den Vorteil, auf die für jede zeitungswissenschaftliche Betrachtung wichtige Anteilnahme des Lesers, des Publikums, hinzuweisen.

Soweit die allgemeinen Arbeiten. Spezialaufgaben zu lösen ist heute auf dem Gebiet der Zeitungswissenschaft eine sehr undankbare Sache. Nicht nur weil die Promotions- und Habilitationsbedingungen in der Zeitungswissenschaft auf den meisten Universitäten noch wenig gefördert sind, sondern vornehmlich deshalb, weil die wirtschaftlichen Voraussetzungen der Publikation hier weniger als auf irgend sonst einem Gebiet gegeben sind. Es liegt manche sehr reife und wertvolle Spezialarbeit bis heute unveröffentlicht. Um so mehr erfreut es, daß der Leipziger Ordinarius für Zeitungswissenschaft, Prof. Dr. E. Everth, eine Anzahl guter Arbeiten seiner Schüler in einer Reihe herausbringt, die den Namen trägt: »Das Wesen der Zeitung« (Leipzig, Reinecke). 1928 sind drei Hefte erschienen. Für diese Übersicht ist das dritte von Fried. Apitzsch: »Die deutsche Tagespresse unter dem Einfluß des Sozialistengesetzes« ( 1587) besonders hervorzuheben. Hier ist die Einwirkung des polizeilichen Preßregimes jener Tage quellenmäßig genau und ausführlich dargelegt. Die Intensität der zum großen Teil »unterirdischen« Publizistik ist ebenso staunenswert, wie die Schärfe, mit der sie bekämpft wurde. Beigegeben ist eine Übersicht über die Stellungnahme der bürgerlichen Presse zu den Sozialistengesetzen. Doch liegt die besondere Stärke dieser Arbeit in der Darstellung der


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Um- und Auswege, die eine durch Polizeigewalt geknebelte Presse notwendig nimmt und nehmen muß. Dr. Manfred Rietschel hat in seiner Arbeit: »Der Familien besitz in der deutschen politischen Tagespresse« (Leipzig, Reinecke, 98 S.), auf Grund einer Umfrage Verbreitung, Funktion, Zukunft und pressepolitische Wertung des Familienbesitzes in der deutschen Presse untersucht. Urteile führender Zeitungsleute, die z. T. sehr temperamentvoll und persönlich gegeben sind, führen den Verfasser zu der Auffassung, daß eine allgemeine Entwicklung der deutschen Tagespresse zu den kapitalistischen Besitzformen einer A. G. oder einer G. m. b. H. nicht gewünscht werden kann. Der Verfasser kommt zu dem Ergebnis, daß heute noch 4/5 der deutschen Presse in Familienbesitz ist, und glaubt, daß sich in nächster Zeit die Entwicklung durchsetzt: A. G. oder G. m. b. H. als Form, Familienbesitz als Inhalt. Fr. Bertkau gibt einen Beitrag zur Geschichte der Presse im Weltkrieg in seinem in gleicher Reihe erschienenen Buche: »Das amtliche Zeitungswesen im Verwaltungsgebiet Ober-Ost« ( 1588). Die erste wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Darstellung des deutschen Staatsjournalismus im Weltkriege, angewandt diesmal auf die besetzten Gebiete in Ober-Ost. Für eine objektive Darstellung des deutschen Staatsjournalismus in der Heimat ist die Zeit wohl noch nicht gekommen. -- In der Schriftenreihe des Münchner Instituts für Zeitungsforschung, »Zeitung und Leben« (München, Pfeiffer), hat H. Kapfinger einen Ausschnitt aus der Vorgeschichte des politischen Katholizismus bearbeitet ( 1356). Im wesentlichen eine historische Arbeit, die in dem Kreis, der sich um Görres und F. v. Baader und deren Zeitschrift »Eos« scharte, das Werden der Ideen erkennbar werden läßt, die später zur Gründung der Zentrumspartei führten. Zeitungswissenschaftlich interessant ist die Schilderung des damals verfrühten und daher gescheiterten Versuches, die Presse in den Dienst der politischen Erziehung der Masse zu stellen. G. Huber hat in der gleichen Sammlung die französische Propaganda im Weltkrieg bearbeitet ( 944) und dabei den Wert zeitungswissenschaftlicher Fragestellung gerade für die Erkenntnis jenes großen Propaganda-Apparates bewiesen, der während des Krieges den Kampf der Waffen auf allen Seiten begleitete. Eine wertvolle Einzelarbeit für das Verständnis der Wirtschaftsstruktur und der privatwirtschaftlichen Rechnungsgesetze der Tageszeitung leistete P. Dierichs, der den »Zeitungsmarkt in Deutschland« untersuchte (Diss. München) und dazu ein Material beibrachte, das er aus den Kreisen Niederrhein und Westfalen erhielt und das sonst schwer erreichbar ist. Seine Forschungen haben mindestens für die Nachkriegszeit das bekannte Büchersche Rechnungsgesetz vom Überwiegen der Anzeigeneinnahme über die Bezugseinnahmen außer Kraft gesetzt. Ähnliches hat Ditges in einer im übrigen ganz betriebswirtschaftlich gerichteten Arbeit über das »Rechnungswesen in Zeitungsverlagsunternehmungen« nachgewiesen (Diss. Frankfurt).

»Die Entstehung des deutschen Journalismus« nennt D. P. Baumert ( 1581) irrtümlich eine sozialgeschichtliche Studie, die nicht den Journalismus, sondern die Entstehung, Stellung, soziale und wirtschaftliche Bindung des Journalisten und seines Berufes zum Gegenstande hat. Baumert unterscheidet in der Entwicklung des journalistischen Arbeitens historisch vier Phasen. Die »präjournalistische Periode«, die nur eine sporadische und im allgemeinen nicht berufsmäßige Nachrichtenbedarfsbefriedigung kannte, die Phase des korrespondierenden


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Berichterstatters (des Materiallieferanten der Relationen, des »Zeitungers«, Gazettiers, Newswriters), die des schriftstellernden Journalisten, der aus der Aufklärung stammt, die Zeitung zum publizistischen Mittel erhoben hat und bis um die Mitte des 19. Jhds. als Hauptträger und Mittelpunkt der Zeitungspublizistik wirksam ist. Die letzte Phase bringt den Redakteur, der in feste, geistig führende Beziehungen zum Wirtschaftsunternehmen Zeitung tritt und der bis heute »der geistige und berufliche Hauptfunktionär« im Journalismus ist. Die Gliederung stimmt im Groben und zeigt manchen Weg weiterzuarbeiten. Die Schrift ist ein erster Schritt zur Erforschung der Sozialgeschichte der im Zeitungswesens tätigen Persönlichkeiten, für die man auch dem Anreger der Arbeit, Heinrich Herkner, dankbar sein muß.

»Publizistik und Journalistik und ihre Erscheinungsformen bei Joseph Görres« untersuchte W. Spael ( 1583). Die Stärke dieser Arbeit ist die Darstellung der journalistischen und publizistischen Entwicklung von Görres, an der die bisherige Görresliteratur -- was in mancher Richtung kennzeichnend ist -- vorübergegangen war. Verfehlt ist leider die theoretisierende Unterscheidung Spaels zwischen »Journalistik« und »Publizistik«. Wenn Spael schreibt: »Journalist ist, wer das Bedürfnis des Geistes nach Abwechslung befriedigt; Publizist, wer die Tendenz des Blattes in ihrem Ethos herausarbeitet«, so faßt er den Begriff der Publizistik viel zu weit und den der Journalistik so eng, daß nichts mehr übrig bleibt. Es ist eines der Ergebnisse der zeitungswissenschaftlichen Arbeit der letzten Jahre, daß auch die Nachrichtenarbeit, -- die nach Spael in erster Linie dem Journalisten zufällt, -- immer meinungsmäßig, also im Sinne Spaels schon publizistisch bestimmt ist. Die chemische Scheidung beider Begriffe ist unmöglich.

Angeregt zweifellos durch das allgemeine Interesse des Ausstellungsjahres haben zwei Verlagsanstalten die Neuausgabe zweier »klassischer« Zeitungen in Faksimiledruck gewagt. Der Gilde-Verlag brachte im Rahmen der auf 20 Bände berechneten »Gesammelten Schriften von Josef Görres« in 2 Bänden das vollständige Exemplar des »Rheinischen Merkur« heraus ( 1590). Der erste Band bringt das Faksimile des 1. Jahrganges (1814) und erschließt seine Nutzung durch Inhaltsverzeichnisse, die jeden Beitrag stofflich und nach der Verfasserschaft kennzeichnen. Der zweite Band bringt den 2. Jahrgang (1815/16) mit einem Gesamtverzeichnis aller im Merkur genannten Personennamen, einem Sachregister und einem Anhang, der über die Zensurverhältnisse des Merkur Auskunft gibt. Außerdem ist eine von Hans A. Münster bearbeitete Görres- Bibliographie dem Anhang beigegeben. Dieses einzige vollständige Merkurexemplar ist nach 20 verschiedenen Originalen hergestellt, bietet also der zeitungswissenschaftlichen, in erster Linie aber auch der historischen Forschung eine denkbar zuverlässige Quelle. Ihr Wert wird durch die mit einem Riesenfleiß und peinlichster Genauigkeit durchgeführte Aufbereitungsarbeit der Herausgeber stark gesteigert. Bei der Herstellung des Exemplars ist auch zwischen Erst- und Nachdrucken peinlichst unterschieden worden, so daß sie auch bei zeitungswissenschaftlichen Forschungen über Aktualität und publizistische Wirkung des Merkur unbedingt zuverlässig ist. -- Die andere faksimilierte Zeitung ist die »Neue Rheinische Zeitung«, das Blatt von Karl Marx ( 1593). Die Ausgabe bietet eine glückliche Möglichkeit, diese ganz in der Nachrichtenform und gleichwohl rücksichtslos kämpferisch geführte Zeitung gründlich zu


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studieren. Die starke persönliche Führerleistung von Karl Marx tritt überall hervor. Es wäre zu wünschen, daß die Herausgabe zu einer gründlichen Erforschung dieser frühen publizistischen Periode im Leben von Marx führen würde. Zu den Faksimile-Ausgaben gehört auch die Wiedergabe der »Ältesten Berliner Zeitung«, der Fragmente der Berliner Wochenzeitung von 1626. (Vgl. S. 413.) Ernst Consentius hat in der ihm eigenen philologischen Genauigkeit, aber auch in sehr anschaulicher Schilderung, den begleitenden Aufsatz geschrieben. Einwandfrei wird darin nachgewiesen, wie zu Anfang des 17. Jhds. gedruckte und geschriebene Zeitungen noch nebeneinander der Nachrichtenverbreitung dienten. Das handgeschriebene und später in Handschriftlettern gedruckte Blatt hat neben der gedruckten Ausgabe noch lange weiterbestanden.

Aus der großen Reihe der anläßlich der Presseausstellung erschienenen Sondernummern von Fachzeitschriften haben nur drei besondere Bedeutung erlangt. Das »Archiv für Buchgewerbe und Gebrauchsgraphik« hat ein Heft 4 seines Jahrganges 1928 (Leipzig, Buchgewerbeverein) ganz der Zeitungswissenschaft gewidmet und einer Reihe von Fachleuten verschiedener Wissensgebiete Gelegenheit zu umfangreicheren Aufsätzen geboten. Nicht zu Unrecht steht hier an erster Stelle eine begriffliche Grundlegung, die der Leipziger Ordinarius für Zeitungswissenschaft E. Everth unter dem Titel: »Die Zeitung im Dienste der Öffentlichkeit« gegeben hat. Die Art, wie hier der Begriff der »Öffentlichkeit« und der Begriff des »Interesses« und dann der Begriffe des »Öffentlichen Interesses« als Wirkens- und Aufgabengebiet der Zeitung analysiert ist, zeigt, wie erfolgreich eine gründliche und bis zum letzten vordringende zeitungswissenschaftliche Betrachtung auch dem praktischen Verständnis der Vorgänge des öffentlichen Lebens und schließlich auch der ethischen Zielsetzung der Zeitung dienstbar sein kann. F. Tönnies, dessen Forschungen über die öffentliche Meinung für die deutsche und die internationale Betrachtung dieses schwer faßbaren Begriffes bahnbrechend gewesen sind, hat in einem Beitrag historischer Prägung: »Die öffentliche Meinung in unserer Klassik« untersucht. G. Steinhausen, der als erster in Deutschland der Geschichte des Briefes in seinen Beziehungen zum frühen Zeitungswesen nachgegangen ist, hat in Überarbeitung eines älteren Aufsatzes »Die Entstehung der Zeitung aus dem brieflichen Verkehr« dargestellt. Darin ist jener wichtigste Vorgang in der Keimzelle der Zeitung, wo sich aus dem privaten Brief die Cedula, der gesonderte Zeitungsbrief loslöst, um aus der individuellen Nutzung zur kollektiven überzugehn, neu belegt und dargestellt. K. Schottenloher, bekannt durch sein großes Buch: »Vom Flugblatt zur Zeitung«, steuert als vierter einen Aufsatz bei über: »Handschriftliche Briefzeitungen des 16. Jhds«. Dabei zeigt er auch die meinungsmäßige Ausnutzung dieser frühen Nachrichtenträger. Ein klassisches Zeugnis der Geschichte für die zeitungswissenschaftliche Theorie von der Subjektivität und der nachrichten-politischen Wendung aller Nachrichtenarbeit. J. Kirchner gibt Beiträge zur »Entstehungs- und Redaktionsgeschichte der Acta Eruditorum«. R. Freytag stellt auf Grund von Akten des fürstl. Thurn- u. Taxisschen Zentralarchivs das »Speditionsverbot der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung« dar. »Aus den Anfängen des deutschen Witzblattes am Rhein« unterrichtet K. d'Ester. Es sind die »Gespräche der Toten« des Herrn von Tonder, die hier eine trefflich bebilderte


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Darstellung sowohl ihrer literarisch-humoristischen wie ihrer politischen Bedeutung erfahren. Einen zeitungskritischen Aufsatz: »Bildungstendenzen der Zeitung von heute«, steuert der Freiburger Zeitungswissenschaftler W. Kapp bei. W. Bauer-Wien, dem die Zeitungswissenschaft für seine Arbeiten über die Geschichte der öffentlichen Meinung immer verpflichtet bleiben wird, fragt im 9. Aufsatz: »Was haben wir von einer Geschichte der modernen Presse zu erwarten?« Die Voraussetzungen, die er dann für eine solche Geschichte entwickelt, nehmen für ihre historischen Ziele zeitungswissenschaftliche Ergebnisse deutlich zum Ausgangspunkt. Eine gewisse Vernachlässigung der technischen und wirtschaftlichen Kräfte in der Zeitung erklärt sich aus der mehr geisteswissenschaftlichen Fragestellung. Erfreulich deutlich aber ist die Notwendigkeit herausgearbeitet, die rein geschichtliche Methodik mit einer »allgemeinen Einsicht« -- Bauer nennt sie die soziologische -- zu paaren. Wir möchten ergänzen: Sie bedarf auch der rein technischen (Nachrichtentechnik, Intensität und Reichweite der Vervielfältigungstechnik) und wirtschaftlichen Methodik. Bauer deutet das auch selbst an. Mehrfach kehrt er die Rolle der Anzeige und ihre Beziehung zur Gestaltung des Zeitungstyps hervor. Erfreulich herausgearbeitet sind zwei Forderungen, die von den bisherigen Geschichtsschreibern der Zeitung oft zu wenig berücksichtigt wurden: Es soll die Mitwirkung des »Lesers«, also des Publikums, an der Schaffung und Prägung der Zeitung immer beachtet, sowie die Erkenntnis von der unbedingten Subjektivität aller Zeitungsarbeit Voraussetzung jeder Zeitungsbetrachtung sein. Bauer schreibt: »Offenbar ist es unmöglich Neuigkeiten zu verbreiten, ohne sich in irgendeine Tendenz zu verstricken«. Danach kann man nur wünschen, daß die künftigen Zeitungshistoriker alle bei Bauer in die Schule gehen. Im 10. Aufsatz versucht E. Dovifat »Die Anfänge der Generalanzeigerpresse« zu erforschen. Das Wachsen der modernen Massenpresse ist bisher in Deutschland so gut wie gar nicht erforscht. Der zweifellos scharfe Qualitätsabstieg, den ihr Aufkommen gegenüber der großen, alten politischen Gesinnungspresse darstellt, hat gelegentlich dazu geführt, sie ein wenig von oben herab zu beurteilen. Gänzlich zu Unrecht. Gerade die Massenpresse sollte besonders zum Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung gemacht werden, denn mit ihr erst wird die Zeitung Massengebrauchsartikel und von ihr erst datiert die Macht der Presse als eines Massenführungsmittels. England und Frankreich und vor allem Amerika zeigen das Werden dieser Massenpresse in besonders lehrreichen Erscheinungsformen. In Deutschland steht heute August Scherl als der bekannteste Schöpfer des neuen Typs da. Der vorliegende Aufsatz geht bis in die Mitte der siebziger Jahre den Anfängen und Vorbildern nach, die August Scherl in seinen jungen Jahren kennenlernte. Dovifat schildert dann im Berliner Lokalanzeiger den gänzlich neuen Zeitungstyp, zeigt seine Nachahmungen im übrigen Deutschland, belegt die langsame Politisierung des anfangs unpolitischen Zeitungstyps und führt die Entwicklung bis zu der Zeit, da mit der Jahrhundertwende in der Straßenverkaufs- (Boulevard-) Presse wieder ein neuer Zeitungstyp aufwächst. -- In weiteren kürzeren Aufsätzen klärt W. Schöne die Beziehungen zwischen »Zeitungsgewerbe und Publizistik«. F. Runkel schreibt über die »Wissenschaftliche Vorbildung der Journalisten«.

Von hervorragender zeitungsgeschichtlicher Bedeutung ist die Pressasondernummer des »Zeitungs-Verlag« ( 1579). In zum Teil sehr ausführlichen,


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mehrfach auch wissenschaftlich bedeutsamen Aufsätzen ist hier die ganze deutsche Presse in regionaler Gliederung behandelt. Alles erreichbare statistische Material ist einbezogen. Einigen Artikeln sind Bilder beigegeben. Als Grundlage örtlicher Zeitungsforschung ist dieser Band unentbehrlich. -- Die von K. d'Ester und W. Heide herausgegebene Zeitschrift »Zeitungswissenschaft« (Berlin, Staatspolit. Verlag) hat gleichfalls die Anregungen des »Pressa«-Jahres in vielen Artikeln auch aus dem internationalen Pressewesen verfolgt, ergänzt und begründet.

»Die Zeitung als Dokument« behandelt Heinrich B. Schiffers, Davringhausen, in einer kleinen Schrift (Aachen, Meyer), die vor allem die Aufgabe hat, die Schätze der Aachener Zeitungssammlung Forckenbeck zu erschließen. -- Die »Zeitungs-Sammlungen und -Sammelstellen in Deutschland« hat W. Heide für jeden, der diese Sammlungen benutzen möchte, in einem handlichen Heft zusammengestellt (Berlin, Staatspolit. Verlag).

In der Reihe der in jedem Jahre zahlreichen Verlagsgeschichten, die in Form von Sondernummern und dergleichen erscheinen, steht an erster und für dieses Jahr einziger Stelle die Geschichte des Hamburger Fremdenblatts, die Alfred Herrmann unter dem Titel: »Hamburg und das Hamburger Fremdenblatt« zum 100 jährigen Bestehen des Blattes herausgebracht hat ( 1594). Dies Werk ist zunächst eine Geschichte Hamburgs. Als solches ist es hier nicht zu besprechen. Seine zeitungsgeschichtliche Bedeutung liegt darin, daß Herrmann beim Gang durch diese hundert Jahre an seiner Zeitung alle Phasen dartut, die in geistiger, wirtschaftlicher und technischer Beziehung im letzten Jhd. und bis hart in die Gegenwart eine Zeitung durchlaufen mußte. Es ist ihm gelungen, diese Phasen mit einer oft fast schulmäßigen Beispielhaftigkeit herauszuarbeiten. Für die Kriegszeit sind bezüglich der Anzeigen- und Auflagenentwicklung Daten veröffentlicht, mit denen sonst die Zeitungsverleger leider noch zu sehr hinter dem Berge halten. Hier helfen sie uns auf diesen aus Materialmangel noch wenig geklärten Gebieten ein gut Stück vorwärts.

Unter den Arbeiten, die im J. 1928 sich mit der Zeitung ohne eigentlich zeitungswissenschaftliche Fragestellung befaßten, ist an erster Stelle L. Bernhards Buch zu nennen: »Der Hugenbergkonzern« (Berlin, Springer, VI, 109 S.). Keine zeitungswissenschaftliche, sondern eine zeitungspolitische Arbeit. Es spricht der politische und persönliche Freund Hugenbergs über dessen überzeugungsbegründete Ziele in der Schaffung dessen, was man heute, vielumkämpft, den »Hugenbergkonzern« nennt. Dabei aber gibt Bernhard authentische Mitteilungen über die letzten Jahre des Hauses Scherl unter der Leitung seines Begründers und die folgenden schweren Krisen, die schließlich das Haus unter den maßgebenden Einfluß seines gegenwärtigen Führers brachten. Da wir über die deutschen Zeitungskonzerne wesentlich weniger unterrichtet sind als über die Konzerne Englands und Amerikas, ist es Bernhard zu danken, daß er einige Male bis ins einzelne gehende Auskünfte gibt. Freilich enden sie auch mehrfach dort, wo sie besonders aufschlußreich werden könnten. Was in der Natur dieser zeitungspolitischen Arbeit begründet ist.

Aus verwandten Gebieten seien zwei Bücher über die »Zeitschrift« genannt. Gerhard Menz bringt in seinem Buche: »Die Zeitschrift« ein erstaunliches statistisches Material internationaler Natur zusammen (Stuttgart, Poeschel, 134 S.). Eine knappe Geschichte der Zeitschrift leitet das Buch ein.


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Es werden dann alle Gebiete dieses weitverzweigten Gebietes, bis auf Papierbeschaffung, Vertrieb und Anzeigenwesen, behandelt, wobei auch von der Zeitung gelegentlich, sei es vergleichend und beispielgebend, sei es unmittelbar, gehandelt wird. Aus bibliothekarischen Untersuchungen heraus hat J. Kirchner die »Grundzüge des deutschen Zeitschriftenwesens« bibliographisch und buchhandelsgeschichtlich entwickelt ( 77). Dabei kommt er bei der Begriffsbestimmung der Zeitschrift zu einer treffenden Unterscheidung zwischen Zeitung und Zeitschrift, die viel dazu beitragen wird, das hier herrschende Definitionschaos langsam zu lichten. (Vgl. auch S. 88.)

Die junge Zeitungswissenschaft kann sich an Leistungswerten im J. 1928 gewiß noch nicht neben eine der alten und bewährten Disziplinen stellen. Sie ist bescheiden genug, das selber zu wissen. Wer aber ernstes Streben gerecht wertet und zudem die Wand von Zweifeln und Mißtrauen kennt, die sich einem jungen Fach entgegengestellt, damit es sich behaupte und durchsetze, der wird in der zeitungswissenschaftlichen Literatur des Jahres 1928 die Anzeichen fruchtbringender Entfaltung finden. Mehr und mehr wächst die Zeitungswissenschaft aus dem Schatten der alten Disziplinen zum eigenen Lichtkreis herauf, den ihr Neubildung und Bewegung des öffentlichen Lebens seit langem zugewiesen hat.


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