I. Allgemeines.

Wilhelm Bauers »Einführung in das Studium der Geschichte« behandelt in der neuen, zweiten verbesserten Auflage ( 1) im wesentlichen unverändert die verschiedenen Arten der Geschichtsschreibung nach ihrer Darstellungsart in gedrängter Kürze: die referierende, die pragmatische, die genetische und schließlich die soziologische. So wenig es die Soziologie zu einer einheitlichen Methodik gebracht habe, so wenig könne sich dessen die in ihrem Geiste gehaltene Geschichtsschreibung rühmen. Das Unfertige an ihr dürfe aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie eine zeitgeschichtlich bedingte


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Berechtigung besitze. Leistungen von dauerndem Wert habe sie noch nicht hervorgebracht, man verdanke ihr aber mannigfache neue Gesichtspunkte.

In gedrängtem Überblick, der auch als literarischer Wegweiser zur Historiographie der letzten Jahre von Wert ist, berichtet Oskar Kende über »neuere Strömungen auf dem Gebiete der deutschen Geschichtswissenschaft«. (Wien-Leipzig. Hölder-Pichler-Tempsky A.-G. S.-A. aus »Wissensch. u. Schule«.) In Erhebung über dem Kleinbetrieb der Kausalitätenforschung strebe man zu den großen, überragenden Werten des Lebens und der Vergangenheit. Das »Ewige« und »Zeitliche« solle herausgeholt werden, die zeitgeschichtlichen Voraussetzungen verdämmern. Da die neuen Erkenntnisse, bei deren Einbruch die Philosophen Pate standen, »vielfach am Wesen des Historischen reiften und von dort ihre Bestätigung empfangen sollten«, so ist -- darf man wohl hinzufügen -- begreiflich, daß die »Zunft« nur zögernd und nur zu einem kleinen Teile gewillt ist, diesem »Einbruch des Subjektivismus in die Wissenschaft« Folge zu leisten, eigentlich nur »Außenseiter« (Th. Lessing, Frobenius, Spengler) seien zu nennen. Das Gefühl für die Notwendigkeit der Auseinandersetzung der Geschichtsschreibung mit den Zeitforderungen sei vorhanden. Die besondere Bedeutung der Kulturwerte für die historische Forschung werde anerkannt (Beispiel: Meinecke): es gebe höhere Kulturwerte als den Staat (Religion, Kunst, Philosophie und Wissenschaft), wenn auch der Staat, insofern von ihm die stärksten Kulturwirkungen ausgehen, im Mittelpunkt der Forschung bleiben müsse.

In wie eigenartiger Weise die neuen Strömungen und Problemstellungen die an die Geschichtswissenschaft und Geschichtsschreibung herangebracht werden, wirken können, erkennt man an dem -- in zwei verschiedenartige Teile zerfallenden -- Aufsatz von Philipp Funk ( 84) über »Neue Wege der Geschichtsrevision«. Für F. bedeutet der unter dem Eindruck geistiger und politischer Revolution so oft gehörte Ruf nach richtiger Deutung der Geschichte »das Wiedersuchen des Anschlusses an den Strom des geschichtlichen Lebenszusammenhangs nach einer Krankheitsperiode von irgendwie zugezogener Aderunterbindung«. Diese sei eingetreten, als um 1830 nach dem »Frühling des Denkens und Schauens« seit etwa 1800 -- Fr. Schlegel, Ad. Müller, Görres, E. v. Lasaulx -- neuer Absturz in die Abgründe aufklärerischer Isolierung des Individuums und seiner Kräfte erfolgte. Ein neuer Geschichtssinn künde jetzt eine neue Rekonvaleszenz an. Eine Säuberung des Geschichtsbewußtseins durch die Wissenschaft sei nötig, die auch vor scheinbar feststehenden und geheiligten Idealbegriffen (z. B. Burckhardts Renaissancebegriff) nicht Halt machen dürfe. -- Die eigentliche Tendenz des Aufsatzes enthüllt sich erst im zweiten Teile. Hier erscheint als Voraussetzung der ersehnten Gesundung die Überwindung individualistischer, d. h. einseitig intellektualistischer Geschichtsauffassung eine (freilich nicht klar definierte) organische. Sie muß sich auszeichnen durch historischen Sinn, d. h. Aufgeschlossenheit für Tradition als einer gegebenen geistigen Größe. Das bedeutet für Funk: die transzendental-gläubige Geschichtsauffassung, für die die »prima causa« über die Welt hinausragt; nur mit den Verschlingungen der »causae secundae« habe es die Geschichtsschreibung zu tun. Die größte Aufgeschlossenheit des Traditionsgefühls falle mit der Blütezeit von Romantik und Restauration zusammen. Daraus folgert nun Funk: Nur von solch organischem Geschichtsblick allein, der seine Studien regional aufbaut,


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können gewisse imperialistische und zentralistische Geschichtsauffassungen, die das alte, von der Reichsidee getragene Bewußtsein verdunkelt haben, (und zwar nicht nur im Sinne großpreußischer Machtentfaltung, sondern auch zentralistisch regierter Staaten -- Bayern: Montgelas; Württemberg: Friedrich I.) überwunden werden. Echter Regionalismus gehe von den Stämmen, nicht von den Territorien aus. Das Bild Friedrichs des Großen (er sagt Friedr. d. Zweiten) müsse auch heute noch von ungerechter Verklärung befreit werden; vielleicht bedürfe es dazu für den ersten Stoß solcher Ikonoklasten, wie Onno Klopp und Hegemann. Auch die großdeutsche Historiographie müsse widerlegt werden.

Als ein Vermächtnis Georg von Belows ( 83) an die Geschichtswissenschaft erscheint die Zusammenfassung seiner so vielfach kritisch und polemisch ausgesprochenen Anschauungen über »die Entstehung der Soziologie« und das Wesen der Romantik, die Othmar Spann aus dem Nachlaß des rastlosen Kämpfers herausgegeben hat.

Der ausgezeichnete, für die letzten Jahrzehnte auf genauer persönlicher Kenntnis und Erfahrung beruhende Aufsatz von Walter Goetz ( 85) über »die bayrische Geschichtsforschung im 19. Jahrhundert« beschäftigt sich in überaus instruktiver Weise fast ausschließlich mit den Strömungen, die im Wechsel der Jahrzehnte für die Besetzung der Geschichtsprofessuren an der Universität München maßgebend gewesen sind, der Persönlichkeit dieser Männer und ihrer Stellung und Bedeutung in der Geschichtswissenschaft.


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