IV. Niedergang und Wiederaufbau des Staates 1786--1840.

Die Tagebücher der Gräfin Voß, eine der wichtigsten Quellen zur preußischen Geschichte des 18. und des beginnenden 19. Jhds., sind bisher nur in der Auslese der »Neunundsechzig Jahre am Preußischen Hofe« bekannt gewesen, an deren Zuverlässigkeit zuerst P. Bailleu Zweifel geäußert hat. Sie haben nun zu der


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höchst dankenswerten kritischen Untersuchung M. Baumanns geführt ( 713), die mit völliger Gewißheit zeigt, daß die 69 Jahre als Geschichtsquelle weder gedacht noch verwertbar sind, sondern daß sie von weiblicher Hand nach schriftstellerischen Grundsätzen der Marlittzeit aus dem Originaltagebuche für empfängliche Leser mit mannigfachen Abschwächungen, Steigerungen und Veränderungen zusammengestellt sind. M. Baumann läßt diesem Nachweis als vorläufigen Ersatz für die Herausgabe des Tagebuchs eine kurze Übersicht über seinen Inhalt folgen, die von humorvollen Seitenblicken auf die drolligen Verbesserungen der 69 Jahre begleitet wird. Es bleibt in der Tat merkwürdig, daß man nicht früher darauf aufmerksam wurde, wie wenig der süßlich-empfindsame Stil der 60 Jahre zu der kräftigen, gesunden und praktischen Art der Oberhofmeisterin passen will. -- Die neuerdings bezweifelte kirchliche Verbindung zwischen Friedrich Wilhelm II. und dem Fräulein v. Voß wird nun auch durch das Tagebuch der letzteren bestätigt, das M. Baumann für ihren Aufsatz im Hausarchiv eingesehen hat. Die gegenteiligen Ausführungen von Oppeln-Bronikowskis werden von J. Schultze widerlegt ( 712) und zwar vor allem mit dem Hinweis auf bisher unveröffentlichte Briefe, in denen der König von seiner Geliebten als von der ihm »Angetrauten« spricht. Eine Entgegnung von Oppelns vermag keine neuen Momente beizubringen. -- Die Mitteldeutschen Lebensbilder, die eine Reihe allgemein interessierender biographischer Essais enthalten, bringen einen wichtigen Beitrag über Hans Rudolf v. Bischoffwerder von J. Schultze (In 46). Wenn es dem Verfasser gelungen ist, die mancherlei Fragen, die sich an die Persönlichkeit Bischoffwerders knüpfen, entscheidend zu fördern, so ist das dem unbekannten Material zu danken, das er aufspüren und verwerten konnte, besonders dem Briefwechsel zwischen Bischoffwerder und dem Herzog Friedr. August v. Braunschweig-Öls, dem Großmeister des Ordens von der strikten Observanz. Bischoffwerder erscheint in Schultzes Darstellung als vielfach irrender, aber doch im Grunde wohlmeinender Mann, bei dem vieles »für eine ehrenwerte Gesinnung und das Überwiegen idealer Motive in der Betätigung seines Einflusses auf den König spricht.«

Unter den zahlreichen Bemühungen, die den ideengeschichtlichen Zusammenhängen des Steinschen Reformwerkes nachgehen, wird ein neuer Beitrag G. Ritters sehr beachtlich bleiben ( 717). Einer Anregung A. Wahls folgend, stellt sich Ritter die Aufgabe, die Gedankenwelt Steins zu den politischen Reformprogrammen des französischen ancien régime in Beziehung zu setzen. Eine sehr gründliche und anregende Untersuchung des französischen Selbstverwaltungsprogramms von seinen ersten, an die verkümmerten ständischen Bildungen anknüpfenden Ansätzen über d'Argenson und Dupont de Nemours bis zu den praktischen Versuchen der Jahre 1787/88 schafft die Ebene, auf der eine Vergleichung mit den entsprechenden Ideen Steins erfolgen kann. Dabei ergibt sich dann, daß Stein die französischen Bestrebungen zwar gekannt hat, daß aber eine Übereinstimmung nur in dem allgemeinsten Sinne stattfindet, daß hier wie dort durch selbsttätige Mitwirkung des Bürgers an der öffentlichen Verwaltung dem Staate neue Kräfte zugeführt werden sollen, ohne daß sich eben daraus eine Abhängigkeit Steins folgern ließe. Auch eine Vergleichung von Einzelheiten der Dupontschen und der Nassauer Denkschrift führt über die Feststellung schwacher Anklänge nicht hinaus. -- Einen sehr wesentlichen Ausschnitt Steinschen Denkens hat E. Botzenhart in einer Arbeit über »Adelsideal und


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Adelsreform beim Freiherrn vom Stein« behandelt ( 718). Mit Recht werden die scharfen Äußerungen, die der Enttäuschung Steins über das Versagen des Adels in den Jahren 1806/07 entspringen, als Stimmungen des Augenblicks gegenüber der Fülle anderweiter Zeugnisse vernachlässigt, die, auf Einflüsse des Vaterhauses, Montesquieusche Ideen und das Vorbild Englands zurückgehend, dem Hof- und Dienstadel der absoluten Monarchien die Forderung eines an den Grundbesitz gebundenen, korporativ zusammengeschlossenen, aber nicht kastenmäßig abgesonderten Adelsstandes entgegenstellen. Innerhalb des Staatsganzen soll dieser Adel nach dem Willen Steins unter Verzicht auf Vorrechte sozialer und wirtschaftlicher Art, die ihm den Haß der anderen Stände zuziehen, durch gesetzliche politische Vormachtstellung als »pouvoir intermédiaire« zwischen König und Volk fungieren. Wie dieser Gedanke in die Praxis übersetzt werden sollte, ist freilich nicht völlig klar. -- W. Schneider versucht, einen Überblick über die Entwicklung der religiösen Anschauungen Steins zu geben ( 719). So Nützliches dabei geleistet wird, indem die Quellenstellen in übersichtlicher Folge vorgeführt und miteinander in Verbindung gesetzt werden, so sehr ist eine straffere gedankliche Zusammenfassung des Stoffes zu vermissen. Auffällig ist, daß die Literatur nicht über das J. 1922 hinaus benutzt und so die fruchtbare Steinpublizistik der letzten Zeit völlig ignoriert wird. Offenbar handelt es sich also um eine ältere Arbeit, die der Auseinandersetzung mit den neuerlichen Ergebnissen der Forschung noch dringend bedürfen würde.

Die Denkschrift Beymes vom 4. Juli 1806, die L. Dehio bekannt gemacht und interpretiert hat, mußte es nahelegen, Beymes Einfluß auf die Politik Preußens kritisch zu umgrenzen und seine feindselige Einschätzung durch die Männer der Reformzeit auf ihre Berechtigung zu prüfen. In diesem Sinne versucht K. Disch zu einer objektiven Würdigung des »allmächtigen Kabinettsrates« zu gelangen ( 715). Er untersucht seinen Anteil an der auswärtigen Politik der Jahre 1805 und 1806 und glaubt dabei feststellen zu können, daß seine Einwirkung keineswegs so stark war, wie Stein und Hardenberg annahmen, und daß zumal der letztere es nicht verschmähte, eigene Versäumnisse und Mißgriffe nachträglich auf den Gegner abzuwälzen. Im einzelnen ist Disch, in apologetisches Bemühen hineingeratend, sicherlich zu weit gegangen. Wenn wir auch gern bereit sind, Beyme ernstes Wollen, Sinn für Preußens Größe und Gefühl für seine Verantwortung zuzubilligen, daß er, wie Disch im zweiten Teil seiner Arbeit behauptet, durch sein Manifest vom 1. Dezember 1806 in eine Reihe mit Stein und Hardenberg, Scharnhorst und Gneisenau gestellt wird, kann nicht zugegeben werden. -- Ein unbekannter Brief Blüchers vom 2. Dez. 1809, den J. Kramer veröffentlicht, enthält lebhafte Klagen über die Ungerechtigkeit der bevorstehenden neuen Servisordnung und über eine Beleidigung durch den Minister Grafen Dohna, die Blücher mit der Waffe zu rächen droht. Der Empfänger des Schreibens ist vielleicht Scharnhorst gewesen ( 721).


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