II. Zeitgeschichte.

Das Hansische Pfingstblatt von H. Reincke, »Agneta Willeken« ( 642 a), ist nicht, wie man nach seinem Titel vermuten könnte, lokalgeschichtliche Biographie, sondern »ein Menschenschicksal und ein Kulturbild aus dem 16. Jhd. von funkelnder, überschäumender Frische und von unerhörter Farbenpracht«. Der Reichskammergerichts-Prozeß, den die Geliebte Marx Meyers im Anschluß an einen Besuch des Dänenkönigs auf dem Hamburger Rathaus um die Ehre ihrer Töchter gegen den Rat der Stadt Hamburg führte, ist mit der hohen Politik verknüpft und hat im ganzen Norden Aufsehen erregt. Das Bekanntwerden eines urwüchsigen Schreibens der Agneta an Marx Meyer trug eine Note derben Humors hinein. Reincke, der die Handlung blendend darzustellen versteht, gibt in angeschlossenen Nachweisen und Anmerkungen mancherlei neue Aufschlüsse zur Geschichte Jürgen Wullenwevers und seines Feldherrn. -- Die weiteren Veröffentlichungen zu einzelnen Zeitabschnitten drehen sich um Persönlichkeiten des 19. Jhds. In den Mitteilgn. d. V. f. Lüb. G. u. A. K. finden sich (H. 14, Nr. 12) Lebenserinnerungen von C. F. Ch. von Grossheim veröffentlicht, aus denen die Lübecker Franzosenjahre lebendig werden. -- J. Heyderhoff bringt aus dem Briefwechsel Joh. Gg. Benzenbergs mit dem Ehepaar Focke in Bremen ( 759) an Stelle einer ursprünglich geplanten Gesamtveröffentlichung eine Auswahl, die nicht nur die Charaktere des rheinischen Naturforschers und Politikers und seiner Bremer Freunde beleuchtet, sondern für das Geistesleben der Jahre nach der Befreiung vom Franzosenjoch bezeichnend ist. Persönliche Begegnungen mit Gneisenau, Gröben, Scharnhorst, Clausewitz, Arndt, Görres und Schenkendorf finden Erwähnung; und überall macht sich die starke literarische Einwirkung Jean Pauls geltend. -- Einblicke in das öffentliche Leben Hamburgs in einem wirtschaftlich und verfassungsgeschichtlich bedeutsamen Zeitabschnitt gewinnen wir aus dem von A. Heskel mitgeteilten Lebensbild des Bürgermeisters Ascan W. Lutteroth ( 772 a). Als Lutteroth sein Geschlecht, das schon einmal in Hamburg geblüht hatte, 1815 aus Thüringen dorthin zurück verpflanzte, bewies er denselben kaufmännischen Weitblick, mit dem er bereits in den Jahren der Kontinentalsperre schwierige Einfuhraufgaben gemeistert hatte. Seit 1835 Mitglied des Senates, bewährte er sich in den verkehrs- und zollpolitischen Verhandlungen mit Dänemark, wie bei den Berliner Zollverhandlungen von 1839 und auf der Leipziger Konferenz von 1847 zur Schaffung einer allgemeinen deutschen Wechselordnung. Bei den unbefriedigenden Verhandlungen der sterbenden Bundesversammlung vertrat er Hamburg in dem Embargostreit mit Preußen. Weiter bestimmte ihn sein gemäßigter Liberalismus, in der konstituierenden Versammlung und nachher als Senatsvertreter im Neunerausschuß am Zustandekommen der Verfassung von 1859/60 mitzuarbeiten, auch einen Sitz im Volkshause des Erfurter Parlaments anzunehmen. Endlich trat er in den Anleiheverhandlungen der Krisenjahre 1857--1859 hervor. -- Der abschließende 3. Band von


S.436

H. Sievekings Lebensbild seines Großvaters Karl Sieveking ( 772), worin dessen Syndikatsjahre behandelt werden, zeigt in erhöhtem Maße die Vorzüge und Mängel der vorangegangenen Teile. Der große Umfang des Werkes bedeutet eine bedenkliche Belastung, und die Einflechtung zahlloser Auszüge, besonders aus den Briefen Sievekings mit ihren treffenden Urteilen über Personen und Zustände, veranschaulicht wohl das Einzelne, aber die Geschlossenheit des Ganzen leidet darunter. Die Stellung des Syndikats zwischen Senat und Beamtentum, die den Inhaber des Amts in alle Staatsgeschäfte einweihte und ihn je nach seiner Begabung auf den verschiedensten Gebieten beschäftigte, bringt den Leser von Sievekings Lebensbild mit dem gesamten öffentlichen Leben Hamburgs in Berührung. Gesandtschaftsreisen ins Ausland wie zum Frankfurter Bundestag geben dem Darsteller Anlaß zu mancherlei Mitteilungen über das hansestädtische Gesandtschaftswesen; Briefe und Berichte von diesen Reisen bieten eine Fülle von historisch und kulturell bedeutsamen Erfahrungen und berichten von Begegnungen mit geistig führenden Persönlichkeiten. Für deren Auswertung ist das beigegebene Namenregister zum Gesamtwerk zu begrüßen. Daß der Verfasser des Lebensbildes einen Romantiker in aktiver Betätigung zu zeigen hatte, veranlaßte ihn dazu, sich im Vorwort, gestützt auf J. Brinkmann, mit dem Begriff der Romantik auseinanderzusetzen. Der weltbürgerlich durchsetzte Patriotismus Karl Sievekings machte sich besonders in seinem Streben nach einer gesamtdeutschen Handelspolitik geltend. Die Idee einer Vereinsflagge seiner projektierten »Antipoden-Kolonie« zeitigte einen Flaggenentwurf nach dem Muster des Union-Jack, den man zur Beilegung unseres heutigen Flaggenstreites allen Ernstes heranziehen könnte. Sievekings religiöse Interessen brachten ihn mit allerhand kirchlichen Problemen in Zusammenhang und ließen ihn an der Gründung des Rauhen Hauses regen Anteil nehmen. Das Werk verpflichtet also die Historiker der verschiedensten Gebiete zu Dank.


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