VI. Kultur- und Geistesgeschichte.

Der im Berichtsjahr erschienene Teil der Bau- und Kunstdenkmäler der Freien und Hansestadt Lübeck (4. Bd. 2. Teil) behandelt die kleineren Gotteshäuser der Stadt, die Kirchen und Kapellen in den Außengebieten, sowie Denk- und Wegekreuze und die Leidenswegstationen von der Jakobikirche zum Jerusalemsberg. Die Herausgeber sind Jberr. 2. 2012 namhaft gemacht; ihre sorgfältige Arbeitsweise und die gediegene Ausstattung durch den Verlag B. Nöhring dürfen von den früheren Teilen her als bekannt vorausgesetzt werden. Unter den behandelten Sakralbauten wird eine ganze Reihe heute nicht mehr vorhandener durch Beschreibung, Abbildungen und historische Quellenwiedergaben der Vergessenheit entrissen, darunter einer der ältesten Lübecker Kirchenbauten, die Kapelle St. Johannis auf dem Sande von 1175. Zwei weitere wurden erst vor einem Menschenalter niedergelegt: die Klemenskirche und die alte Lorenzkirche. Aus der älteren St. Jürgenkapelle am Mühlentor ist noch die Bildgruppe des Meisters Henning von der Heide d. Ä. im St. Annenmuseum erhalten. Nur noch spärliche Nachrichten ließen sich über die beiden Heilig-Kreuz-Kapellen ermitteln, während im übrigen auch über die Ausstattung der Kirchen und Kirchhöfe viel Material in Wort und Bild niedergelegt werden konnte. Von den Gotteshäusern der Außenbezirke sind die Kirchen zu Behlendorf, Genin, Nusse und Schlutup in veränderter Form auf unsere Zeit gekommen. Die jüngsten der behandelten Bauwerke entstammen der Zeit des klassizistischen Baustils: die originelle reformierte Kirche in der Stadt und die Kapelle zu Groß-Schretstaken. Von den drei Wegekreuzen steht einzig das in der Roekstraße noch an seinem Platz; das Kreuz der Nowgorodfahrer vom Burgfeld ist verschwunden, und das vom Padelügger Weg befindet sich in einem Rest im Museum. Auch vom Leidensweg sind nur der Anfang und das Ziel dem Verfall entgangen. -- In diesem Jahre treten die Hansestädte in den Kreis der 400-Jahrfeiern ihrer der Reformationszeit entstammenden höheren Schulen ein. Die von Bugenhagen selber gegründete Hamburger gelehrte Schule, das Johanneum, worauf das gesamte hamburgische Bildungswesen zurückgeht, ist durch seinen derzeitigen Leiter E. Kelter mit einem mustergültigen -- nebenbei auch vorzüglich ausgestatteten -- Buch vertreten ( 1571), das sich anschaulich erzählend an den Leser wendet und auf dem Hintergrunde der Zeitgeschichte die Entwicklung der Anstalt vor Augen führt. Schon die Überschriften der nach Schulleitern gegliederten Abschnitte


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kennzeichnen geschickt das Wesen der behandelten Zeitspanne. Titel und Untertitel des Werkes haben ihre volle Berechtigung; denn das Ganze bietet mehr als Schulgeschichte, nämlich ein Bild der kulturellen Entwicklung Hamburgs. Selbstverständlich widmet der Verfasser der Lehr- und Erziehungsmethode immer besondere Beachtung, nimmt auch persönlich entschieden zu diesen Fragen Stellung. Viele hervorragende Schüler sind namhaft gemacht. Bildbeigaben und Register beleben und fördern die Benutzung des Buches, und Nachweisungen belegen seine Zuverlässigkeit. -- Wie das Hamburger Johanneum ist das Bremer Alte Gymnasium »ein echtes Kind der Reformation«. Die Schule begeht ihr Jubeljahr durch Herausgabe einer Festschrift ( 1572), zu der Lehrer und ehemalige Schüler der Anstalt Aufsätze aus allen Wissensgebieten beitrugen (vgl. hierzu 173 a, 231, 835 a). Für die Schulgeschichte selber stand H. Entholt nur ein begrenzter Raum zur Verfügung. Die lateinische Schule, die seit 1584 einen Oberbau mit sämtlichen vier Fakultäten trug und sich stolz Gymnasium Illustre nannte, suchte mit dieser Ausgestaltung einen geistigen Mittelpunkt des Kalvinismus darzustellen, seit Bremen 1610 seinen Übertritt zum reformierten Bekenntnis vollzogen hatte. Trotz ihrer bedeutenden Lehrkräfte hatte sie aber nachher unter der Wirkung des Rationalismus mit schweren Rückschlägen zu kämpfen und litt zudem unter der Konkurrenz der Privatschulen. Durch Vereinigung mit dem lutherischen Gymnasium und mancherlei Reformen bemühte sie sich, ihren Platz zu behaupten. -- Das Hinneigen und der spätere Übertritt Bremens zum reformierten Bekenntnis begünstigte seine Beziehungen zur Universität Marburg, besonders zu Beginn des 17. Jhds., seitdem dort ein gemäßigter Kalvinismus vertreten wurde; und das Bestehen des Gymnasium Illustre ermöglichte einen Austausch wissenschaftlicher Kräfte. Friedrich Prüser untersucht diese Beziehungen für das erste Jhd. der Universität Marburg ( 1565) und stellt an den Matrikeln anderer Hochschulen zahlenmäßige Vergleiche mit deren Besuch durch Bremer Studenten unter Berücksichtigung der jeweiligen religiösen und politischen Zeitlage an. Dabei werden nach Möglichkeit die Personalien der genannten Personen und nach deren Schicksalen und Aufzeichnungen Einblicke in das gesellige Leben der Marburger Akademiker geboten. -- Die unter dem Namen von J. F. Entholt herausgegebenen »Bilder aus der Geschichte des bremischen Volksschulwesens« (Bremen, Winters Verlag) stellen die Zusammenfassung einer Folge von Artikeln dar, die in den Jahren 1881--85 in der Presse erschienen und sich als so wertvoll und zuverlässig erwiesen, daß H. Entholt sie mit ganz geringen Veränderungen neu herausgeben konnte. Um sie vollends zu einer Geschichte des bremischen Volksschulwesens zu machen, wurde von Hinr. Wulff die Lücke der Franzosenzeit ausgefüllt und die Entwicklung über das Jahr 1848 hinaus bis in die Zeit der modernen Staatsschule fortgeführt. Quellenbelege fehlen im einzelnen, weil auch die Handschrift des verstorbenen Verfassers keine solchen enthielt. Der Herausgeber hat sich aber versichert, daß die einschlägigen Akten des Staatsarchivs so gut wie erschöpfend ausgewertet sind. -- Eine Arbeit von H. Schimank, Zur Geschichte der exakten Naturwissenschaften in Hamburg von der Gründung des Akademischen Gymnasiums bis zur ersten Hamburger Naturforschertagung (Hamburg, Naturw. Verein) ist für die Fachleute bestimmt und tritt als Vorarbeit einer eingehenden historischen Behandlung ihres Stoffes auf. Der Verfasser gibt zunächst einen Einblick in die äußeren Bedingungen, durch die Bildungsgang und Wirksamkeit

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eines Hamburger Gelehrten des 17. Jhds. bestimmt wurden, und wendet sich dann den auf naturwissenschaftlichem Gebiet führenden Persönlichkeiten zu, deren Grundgedanken er gerne mit ihren eigenen Worten umreißt. Unter ihnen ragt Joachim Jungius hervor, der reine Systematiker und Erzieher einer ganzen Generation zu logischem Denken, ferner der Physiker Joh. Gg. Büsch, I. A. H. Reimarus, der Forscher auf dem Gebiet der Blitzableitung, und Joh. Gg. Repsold, der Begründer der feinmechanischen Industrie Hamburgs. Die Stellung Hamburgs als Handelsstadt brachte es mit sich, daß die Forschung überwiegend auf das Praktische eingestellt war, wie sein Charakter als internationaler Platz die Ausgestaltung von Sammlungen begünstigte. -- Der im Berichtsjahr erschienene Teil einer Arbeit von W. Stieda über Buchhandel und Büchermarkt in Hamburg ( 1198 a) umfaßt die Entwicklung bis 1700. Was die früheren Arbeiten von Lappenberg und Schwetschke vermissen lassen, sucht Stieda durch eine Betrachtung der im Buchgewerbe tätigen Firmen, ihrer Produktion und ihrer Beziehungen zu geben: ein Bild von den Hamburger Leistungen auf diesem Gebiet. Das Ende des 15. Jhds. zeigt erst Ansätze. Dann wird die Tätigkeit reger. Um 1650 druckt Hamburg zeitweilig 4 v. H. der in Deutschland erschienenen Schriften. Dem eigenen Verlegerstande, der vom Jahre 1586 datiert, wird das stärkste Interesse gewidmet. Verhältnismäßig groß ist die Zahl der selbstverlegenden Literaten. -- Über den Bremer Büchermarkt im 19. Jhd. unterrichtet H. Tidemann, indem er seine Untersuchungen über die Zensur in Bremen von den Karlsbader Beschlüssen bis zum Jahre 1848 fortsetzt ( 1595). Im vorliegenden Teil wird die Überwachung des Büchermarktes behandelt. Die Bundesregierungen richteten ihr besonderes Augenmerk auf die Hansestädte wegen deren republikanischer Verfassung; namentlich Bremen erschien wegen der Erfahrungen mit der Bremer Zeitung des Liberalismus verdächtig. Der Bremer Senat kam deshalb trotz innerem Widerstreben den Bundesbeschlüssen gewissenhaft nach, gab ihnen aber doch die weitherzigste Auslegung. -- Die Arbeit von A. Herrmann über das Hamburger Fremdenblatt ( 1594) wird an anderer Stelle besprochen. (Vgl. S. 383.)


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