C. Bayerische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.

Zunächst verweise ich nur kurz auf die an anderer Stelle schon besprochene (vgl. § 4) zusammenfassende Studie über die bayrische Geschichtsforschung im 19. Jhd. von W. Goetz ( 85). Ich habe es dem Hauptberichterstatter zu überlassen, ob er mit den Ansichten von Goetz überall einverstanden ist. Ich persönlich halte manches Urteil für bedenklich, so etwa jenes über Sybel und die österreichische Politik von 1859 u. a. Diese Kritik soll jedoch der Wertschätzung


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des Ganzen nicht abträglich sein -- wir brauchten ja längst eine solche zusammenfassende Studie. Sie gewährt einen Überblick über das starke geschichtliche Geistesleben der bayerischen Wissenschaft, über die kampfreiche Entwicklung der bayerischen Geschichtsschreibung des vergangenen Jahrhunderts. -- Ein kurzer Hinweis nur steht mir ferner zu über V. Bibls ( 746) Metternich. Der Verfasser hatte das Glück, in Wien unbekannte Korrespondenzen der Fürsten Metternich und Wrede zu finden. Daraus werden wertvolle Kenntnisse zur Geschichte Bayerns für die Jahre 1831--1834 erschlossen. Hier liegt auch der Hauptwert des Buches. Die Beurteilung Metternichs dagegen wird mit Recht in manchen Stücken von der Forschung angegriffen. Darüber wird an anderer Stelle berichtet (vgl. S. 201).

Der Vortrag von Max Leyh ( 55) über die Organisation und die Aufgaben des Bayerischen Kriegsarchivs ist auf dem Deutschen Archivtag zu Speier 1927 einem größeren Gelehrtenkreis bereits bekannt geworden. Er zeichnet ein erfreuliches Bild vom Werden des aus Ruinen im vollen Sinn des Wortes in schwerster Zeit mühsam aufgebauten Bayerischen Kriegsarchivs, das heute in vieler Hinsicht, nicht zuletzt durch die ausgezeichnete, reichhaltige Lichtbildersammlung aus dem Weltkrieg von den entferntesten Kriegsschauplätzen, als mustergültig bezeichnet werden kann. Der Rundgang durch die einzelnen Abteilungen des Kriegsarchivs beantwortet kurz die Frage des Forschers: Was finde ich im Bayerischen Kriegsarchiv? -- O. Riedners ( 765) Artikel über König Ludwig I. von Bayern und die Pfalz -- zunächst als Vortrag gehalten -- bietet einen aufschlußreichen Überblick über die zunächst guten Beziehungen, welche Ludwig in seinen Pfälzer Jugendjahren zur Rheinpfalz natürlicherweise pflegte, über seine bitteren Erfahrungen im Napoleonischen Zeitalter und seinen daraus geborenen Haß gegen die französischen Bedrücker. Die Auswirkungen des Wiener Kongresses für die Pfalz, die Sponheimer Frage und die daraus sich ergebende Spannung zwischen Bayern und Baden werden, soweit es der knappe Rahmen gestattet, kurz behandelt. Die revolutionäre Bewegung der beginnenden dreißiger Jahre löste bei Ludwig I. schwere Verstimmungen gegen die Pfalz aus. Daß Riedner die Wiederanknüpfung inniger Beziehungen des Königs nach 1848 nicht vergessen hat, sei hervorgehoben. Gerade diese Zeit hat alte Wunden geheilt und die alte Neigung vertieft und verklärt. -- Drei mehr wirtschaftsgeschichtliche Arbeiten Münchner und Erlanger Doktoranden bringen zwar keine außergewöhnlich weittragenden Ergebnisse, verdienen jedoch Beachtung. Die Arbeit von A. Heßler ( 1185) geht aus von der politischen Lage Nürnbergs in der ersten Hälfte des 16. Jhds. und versucht einen kurzen Querschnitt durch die Zeit bis zum Beginn des 19. Jhds. Er übernimmt hierbei die bisher üblichen Urteile, auch den Irrtum, daß der Dreißigjährige Krieg der Stadt so tiefe Wunden schlug, daß sie sich nicht mehr ganz davon erholte. Ich habe in meinem eben erschienenen Werk über Nürnberg und die reichsstädtische Außenpolitik diese Meinung richtiggestellt, kann es mir daher ersparen, auf alle die Gründe, welche wirklich den Niedergang der Nürnberger Wirtschaft brachten, nochmals einzugehen. Hier also befährt H. alte Gleise. Wertvoll wird die Dissertation dagegen beim eigentlichen Thema. Die naturgegebene Einteilung in zwei Kapitel: I. Handwerk und Industrie, II. Handel und Verkehr bringt Ordnung in das an sich Unübersichtliche der Entwickelung -- letzteres ist nicht Schuld des Verfassers. Es ist wirtschaftsgeschichtlich lehrreich zu verfolgen, wie


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diese heruntergekommene Stadt ganz langsam, aber doch folgerichtig unter dem Schutz des Königreichs Bayern sich zu neuer Blüte anschickte. Vor allem möchte ich darauf hinweisen, wie diese Stadt, welche, wie ich gezeigt habe, durch ihre engstirnige Wirtschaftspolitik und infolge der Großzügigkeit des benachbarten Landesherrn die besten Wirtschaftskräfte hinausgetrieben hatte, nun allmählich einen rückläufigen Aufsaugungsprozeß zu vollziehen vermochte, wie H. überzeugend nachweist. -- Die zweite wirtschaftsgeschichtliche Arbeit von L. Hümmert ( 1486) befaßt sich in ihrem Hauptteil mit dem Verhältnis der maßgebenden jüdischen Bankiers und Heereslieferanten zum bayerischen Staat in den beiden ersten Jahrzehnten des 19. Jhds. Ein sehr kurzer Überblick von vier Seiten gilt sodann den ersten drei Jahrzehnten des bayrischen Verfassungs staates (1818--1848). Aus dem Ganzen ergibt sich, daß für das Napoleonische Zeitalter die Behauptung Sombarts richtig ist, daß die Juden die einflußreichsten und leistungsfähigsten Geldgeber und Heereslieferanten der Fürsten waren. Die Dissertation kann zwar nicht beweisen, daß das Judentum eine überragende Bedeutung für die Entwickelung des modernen Staates in Bayern hatte, sie zeigt aber, ohne es unmittelbar zu beabsichtigen, wie das jüdische Großkapital vom ersten Augenblick der Emanzipation des Judentums an allmählich, und zwar jeweils durch die ihm besonders günstigen Konjunkturen der Zeiten großer Kriege oder innerer Unruhen Einfluß auf den Staat zu gewinnen suchte und wußte. -- Die dritte Arbeit von A. Popp ( 1181) handelt von der Entstehung der Gewerbefreiheit in Bayern. Gemeinwohl und Eigeninteresse stehen sich scheinbar im Wege. Und doch ergänzen sie sich gegenseitig. Es gab eine glücklichere Zeit, als gesicherte Lebensbedingungen diesen Gegensatz zurücktreten ließen. In der Zeit des politischen und wirtschaftlichen Niedergangs mußte der Konflikt mit dem Staat eintreten. Die Hauptursachen dieses Kampfes untersucht Popp nicht für die gesamten Fragen der Wirtschaft, sondern für einen Teilausschnitt, der aber immerhin von weitreichender Bedeutung war für das Gewerbe, und zwar auf altbayerischem Boden bis 1806, für das rechtsrheinische Bayern sodann bis zum Übergang der bayerischen Gewerbegesetzgebung auf das Deutsche Reich. Der historische Überblick über die Zeit bis 1806 bringt keine wesentlich neuen Ergebnisse; der Verfasser begnügt sich mit 42 Seiten für die Entwickelung von der Urzeit bis zum Beginn des 19. Jhds. Immerhin ist diese Übersicht, die sich auf die maßgebende Literatur und auf vereinzelte wichtige Reichstagsabschiede stützt, eine brauchbare Einführung. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt in der Zeit von 1799 bis 1871. Die historischen Urteile halten sich, soweit sie generell gefaßt sind, meist in den hergebrachten, nicht immer richtigen Bahnen. Wo der Verfasser aber neues Material verarbeitet, hat er sich ein Verdienst erworben.

Eine Geschichte des Schulwesens, und zwar im wesentlichen des neuaufblühenden Gymnasialschulbetriebs der Rheinpfalz vom Ende des 18. bis gegen die Mitte des 19. Jhds. ist die Arbeit J. Kopps ( 1570) über den Neuhumanismus in der Pfalz. Die geschichtlich gegebenen Etappen sind: Der Zustand des Schulwesens während der Franzosenzeit, -- die Neuordnung und Entwicklung der Schulverhältnisse, nachdem der Rheinkreis endgültig auf dem Wiener Kongreß Bayern zugesprochen war, -- endlich die schulreformatorische Tätigkeit F. Thierschs in den Jahren 1834--1836. Pfälzer Eigenart und Assimilierung an die Ansichten im rechtsrheinischen Bayern werden herausgehoben; Vergleiche


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mit anderen nahegelegenen Reformen, etwa in Mainz, befruchten das Bild. Die Arbeit beruht auf geeigneten Vorstudien anderer Schulmänner und im wesentlichen auf den Akten des Kreisarchivs München, besonders den Ministerialakten, außerdem auch jenen des Kultusministeriums und des Staatsarchivs bzw. der Regierung in Speier. Da es sich bei dem skizzierten Zeitraum um jene Periode handelt, welche bestimmend für das pfälzische Schulwesen geblieben ist, dient die Schrift als ein guter Beitrag für die Geschichte der pädagogischen Strömungen in der ersten Hälfte des 19. Jhds.

Die Geschichte des Staatskirchentums in Bayern im 19. Jhd. ist noch nicht geschrieben; sie wäre eine wahrhaft wissenschaftliche Aufgabe der Zukunft. Ein wichtiges Teilgebiet davon schneidet der mustergültige Aufsatz von A. Scharnagl ( 1364) über das königliche Nominationsrecht für die Bistümer in Bayern im 19. und 20. Jhd. an. In klarer, feiner Zeichnung der Hauptlinien verfolgt er die Entwicklung vom Abschluß des bayerischen Konkordats von 1817 bis zum Zusammenbruch des Königtums. Die heutigen 8 bayerischen Bistümer waren sämtlich ursprünglich Reichsbistümer. Durch die Säkularisation wurden sie Landesbistümer. Damit war den Bemühungen des Landesherren um das Nominationsrecht freie Bahn gegeben. Das Ringen zwischen kirchlich vorgeschriebener Form und maßgebender Beeinflussung durch den König wird anschaulich geschildert. Der tatsächliche Sieger war der Staat. Die Besprechung der Einzelpraxis des Jahrhunderts bildet den Hauptteil der Studie. Bemerkt sei die vom Verfasser bewiesene Tatsache, daß Ablehnungen von Nominierten durch Rom »nicht gerade selten« waren; von den ersten 6 Nominierungen wies man im Vatikan nicht weniger als 3 zurück, doch übte man dort nach genügender Aufklärung in manchen Fällen auch große Weitherzigkeit. Das neue bayerische Konkordat bemühte sich einen Ausweg zu finden, welcher sowohl der kirchlichen Praxis wie der staatlichen Aufsicht in gleicher Weise gerecht zu werden suchte.

Zwei Arbeiten gelten der Geschichte der letzten hundert Jahre zweier bischöflicher Priesterseminare, jene von Th. Specht dem von Dillingen a. D. (Gesch. d. bischöfl. Priesterseminars Dillingen a. D. 1804--1904. Fortges. von A. Bigelmair. Augsburg, Schmid, XV, 140 S.), die von F. Riemer jenem von Passau (100 Jahre Priesterseminar u. Priestererziehung in Passau. Passau, Kleiter, 354 S.). Sie sind in erster Linie von kirchenpädagogischem und lokalem Interesse, sodann aber auch von wirtschaftsgeschichtlicher Bedeutung, freilich nur im engen Rahmen der Spezialgeschichte. Ebenso wie diese beiden Bücher einem Jubiläum gelten, so auch der Bericht von E. Reicke ( 7) über die letzten 25 Jahre des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg anläßlich der Feier des 50 jährigen Bestehens dieses Vereins. Das hohe Ansehen, das er unter seinen Schwestergenossenschaften in ganz Deutschland beanspruchen darf, wird aus der Kenntnis des reichen geistigen Lebens dieses historisch interessierten Völkchens, das sich aus allen Berufgruppen zusammensetzt, verständlich.

Der Reiz der Tagebuchblätter des Reichsbahnoberrats M. Siegert (Aus Münchens schwerster Zeit. Regensburg, Manz, 147 S.) über die Münchener Revolutions- und Rätezeit ist das unmittelbare Erlebnis, die Anschaulichkeit. Der Verfasser hat von einem der Brennpunkte der Stadt, vom Hauptbahnhof München aus, mit seinen zurückflutenden Truppen, mit seiner lebhaften Agitation als Vermittlungsstation für alte, disziplinierte Soldaten und Banditen im Soldatengewande den Gang der Ereignisse minutenmäßig getreu


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aufgezeichnet. Für die Geschichte der deutschen Revolution in Bayern ist es ein knapper, aber aufschlußreicher Beitrag. Die Aufzeichnungen reichen vom 7. November 1918 bis zur Befreiung Münchens vom roten Terror im Mai 1919. Einige Lichtbilder von Originalausweisen und Befehlen geben ein drastisches Bild von der Strategie, der Methode und der Rechtschreibung der damaligen zweifelhaften Größen.[E. Franz.]


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