II. Geschichte der Schweiz bis 1499.

Die seit etwa zehn Jahren festzustellende, erneute Diskussion über die Entstehung der schweizerischen Eidgenossenschaft (vgl. Jberr. 3, 624--626) hat auch im Berichtsjahr neue Studien über das immer noch nicht ausgeschöpfte Thema veranlaßt. Nabholz ( 606) zieht mit schönem Erfolg zur Erläuterung der waldstättischen Ereignisse die gleichzeitigen Vorgänge in der Westschweiz heran. Die wichtigsten Glieder dieses westschweizerischen Bundessystems sind Bern, Freiburg und Murten, denen sich Avenches, Payerne, Biel, Neuenburg und Solothurn anschlossen. Die von den Städten abgeschlossenen Bünde bezweckten, die nach dem Aussterben der Zähringer unsicher gewordenen Rechtszustände zu sichern, d. h. die Städte verfolgen den Zweck, die öffentliche Rechtsordnung so weit wie möglich aufrechtzuerhalten und auszubauen. Irgendeine staatenbildende Tendenz kommt ihnen nach der Auffassung von Nabholz nicht zu. Diese Feststellung ist bemerkenswert, denn der Verfasser hatte schon in seiner Abhandlung über den »Zusammenhang der eidgenössischen Bünde mit der gleichzeitigen deutschen Bündnispolitik« (Festgabe für Gerold Meyer von Knonau, Zürich 1913, S. 261--284) diese These für die Waldstätte vertreten, war damit aber auf den (wie wir glauben, nicht gerechtfertigten) Widerspruch Wilhelm Oechslis gestoßen. Eine weitere Frage, die nicht eindeutig gelöst ist, betrifft die Interpretation der Stellen, wo von der Erneuerung der Bünde die Rede ist. Nabholz vertritt auf Grund der deutlichen Zeugnisse der westschweizerischen Quellen den Standpunkt, daß es sich immer um die Erneuerung eines alten Bundes handelt, und lehnt -- vollkommen mit Recht -- die gesuchte Deutung ab, es handle sich bloß um zwei verschiedene Stadien beim Abschluß ein und desselben Bündnisses. Weiterhin konstatiert Nabholz, daß die Ausdrücke »Coniurati« und »Conspirati« nicht als »heimliche Verbündete«, sondern als »Mitglieder einer offenen Bundesverbindung« zu deuten seien.

Die Miscelle von Pometta »Influenze italiane sulle origini della Svizzera« ( 617) ist ein mehr oder weniger gelungenes Referat über die verschiedenen Arbeiten von Karl Meyer zur Entstehungsgeschichte der Eidgenossenschaft, ohne vertiefte, selbständige Stellungnahme. Sie vertritt die Auffassung, daß die Entstehung der Eidgenossenschaft das Produkt italienischer Einflüsse sei. Auf S. 242 wird der Bundesbrief der drei Waldstädte von 1291 ins J. 1281 (!) verlegt. -- Eine kurze, darauf folgende Notiz von Pometta, betitelt »Dante Alighieri e le origini della Svizzera«, bringt die von


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Dante am deutschen König Albrecht gegeißelte Ländergier in Zusammenhang mit der Entstehung der Eidgenossenschaft und spricht u. a. auch vom Siege der Italiener bei Vittorio Veneto (!). Die Notiz ist wissenschaftlich wertlos. Weiterhin behandelt Pometta ( 618) die ersten Beziehungen der Eidgenossenschaft zu den heute tessinischen Gebieten. Von den Zeiten des Urner Landammanns Hans von Attinghusen (1. Hälfte des 14. Jhds.) führt die Erzählung über die Eschentalerzüge und die Schlacht von Arbedo bis zur Mitte des 15. Jhds. Eine Angabe der Quellen und eine Auseinandersetzung und kritische Bewertung derselben fehlt.

Der Kanton St. Gallen hat, wie Müller ( 283) bemerkt, seine heutige Grenzumschreibung erst 1803 im Zusammenhang mit der von Napoleon I. angeordneten und durch die sog. »Mediationsakte« in bestimmte Formen gekleidete Neuordnung der Schweiz erhalten. Wesentliche Bestandteile dieses Staatsgebildes waren die Landschaften der 1436 ausgestorbenen Grafen von Toggenburg und die abt-st.-gallische Landschaft von Wil bis Rorschach, das spätere sog. Fürstenland. Hier, in der Abtei und in der Stadt St. Gallen, liegt der Angelpunkt für die Entstehung des späteren Kantons St. Gallen. Indem Abt Konrad von Bußnang anläßlich des Brudermordes im Hause Toggenburg im J. 1226 von der durch die Tat schwer betroffenen Familie die Stadt Wil und die Veste Alttoggenburg erhielt, wurden eben die maßgebenden Grundlagen zum Besitz der Abtei und damit indirekt zum Kanton St. Gallen gelegt.

Aus der Entstehungsgeschichte des sog. Zehngerichtenbundes teilt Castelmur ( 1042) eine interessante Episode mit. Die Talschaft Schanfigg lehnte sich nämlich gegen die Hoheitsansprüche des Bischofs von Chur auf, die dieser 1436 nach dem Aussterben der Grafen von Toggenburg (der früheren Talherren) gegenüber der Talschaft erhob. Dabei suchte und fand der Bischof Unterstützung durch das Konzil von Basel. Der vom Konzil mit der Untersuchung des Falles beauftragte Dr. iur. Wilhelmus Hugonis, Archidiakon von Metz, entschied zugunsten des Bischofs, und es ergab sich dann eine friedliche Lösung in dem Sinne, daß die Lehenshoheit des Bischofs anerkannt blieb, daß aber auch eine Aufteilung der Talschaft unterblieb. Bemerkenswert ist, daß bei den Verhandlungen vor dem Pfalzgericht im J. 1437 die Untertanen aus dem Schanfigg zitiert wurden, offenbar in Anerkennung der Tatsache, daß in dieser Angelegenheit ein Entscheid nicht über die Köpfe der Untertanen hinweg gefällt werden könne. -- Als Anhang druckt C. das Schreiben des Delegierten des Basler Konzils an die Amtsleute und Talleute des Schanfiggs ab.

Nachdem Gessler in seiner auf 1927 erschienenen Publikation den ersten Teil seiner Studien zur Geschichte des schweizerischen Geschützwesens zur Zeit des sog. »Schwabenkriegs« des J. 1499 (d. h. des Krieges zwischen Maximilian I. und den Eidgenossen) vorgelegt hatte, setzt er ( 618 a) seine Untersuchungen fort und beutet die Geschichtsquellen aus: Besprochen werden zunächst die Prosachroniken, und zwar die Zeitgenossen des J. 1499 und dann hernach die späteren Chronisten (als Grenze für diese zweite Gruppe ist etwa das J. 1600 angesetzt). Hierauf folgen die Reimchroniken, die historischen Volkslieder und die modernen Darstellungen. Von grundlegender Bedeutung ist derjenige Teil von Gesslers Studie, der die Ergebnisse der Geschichtsquellen zum J. 1499 feststellt; ist der Verfasser doch der heute unbestritten erste Kenner des schweizerischen Waffenwesens. Behandelt werden in


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dieser ergebnisreichen Zusammenfassung folgende Punkte: Die schweizerischen Geschützbestände im J. 1499; die Geschützarten (Belagerungsgeschütze, Feldgeschütze, Steilfeuergeschütze), Lafettierung; Transport; Zubehör; Büchsenmeister; Gebrauch und Handhabung des Geschützes; Taktik; Schußleistung, Schußweite und Schußwirkung. Als Ergebnis dieser Arbeit, die im Neujahrsblatt von 1929 ihren Abschluß findet, kann festgehalten werden, daß das Geschütz auf Seite der Eidgenossen zur Zeit des Schwabenkrieges eine ganz bedeutende, für den Enderfolg sehr wichtige und bisher nie richtig gewürdigte Rolle gespielt hat.


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