6. Siedlungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.

Größte Skepsis bringt der berühmte Krakauer Indogermanist J. Rozwadowski den Versuchen entgegen, die Urheimat der Slawen zu bestimmen ( 180); für den deutschen Historiker ist an seinen geistvollen, wenn auch in der Ablehnung jeder außersprachlichen Zusammengehörigkeit der slavischen Völker wenig überzeugenden Ausführungen am wichtigsten die entschiedene Stellungnahme gegen die von J. Kostrzewski vertretene Theorie der Identität der Träger der Lausitzer Kultur und der Slaven. L. Krzywicki gibt einen Überblick über die wichtigsten Ergebnisse seiner hochbedeutsamen, von der einschlägigen


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deutschen Forschung bisher leider noch nicht beachteten Untersuchungen an Burgwällen in Hochlitauen und Samaiten ( 115): die archäologische Auswertung der bei seinen Ausgrabungen zutage geförderten Funde zeigt, daß die Kulturhöhe Samaitens in der etwa die Zeit vom 7. bis 13. Jhd. umfassenden Burgwallperiode durchschnittlich höher war als diejenige Hochlitauens: das erklärt sich aus den engeren Beziehungen jenes Gebietes zu Skandinavien und den Ordensländern Preußen und Livland. Siedlungsgeschichtliche Bedeutung hat einmal die Feststellung, daß sich in der Nachbarschaft mehrere der von Krzywicki untersuchten Burgwälle Spuren der auch den Deutschordenschronisten bekannten Suburbien nachweisen ließen, dann die durch seine Forschungen geschaffene Möglichkeit, eine Reihe der in den Quellen des Deutschordenslandes genannten Burgen zu identifizieren. In ihren Methoden und Ergebnissen sehr wichtige Untersuchungen über die ältesten Formen des polnischen Dorfes hat K. Dobrowolski durchgeführt, über die er vorläufig in einem kurzen Auszug ( 42) berichtet: er gelangt zur entschiedenen Ablehnung der Theorien, die in bestimmten Siedlungsformen die Spuren der Kulturtätigkeit bestimmter Völker sehen wollen; entscheidend für die ursprüngliche Siedlungsform war vielmehr das Urlandschaftsbild. In Polen wie in den übrigen slavischen Siedlungsgebieten ist auf waldfreiem Boden die Gruppensiedlung als die ursprüngliche zu betrachten: sie zeigte zunächst die Form des Straßendorfes, die jedoch bei fortschreitendem Ausbau der Siedlung leicht in die des Haufendorfes übergehen konnte; die Äcker des Dorfes sind in Fluren eingeteilt. Im Wald- und Bergland bildet die Einzelhofsiedlung den Ausgangspunkt, doch neigt auch sie zum Übergang in die Gruppensiedlung, da der Siedlungsausbau zunächst nicht zur Entstehung weiterer Einzelhöfe (wie in Litauen), sondern zur Vergrößerung der bestehenden Siedlungen führt.

Im Bereiche der sozialgeschichtlichen Forschung gibt uns K. Tymieniecki einen eindrucksvollen Überblick seiner Theorie über die wesentlich wirtschaftlichen Ursachen der sozialen Differenzierung der polnischen Bevölkerung vor der Entstehung der geschlossenen Geburtsstände ( 223, vgl. Jberr. 2, S. 721 f.). Mit St. Arnolds Aufsatz über die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen der Machtstellung des altpolnischen Magnatentums (vgl. Jberr. 2, S. 722) setzt sich, nach E. Maleczyńska (vgl. Jberr. 3, S. 637), M. Friedberg in eingehender Besprechung auseinander ( 55). Auch diesmal steht die Erörterung der dem Rezensenten ja aus eigener Untersuchung (vgl. Jberr. 2, S. 724) bekannten Verhältnisse des schlesischen Magnaten Peter Wlast im Vordergrund; auch Friedberg bezweifelt die Schlüssigkeit der Behauptung Arnolds, daß der Landbesitz als Grundlage der Machtstellung des Magnatentums keine ausschlaggebende Rolle gespielt habe, gibt aber zu, daß seine Verwertbarkeit wesentlich eine mittelbare war: ausgedehnter Grundbesitz gab die Möglichkeit, große Pferde- und Viehherden zu halten und dadurch wieder die Voraussetzungen für die Indienststellung eines zahlreichen Gefolges zu schaffen. Sehr wichtig sind die Ausführungen Friedbergs über die Möglichkeiten, den dynastischen Ursprung einzelner Adelsgeschlechter festzustellen, über die in den Urkunden des 12. Jhd. den Magnaten beigelegten Titel (meist comes, bei Magnaten fürstlicher Abstammung auch dominus, vereinzelt princeps) und über die Frage der in den Händen einzelner Magnatengeschlechter befindlichen Kastellaneien.


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Von der wichtigen Studie R. Grodeckis über die altpolnischen Zolltarife (vgl. Jberr. 2, S. 723) liegt in ausführlichem deutschen Auszug ( 63) vor, in dem freilich die ständige Verwendung der polnischen Namensformen für schlesische Ortsnamen störend und bei manchen Lesern sicher auch verständnishemmend wirkt. Von zwei großangelegten, für die Kenntnis der Bedeutung der deutschrechtlichen Siedlung, ihrer Vorstadien und Ausläufer für die Entwicklung der Sozial- und Wirtschaftsverfassung Polens sehr aufschlußreichen Untersuchungen über das Ausstattungsgut polnischer kirchlicher Anstalten, aus denen im Berichtsjahr Auszüge erschienen sind, ist J. Warężaks Arbeit über das Gnesener Erzbistumsgut ( 228) 1929 in Buchform erschienen. Die Studie M. Niwińskis über Gründung und Ausstattung des Klosters Wąchock ( 156) bringt namentlich wertvolle Hinweise über den Einfluß, den die Lokationsurkunden deutschrechtlicher Siedlungen auf die Entwicklung der Rechtsordnung benachbarter, noch nach polnischem Recht lebender Marktorte ausüben konnte. Einen Einblick in die gutsherrschaftliche Sozialverfassung, in der, wenn auch gründlich umgestaltet, doch noch so manche Elemente der deutschrechtlichen Zinshufenverfassung weiterlebten, eröffnet die gehaltvolle Untersuchung von E. Kozłowski über die Gliederung der ländlichen Bevölkerung in Großpolen im 16. Jhd. ( 100).

Die regionalgeschichtliche Monographie über den großpolnischen Kreis Żnin aus der Feder dreier Verfasser ( 71) befriedigt, wie die Besprechung durch J. Warężak ( 227) zeigt, gerade in ihrem der ma.lichen Geschichte gewidmeten, von M. Gumowski bearbeiteten Teil, der an sich wichtige Aufschlüsse siedlungs- und sozialgeschichtlicher Art bieten könnte, wenig. Über Stand und Aufgaben der, da es sich ja durchweg um Städte deutschen Rechts handelt, auch für die deutsche Geschichtswissenschaft wichtigen polnischen stadtgeschichtlichen Forschung berichten in dankenswerter Weise zwei Aufsätze von Ł. Charewiczowa ( 28, 29). Das Werden und das Leben einer großpolnischen Privatstadt im MA. schildert, im wesentlichen auf Grund der Stadtbücher, die fleißige Monographie von S. Machnikowski über Zdzież-Borek ( 131): dabei kommen manche bemerkenswerte Erscheinungen zur Sprache, so die Übertragung des Lokationsprivileg, das für Zdzież ausgestellt war, auf das günstiger gelegene Borek, das tatsächlich zur Stadt wurde, während die ursprünglich zur Lokation bestimmte Siedlung Dorf blieb, zeitweise aber der neuen Stadt ihren Namen lieh, die starke Überwucherung der Tätigkeit der Schöffenbank durch die des Rats. Hingewiesen wird auf das Vorhandensein von Schrimmer Schöffensprüchen in den Boreker Stadtbüchern, auf den starken bäuerlichen Einschlag in der Stadtbevölkerung, auf ihren rein polnischen Charakter; geschildert wird das Zunftwesen -- in der kirchlichen Elendenbruderschaft sieht der Verfasser freilich mit Unrecht eine »Bettlerzunft« --, das Marktleben, das Verhältnis zu den adligen Grundherren und den Bauernschaften der Umgebung. Sehr beachtenswert ist die Erwähnung des »Erbteilungsschafes«, einer Abgabe an die die Erbteilung gutheißende und protokollierende Behörde; ist sie deutschrechtlichen Ursprungs? Zwei weitere, dem Berichterstatter zugänglich gewordene lokalgeschichtliche Monographien, der Geschichte der Stadt Exin und des Landes Krotoschin gewidmet ( 167, 152), bringen für die Kenntnis der ma.lichen Entwicklung nichts Neues; ihr Schwergewicht liegt in der Darstellung der neuzeitlichen Verhältnisse. Auf die ergebnisreiche Studie über die Lemberger


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Stadtwirtschaft im 17. Jhd. ( 249), die auch für die Geschichte der Wirtschaftsorganisation der deutschrechtlichen Städte im MA. wichtig ist, werden wir bei der Verzeichnung ihrer 1929 erschienenen Buchausgabe zurückkommen. Die historische Einleitung des im wesentlichen den Gegenwartsverhältnissen gewidmeten Werkes von W. Stopczyk über den internationalen Ostseehandel ( 204) berücksichtigt die ma.liche Handelsgeschichte kaum.

Wir haben früher auf die Bedeutung der polnischen genealogischen Forschung für die Siedlungs- und Sozialgeschichte hingewiesen (vgl. Jberr. 2, S. 724 f.): im Berichtsjahr ist wieder eine der so nützlichen Monographien altpolnischer Magnatengeschlechter erschienen, K. Górskis Schrift über das Geschlecht der Odrowąz ( 61). Der Stammvater des Geschlechts scheint gegen Ende des 11. Jhds. aus Böhmen nach Oberschlesien eingewandert zu sein. Auch später blüht es in Schlesien in mehreren Linien, deren einer der Dominikanerheilige Hyacinth (Jacek, † 1256) entstammte. Sein Hauptwirkungsfeld aber fand es in Kleinpolen, wo das Familienkloster Mogila von dem Reichtum und dem Ansehen seiner Glieder zeugte, zu denen zwei Krakauer Bischöfe des 13. Jhds. gehören. Im 15. Jhd. ist eine pommerellische, im 16. Jhd. eine Danziger Familie in die Wappengemeinschaft der Odrowąz aufgenommen worden. Unter den Rittern, die im 14. und 15. Jhd. der Gemeinde Bologna dienten und sich als aus Polen stammend bezeichneten, befanden sich, wie M. Niwiński in seiner Zusammenstellung der auf sie bezüglichen Notizen aus den Akten des Bologneser Staatsarchivs ( 157) feststellt, zahlreiche Deutsche, die großenteils aus schlesischen Städten stammten. Der Aufsatz weist auch auf Aktenreihen anderer italienischer Archive hin, die Aufschlüsse über derartige polnische und deutsche Söldner in italienischen Stadtdiensten verheißen. Ein Deutscher war auch der bevorzugte Vertrauensmann Jagiellos bis zu seiner Erhebung auf den polnischen Thron, Hans von Riga, auch als Hanul oder Hannike von Wilna bezeichnet, mit dessen wechselvollen Geschicken sich eine fesselnde Studie von Wł. Semkowicz ( 192) beschäftigt: der Gegensatz der wirtschaftlichen Bedürfnisse seiner Vaterstast Riga, der an einem lebhaften Handelsverkehr mit Litauen gelegen war, zu der litauenfeindlichen Politik des livländischen Ordens führte ihn an den Hof des litauischen Fürsten, dem er bei dem Sturze Kiejstuts und der Erringung der Großfürstenwürde behilflich sein konnte. Später leistete er ihm bei den Verhandlungen mit dem Deutschen Orden, aber auch mit Polen und Ungarn wichtige diplomatische Dienste. Bis 1387 war er Statthalter in Wilna, dann zog er sich nach Kazimierz bei Krakau zurück. Seine Söhne gehören dem kleinpolnischen Adel an.


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