I. Allgemeines zur geschichtlichen Landeskunde; historische Kartographie.

Eine wichtige Frage von grundsätzlicher Bedeutung wird in gedankenreichen Darlegungen von H. Steinacker behandelt ( 382); er erörtert das Verhältnis, in dem Volk, Staat und Heimat bei den romanischen und germanischen Völkern mit charakteristischer Verschiedenheit zueinander stehen. Nach einleitenden Bemerkungen über die Wandlungen des Begriffes Nationalität auf den Entwicklungsstufen der menschlichen Gesellschaft bezeichnet St. sie als die stärkste Kraft unserer Zeit, über Konfession und Staatsgedanken; auch für kleinere Völker setzt sie sich durch. Volkstum erwächst auf natürlichen Grundlagen zum Bewußtsein; es ist deshalb unbewußte Nationalität von der bewußten und freiwilligen zu unterscheiden. Nach einem Hinweis auf die Antike vergleicht St. die Völker und Länder West- und Mitteleuropas. Überall zeigt sich ein Streben danach, Nationalität und nationalen Einheitsstaat zur Deckung zu bringen. Nur Unterschiede des Entwicklungstempos sind festzustellen. Frankreich hat einen offensichtlichen Vorsprung vor Deutschland, dessen Entwicklung mit der in Italien, aber auch in Spanien eingetretenen nahe zu vergleichen ist. Ursprünglich war Frankreich dafür keineswegs geeigneter als Deutschland; der Gedanke ist entschieden zurückzuweisen, daß es für den zentralisierten nationalen Einheitsstaat prädestiniert erscheint, während dem germanischen Charakter, wie behauptet worden ist, die bündische Form entspricht. Die Erklärung bietet vielmehr die Geschichte Frankreichs und der anderen Länder. Dazu erhebt sich die Frage, ob der zentralisierte Einheitsstaat überhaupt die einzig mögliche Form sei, ob er die beste ist. Eine Gegenbewegung in Frankreich selbst, welche die Heimat (pays, terroir) betont, gibt zu denken. Die Entwicklung des Verhältnisses von Volk und Staat in Deutschland beruht in höherem Maße auf der Bodenständigkeit, auf der seelischen Verwurzelung in dem Landschaftsbild und der Kultur der engeren Heimat, was im Vergleich zur französischen Entwicklung eigenartige Vorzüge hat. So erheben sich gegenüber den Ideen des 19. Jhds. neue Probleme des Nationalitätenstaates und der nationalen Autonomie. Der Verfasser stellt in Aussicht, die hier nur kurz angedeuteten Gedanken in einem schon vorbereiteten Buch ausführlich zum Ausdruck bringen zu wollen.

Ein großes Werk von W. Kruse ( 386) behandelt die Deutschen und ihre Nachbarvölker unter Gesichtspunkten der Anthropologie. Für den Historiker ist es insofern beachtenswert, als man dabei einen klärenden Überblick über den Stand der Forschung in bezug auf die Rassenmerkmale leiblicher und geistiger Art zu gewinnen vermag; ein fachmännisches Urteil darüber steht zunächst dem Anthropologen zu. Wichtig ist die Beobachtung, daß auf engeren Räumen charakteristische Unterschiede feststellbar sind, eine Erkenntnis, die für die Auffassung der Bevölkerungsverhältnisse und ihrer Entwicklung, insbesondere für die Siedlungskunde, bedeutsam ist. Auch auf Siedlung und Hausbau geht der Verfasser ein, jedoch nur in knappen, allgemein gehaltenen Ausführungen. Dem Problem der deutschen Stämme ist eine überschauende Arbeit H. Aubins, ursprünglich ein Vortrag, zugewandt ( 387). Es ist erfreulich, daß der Verfasser nicht der jetzt in der Forschung zutagetretenden Neigung folgt, den Stammesbegriff in der älteren deutschen Geschichte allzu sehr zu verflüchtigen und aufzulösen. Nach einem Blick auf die frühesten Zeiten germanischer Besiedlung erörtert A. den Prozeß der Bildung der großen deutschen Stämme, wobei der verschiedene Einschlag der Vorbevölkerung hervorgehoben wird. Betont wird der


S.145

Einfluß tatsächlich eingetretener Isolierung, ferner der geschaffenen staatlichen Grenzen sowie der inneren Ausgleichung innerhalb bestimmter Räume. Eingegangen wird sodann auf die Vorgänge im Osten, wo sich das Deutschtum zwischen und über Slawen und Madjaren ausgebreitet hat; als entscheidend werden hier für die neue Herausbildung von Stammesverschiedenheiten die kulturgeschichtlichen Abläufe gekennzeichnet. Eine Aufgabe historisch-geographischer Art, die heute vielfach im Hinblick auf drängende Fragen der Gegenwart angefaßt wird, ist die Gliederung ganz Deutschlands nach großen geschichtlich bedingten Räumen, wobei ein Überblick über die territorial-politischen Bildungen im Ablauf der Jahrhunderte geboten zu werden pflegt. In umfassendem Zusammenhange ist ein Lösungsversuch bisher nicht gemacht worden; wohl aber liegen wertvolle Beiträge dafür vor: hingewiesen sei auf E. Stengels Darlegungen über das geschichtliche Recht der hessischen Landschaft ( 415), sowie G. Schnaths Schrift über die Gebietsentwicklung Niedersachsens ( 422).

In wie lebhaften Fluß die historische Kartographie gekommen ist, zeigt eine kritische Übersicht über ihre Probleme, welche H. Aubin mit mancherlei neuen Anregungen bietet ( 384). Er geht aus von Ph. Clüver und schildert die Entwicklung in Deutschland sowie den benachbarten Ländern, gelegentlich auch mit einem Blick auf die Antike, bis zu der jüngsten Epoche, in der mit gesteigerter Exaktheit die Aufgaben der historischen Kartographie angefaßt worden sind und damit sich eine Zerlegung der Arbeit in räumlicher und sachlicher Hinsicht ergab. Eine Erweiterung der Probleme trat ein, als zu den früher gepflegten Versuchen der historsch-politischen Kartenzeichnung nun auch die Darstellung der verschiedensten kulturellen Erscheinungen im Kartenbild treten sollte. Für Wirtschaft und Recht liegen bereits verheißungsvolle Anfänge vor, auch für die Verbreitung der Baustile und Kunstformen. Neuerdings hat die Sprachgeschichtsforschung sich der gleichen Aufgabe zugewandt; schon ist die Forderung erhoben, daß Sprachatlas zugleich Sachatlas sein soll. So wird es notwendig, eine Kulturmorphologie der Landschaft zu schaffen und dafür eine vergleichende Methode durchzubilden; wenigstens Zusammenfassung und Übersicht verschiedenartigster Forschungsergebnisse wird damit erreicht, wohl aber auch eine vertiefte neue Erkenntnis allgemeiner Art. -- Dem Problem der Gemarkungsgrenzen gilt eine sorgfältige Untersuchung von E. Rubow ( 392), deren Ergebnisse zunächst in einer knappen übersichtlichen Darstellung vorliegen. Die Frage nach der Beständigkeit der Gemarkungsgrenzen hat eine wichtige Rolle gespielt, als es sich um die Herstellung der sog. Grundkarten 1: 100 000 nach Thudichums Vorschlag handelte; ganz abgesehen von der praktischen Tragweite ist das Problem rein wissenschaftlich von Belang, weil es tief in die Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, auch in die Geschichte der Siedlung, der Wirtschaft und des Rechts hineinführt. R. geht nun für Pommern, mit Beifügung lehrreicher Kartenbeispiele, der Frage nach, inwieweit eine Beständigkeit dieser Grenzen anzunehmen sei, und erörtert die geschichtlichen Bedingungen für die Möglichkeit ihres Wandels. Es ergibt sich dabei, daß diese Grenzen gewiß nicht unveränderlich sind: Anlage von Verkehrswegen, Entstehung von Gutshöfen, Koloniegründung, Vereinödung, Wechsel von Wald und Feld haben Änderungen bewirkt; jedoch werden sie öfter sehr zäh festgehalten. Bisweilen ändern sie ihre Qualität, behalten aber als solche Bedeutung; jedenfalls leisten sie bei den Arbeiten zur historischen Geographie wichtige, unentbehrliche Dienste.


S.146

-- Hingewiesen sei noch auf einen neuen Versuch in dem Historischen Atlas der österreichischen Alpenländer ( 395). In der erschienenen 4. Lieferung wird nicht nur die Landgerichtskarte nach der bisher schon bewährten Methode fortgesetzt, sondern es ist auch eine Karte der Jagdgebiete in der Steiermark beigegeben, wie sie anderwärts noch nicht dargeboten worden ist. Die Karte, bearbeitet von W. Hoffer, enthält eine Darstellung der landesfürstlichen Forstämter, dazu die alten Wildbanne der Patrimonialherrschaften vor 1849 und die heutigen Eigenjagdgebiete, so daß sogleich eine entwicklungsgeschichtliche Verwertung des Kartenbildes möglich ist.


Diese Seite ist Bestandteil des Informationsangebots "Jahresberichte für deutsche Geschichte" aus der Zwischenkriegszeit (1925-1938)