I. Allgemeines. Sprache.

Im letzten Bericht wurde bemerkt, daß seit einem Jahre kein Heft des Archivum lat. m. ae. erschienen sei. Inzwischen haben wir Herbst 1930 das erste Heft des 5. Jahrg. erhalten ( 459), der bedauerliche schnelle Tod von H. Gölzer hat diese Verzögerung veranlaßt, daneben auch wohl Mangel an Material, der zu dem Beschluß geführt hat, von nun an nur


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alle Halbjahre ein Heft auszugeben. Für diesen Jahrgang unseres Berichtes fällt demnach das Archivum aus, dafür ist aber das Protokoll der Sitzungen des Thesaurusausschusses für Januar und Mai 1929 und 1930 beigelegt, aus dem das Wichtigste mitgeteilt sei. Da ist vor allem beachtenswert, daß man über die Grundlagen noch immer nicht einig ist. 1928 hatte Pirenne betont, das J. 1000 wäre in jeder Beziehung als Endtermin ungeeignet, und hatte einen Thesaurus für das ganze MA. verlangt, der aber den Charakter des Glossars tragen sollte. Man hatte sich ja dann geeinigt, daß die Arbeiten wie bisher fortgesetzt würden, daneben aber die Frage eines zweiten Thesaurus von 1000 bis zur Renaissance in den einzelnen Ländern beraten werden sollte. Daß das J. 1000 als Schlußtermin gewählt war, hat offenbar nirgends recht befriedigt, denn wie man sieht, hat der Vorschlag, einen zweiten Thesaurus für das spätere MA. zu schaffen, lebhaften Anklang gefunden, und man ist teilweise schon mit Begeisterung an die Arbeit gegangen. Doch stellen sich große Schwierigkeiten in den Weg: während Länder wie Italien, Frankreich fast unter der Last der Arbeit erliegen und mindestens noch eine Zeitspanne von 10 Jahren beanspruchen, um die Bearbeitung der Texte bis 1000 zu beendigen, sind andere, die wenig oder gar keine Literatur aus dieser früheren Zeit haben, ungeduldig und warten auf Gelegenheit, sich zu betätigen. Vor allem aber ist es interessant, daß die Fundamente, an denen 1928 gerüttelt wurde, immer noch nicht feststehen, der neue Präsident des Unternehmens, F. Lot, hat im Mai 1930 erklärt, der Terminus ad quem 1000 lasse sich wissenschaftlich nicht rechtfertigen, ihm erscheine das J. 800 begründeter. Zwar ist aus der Versammlung erwidert worden, daß man an den nun einmal gefaßten Beschlüssen festhalten müsse, doch erkennt man deutlich, wie die Ansichten vielfach auseinandergehen, namentlich auch betr. der Frage, ob die Texte erschöpfend (exhaustif) exzerpiert werden sollen, und nicht nur die Ansichten, sondern auch die Praxis. So verzichtet z. B. Belgien darauf, Wörter mit klassischer Bedeutung aufzunehmen, ebenso Großbritannien. Was die Zeit nach 1000 angeht, so wird den einzelnen Ländern Freiheit gelassen, ihre Arbeiten fortzusetzen. Man muß neugierig sein, wie sich das in der Praxis auswirken wird. Ich kann zu meinem Bedauern nicht umhin, an meinen früher geäußerten Bedenken festzuhalten. Vor allem ist für mich das eine beunruhigend, daß bei all diesen Besprechungen die philologische Seite der Sache zu wenig beachtet zu werden scheint, und ohne Philologie wird es doch nicht gut gehen, wenn man ein Lexikon machen will.

Nirgends verfolgt man diese Vorarbeiten eifriger als in Italien, wo vor langer Zeit (1875) schon der Gedanke aufgetaucht war, für Italien ein Glossario latino-barbaro e volgare zu beschaffen, und es scheint, daß man nicht mit allem einverstanden ist, was das sogenannte internationale Komitee beschließt, wenigstens klingt aus einem äußerst lesenswerten Artikel V. Ussanis, La latinità del Medioevo in una grande impresa dei filologi europei (II Giornale d'Italia v. 5. April 1929) recht deutlich das Streben heraus, seine Landsleute zu beschwichtigen. »Parigi. Perchè Parigi?« Warum ist nicht Rom als Vorort gewählt? Verfasser erkennt die Berechtigung dieser Frage durchaus an und gibt sich alle Mühe, diese Wahl den Unzufriedenen schmackhafter zu machen. -- In den Atti del R. Ist. Veneto T. LXXXVIII 505 ff. erstattet derselbe wie üblich Bericht über den Stand der Arbeiten in Italien.

P. Lehmann ( 460) bespricht ein oft diskutiertes und allgemein interessierendes


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Thema von neuem: Ist das Latein eine tote Sprache? Mit imponierender Beherrschung des Materials zeigt er, daß es durchaus falsch ist, Lebensregungen dieses Lateins leugnen zu wollen, und macht vor allem darauf aufmerksam, welche sprachliche Leistung die Scholastik mit ihrer straffen Terminologie aufzuweisen hat, wie lebensvoll die Mystiker zu schreiben verstanden. Eingehender behandelt er dann die zweite oft gehörte Frage, ob man im MA. Latein gesprochen und verstanden hat, wo eine große Anzahl von Nachrichten geprüft und vielfach richtiger interpretiert wird, als dies bisher der Fall gewesen ist; im einzelnen wird z. B. noch die Frage erörtert, wie weit Kaiser und Könige Latein verstanden und sprachen, wieweit lateinisch oder vulgär gepredigt wurde. Auch Fernerstehenden kann die Lektüre des Aufsatzes warm empfohlen werden. -- Das Problem des Vulgärlateins berührt D. de Bruyne, Ětude sur le texte de la Sagesse, Rev. Bénédict, 41, 1929, 101 ff. (ein Pendant zu seinem Aufsatz über d. Latein des Ecclesiasticus, Rev. Bén. 40, 1928, 1 ff.). Die Überlieferung der Sapientia regt ebenso wie die des Eccl. viele Fragen an, hier interessiert besonders, was der Verfasser über Vulgärlatein und speziell über afrikanisches Latein sagt. Am Schluß, S. 129, stellt er eine Reihe von Afrikanismen oder was er dafür hält, zusammen. -- J. Sofer, Die Vulgarismen in d. Etymologiae des Isidorus v. Sevilla, Glotta 17, 1929, 1 ff. sammelt, anknüpfend an seine Arbeit Lexikal. Untersuch. zu d. Etymol. d. Isid., Glotta 16, 1928, 1 ff., alle Angaben Isidors, die sich auf vulgäre Ausdrücke beziehen, also alle Ausdrücke, die durch vulgo, vulgus u. ä. hervorgehoben werden, nach Gruppen wie rusticale Ausdrücke, botanische, zoologische usw., der Rest, der sich schlecht zusammenfassen läßt, folgt schließlich alphabetisch geordnet. -- Die Bedeutung des Wortes orator untersucht B. Herrmann ( 463) auf Grund eines reichen Stellenmaterials und kommt im Gegensatz zu der verbreiteten Auffassung, es sei = Gesandter zu dem Ergebnis, orator sei im Frühma. der »Beter«, »Fürsprecher bei Gott«, und zwar vor allem als Mitglied einer Gebetsverbrüderung. So erklärt sich auch das öfter vorkommende orator regis. -- Über das Wort Romanus in den fränkischen Rechtsquellen handelt ein Aufsatz von S. Stein in Mitteilg. österr. Gesch.-Forschung 43, 1929, 1 ff. -- Die Abhandlung von E. Richter ( 464) hat in erster Linie romanistische Ziele, doch da die Verwendung des Wortes senior im MA. sehr ausführlich dargelegt wird, ist ein Studium derselben auch für den Mittellateiner sehr empfehlenswert. -- Glossographisch wichtig sind vor allem technische Schriften, darum sei auf J. Pirson, Mittellateinische Sammlungen technischer Rezepte, Berliner Beiträge z. roman. Philologie 1, 1929, 346 ff., hingewiesen, der über ein in einer Madrider Hs. des 12. Jhds. entdecktes Rezeptbuch handelt, das er ins 9. Jhd. setzen möchte. Die Sprache ist so vulgär, daß sie stellenweise mehr den Eindruck des Romanischen als des Lateinischen macht. Gefördert wird diese Behandlung durch den Vergleich mit anderen Rezeptsammlungen, compositiones. -- Der Versuch von J. W. Thompson, die Anschauung, wir hätten in den Straßburger Eiden das älteste französische Sprachdenkmal, aus der Welt zu schaffen, der schon bei seinen Landsleuten auf scharfen Widerspruch stieß und auch in unsern Jberr. 2, 1926, S. 207 u. 258 abgelehnt wurde, ist von F. L. Ganshof einer neuen sorgfältigen Prüfung unterzogen worden, Stud. med. 2, 9 ff., mit dem Ergebnis, daß die philologischen wie die historischen Beweise Thompsons gleich brüchig sind. Damit dürfte dieser Versuch wohl endgültig

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erledigt sein. -- In Fortsetzung seiner Studien zu den merowingischen Urkunden, Speculum 2, 258, bringt H. M. Martin ( 475) charakteristische Beispiele für die grammatische Zerrüttung der Sprache jener Zeit, wobei er sich mit Recht auf die von Ph. Lauer u. Ch. Samaran edierten 38 Stücke beschränkt. Über dasselbe Thema vgl. auch H. M. Martin in Classical Philology 24, 1929, 245 ff. -- Über den seltsamen Ausdruck litterae cadassae = Majuskeln, der sich einige Male in jungen Hss. Flanderns findet, handelt H. Nélis, Rev. Bénéd. 41, 268 ff. -- P. Lehmann ( 465) untersucht, wann ma. Beinamen und Ehrentitel beigelegt worden sind und was sie bedeuten; speziell beschäftigt er sich mit der Frage, wann der Name Magnus für Karl d. Gr. üblich geworden ist, und stellt fest, daß Karl schon 774 im Auftrage des Papstes als Magnus rex angedichtet worden ist, also römisch-byzantinische Sitten auf den jungen Frankenkönig übertragen wurden. Kürzer werden dann Gregor d. Gr., Beda venerabilis, Isidorus junior u. a. behandelt und schließlich reichhaltige Nachträge zu Ehrles Aufsatz »Ehrentitel der scholastischen Lehrer des MA.« gegeben.

E. Schulz ( 466) gibt uns in anziehender Weise eine Vorstellung von den ersten Lesebüchern, aus denen die Lateinschüler seit Beginn des 15. Jhds. oder noch früher die Anfangsgründe der Fremdsprache erlernten. Die kürzeste Fassung ist in einem kleinen holländ. Frühdruck von 8 Seiten erhalten: nach dem Alphabet folgen die drei Hauptgebete der christlichen Kirche, Pater noster, Ave Maria, Apostolicum, denen andere ziemlich wahllos zusammengestellte Sprüche und Verse sich anschließen. In andern derartigen Lateinfibeln findet man nach den Hauptgebeten solche Texte, die die Chorknaben auswendig können mußten, um ihre kirchlichen Schülerpflichten erfüllen zu können.

Wenn wir im 4. Bericht, S. 125, Nr. 322, auf die wichtige Boethiuskonkordanz von Cooper hinweisen konnten, so hat uns mittlerweile die Mediaeval Academy of America ein neues gleichwertiges Hilfsmittel geschenkt: P. F. Jones, A concordance of the Historia ecclesiastica of Bede ( 681). Die Anordnung ist sehr praktisch, und man findet im Augenblick, was man sucht; z. B. unter mors findet man zuerst sämtliche Stellen für morte, dann mortem, morti, mortis usw., jedesmal natürlich nicht nur dies Wort, sondern den ganzen Zusammenhang, in dem es vorkommt. Nur wo Aufzählung wirklich zwecklos wäre, z. B. bei et, ist mit Recht auf die Aufnahme verzichtet worden, bei anderen, z. B. Pronominibus, werden die Stellen angeführt, aber nicht die Belege. Natürlich ist Plummers Ausgabe zu Grunde gelegt. -- Die im vorigen Jberr. angezeigte kleine Einführung in das Mlat. von K. Strecker hat 1929 eine zweite Auflage erlebt. Im allgemeinen ist der Charakter des Büchleins unverändert geblieben, doch sind einige Teile auf vielfach geäußerten Wunsch etwas erweitert worden, namentlich die Auswahl charakteristischer Vokabeln, ebenso haben die Literaturangaben für Palaeographie eine Vermehrung erfahren.


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