III. Volkskunde der Einzellandschaften.

In der Reihe von Einzeldarstellungen, die eine wissenschaftlich gesicherte Grundlage für die deutsche Rassenkunde, für Stammes-, Volkstums- und Familienforschung schaffen wollen, geben Klenck und Scheidt ( 567) als 1. Bd. einer Bestandaufnahme des niedersächsischen Bauerntums eine Monographie der Geestbauern im Elb-Weser-


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Mündungsgebiete. Die Darstellung beschränkt sich auf die Börde Lamstedt im Kreise Neuhaus an der Oste zwischen Bremerhaven und Stade. Die hier vorgenommene Rassenuntersuchung bezieht sich auf 1000 Einwohner altansässiger Herkunft. Die bisherigen Schilderungen von der körperlichen Erscheinung der »Niedersachsen« sind bloße Vermutungen. Ob der Lamstedter Typ dem Typ des Geestbauern Niedersachsens überhaupt gleichzusetzen sei, ob es einen niedersächsischen Geestbauerntyp überhaupt gebe, kann noch zweifelhaft sein; doch wird das Ergebnis der Lamstedter Untersuchung wohl für die Geestbevölkerung des Elb-Wesergebiets im allgemeinen auch gültig sein. -- Die »Beiträge zur rheinischen und westfälischen Volkskunde« haben in der »Volkskunde des Kreises Altenkirchen« von Holschbach ( 564) eine wertvolle Bereicherung erhalten. Eine systematisch lückenlose Darstellung des Volkstums ist nicht beabsichtigt, aber die hier ausgewählten Kapitel erfahren eine grundlegende Behandlung: Das Wesen und Werden der Wohnstätten im Landschaftsbilde als Ergebnis der geologischen, geographischen und kulturgeschichtlichen Bedingungen; die Einzelsiedlung, das Straßendorf, die Bauformen (Fachwerk und Lehmbau, Wohnhaus und Stall unter einem Dache, sächsisch-westfälisch mit fränkischen Überschneidungen, daneben in geschlossenem Teilgebiet das »fränkische Gebirgshaus«), alles in eingehender Beschreibung und mit kartographischer Festlegung der Typen. Von besonderer wirtschaftsgeschichtlicher Bedeutung ist der Beitrag von E. Rick: »Der Genossenschaftsgedanke auf alter Grundlage im heimischen Volkstum« (S. 145--179), eine Darstellung der Markgenossenschaften auf altgermanischem Grunde zum Schutze und zur Pflege des Gesamteigens der Allmende (Wald und Weide). -- Über volkskundliche Einzelheiten des Bergischen Landes unterrichtet eine Zusammenstellung von Einzelaufsätzen aus der Feder von O. Schell ( 565). Eine stoffliche Ordnung ist nicht erstrebt; wir hören unter anderem vom Einflusse der Heiligenverehrung auf das bergische Volk (S. 33), vom Glauben an den wilden Jäger zwischen der Ruhr und dem Siebengebirge (S. 68), von Resten eines Höhenkultes (S. 110), von der Gezelinquelle bei Schlebusch (S. 121). Die Aufsätze beweisen eine weitgreifende Belesenheit, aber in der Stoffverwertung bedürfen die religionsgeschichtlichen und völkerkundlichen Schlüsse, die vielfach gezogen worden sind, der Nachprüfung. -- Die Bergisch-märkische Volkskunde des gleichen Verfassers ( 565) ist für Lehrer bestimmt, denen volkskundliches Material bereitgestellt werden soll für die Volks- und höhere Schule. Die historische Volkskunde erfährt hier manches über Volksfeste bei Solingen (Holzschuhrennen), Webertanz (S. 32), Heiligenverehrung (Ludgerus, Suitbert, Liborius), auch über Inschriften (S. 234, 264). Im ganzen ist der Blick wenig auf historische Begründung gerichtet; ein Register fehlt, Literaturnachweise sind dürftig. -- Eine Einzelfrage sozialer Natur behandelt der Aufsatz von K. Ribbeck ( 566) über »Gilde, Lichtmeß und Fastnacht im Stifte Essen«. Das Stiftgebiet liegt auf der Grenze zwischen Rheinland und Westfalen und ist somit im Volkstum beiden Landschaften verbunden. Hier sind die alten ländlichen, nachbarschaftlichen (nicht gewerblichen) Gilden erhalten geblieben, einstige Notgemeinschaften mit jährlichen Festen, deren Spuren ins 13. Jhd. zurückreichen. In ihnen liegt nach der Ansicht mancher Wirtschaftshistoriker noch die älteste Form der germanischen Gemeindeverfassung vor. Den Mittelpunkt bilden die aus altgermanischen Festen entstammenden Gildengelage: Fastnacht und Mittsommer;

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G. v. Below hat diesen Gilden nur einen geselligen Zweck zuerkannt und ihren Einfluß auf die Bildung der Bauernschaften und städtischen Nachbarschaften bestritten (Hist. Ztschr. 106, 286). A. Meister (Festgabe für Grauert 1910, 30) leugnet die Beziehung zu Opfergelagen und sieht in den Gilden ursprüngliche Sippengenossen. Der Verfasser nimmt zu diesen Streitfragen selbst keine Stellung; er gibt eine Darstellung der bäuerlichen Gilden in der Umgegend von Essen; vgl. seine Gesch. d. Stadt Essen I (1915) 66, 232, 250, 491. -- Mit besonderem Danke darf die deutsche volkskundliche Forschung die tüchtige »Luxemburger Volkskunde« von J. Hess ( 562) begrüßen. Sie will ein Anfang sein, kein Abschluß; sie möchte die historischen und die gegenwärtigen Kulturwerte des Luxemburger Volkes zusammenfassen. Der wissenschaftliche Anteil dieses Volkes an seinen Volksüberlieferungen ist seit den siebziger Jahren stark. Als Vorbild dient Wredes »Rheinische Volkskunde«; das Buch will auch der Arbeit am Atlas der deutschen Volkskunde dienen. Der erste Teil gibt die Übersicht über die Geschichte, seit 963 das Kastell Lucilinburhuc an den Ardennergrafen Siegfried kam. Fließende Volks- und Eigentumsgrenzen gegen Preußen hin lassen das Land nicht zu einer abgeschlossenen Kultureinheit kommen, wenn auch die politische Einheit gewisse gleiche Eigenarten der stammesgeschichtlich mehrdeutigen Bevölkerung hervorbrachte, eine Denkart, die weder deutsch noch belgisch noch französisch sein will, aber von allen Seiten genährt ist, eine Völkerbrücke von einer viertel Million Menschen. Nur ein Dorf Lasauvage spricht französisch; das Wallonische geht zurück. Das Luxemburgische (Moselfränkische) ist die Umgangssprache aller Stände, also die Landessprache. Die Siedlungen zeigen heute Mischung von Haufen-, Reihen-, Rund- und Burgdörfern. Das Haus hat alemannischen Einschlag, fränkische Hofanlage ist seltener. Das Werk gibt eine eingehende Beschreibung auch der Tracht (S. 54), der Religion und des Aberglaubens (S. 91), der Sprache und Dichtung (S. 126) und der Volksbräuche (S. 165--283). -- In Pohlandts zusammenfassender Darstellung ( 568) hat ein wenig beobachtetes Gebiet Ostdeutschlands seine kulturgeschichtliche Würdigung gefunden. Das Lebuser Land, an dessen Rande sich die Stadt Frankfurt a. O. entfaltete, hat für die ostelbische Siedlungsgeschichte eine beachtliche Bedeutung. Hier hatten im 10. Jhd. lechitische Slawen Fuß gefaßt, deren castrum Lubusz Kaiser Heinrich V. im Jahre 1109 belagerte; mit diesem Datum beginnt die Erschließung des Gebietes für das Deutschtum. Wir hören von der alten polnischen Landesverfassung und der Siedlungsgeschichte, von der Stammesmischung und dem Bauerntum und Landadel. Mundart, Dorf (Hufenverfassung, Anlage, Gehöftform), Volkshandwerke (Weber, Seiler, Korbmacher, Tischler, Töpfer, Schmiede u. a.), Sitte, Glaube, Volkslied und Kinderspiel erhalten besondere Abschnitte. Das Buch, das kein Heimatbuch, sondern eine Volkskunde sein will, stellt in erweiterter Form Aufsätze zusammen, die in den Mitteilungen des Hist. Ver. f. Heimatkunde zu Frankfurt a. O. (H. 28 u. 29) erstmalig erschienen sind. -- Die Historische Kommission für Schlesien bringt in der Reihe ihrer Bibliographiebände die erste Hälfte der »Bibliographie der Schlesischen Volkskunde« heraus, bearbeitet von E. Boehlich ( 569). Dieser Halbband umfaßt in 7126 Nummern den allgemeinen Teil, dann Ort und Sprache, materielle Kultur, Sitte und Brauch, Wort und Weise, Sage und Glaube. Berücksichtigt sind auch die alten schlesischen Teile, das sudetendeutsche Volkstum und, wenn auch unvollständig,

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die Arbeiten zur historischen Volkskunde. Die Bibliographie steht in ihrer Vollständigkeit und sachgemäßen Anlage an der Spitze aller landschaftlichen bibliographischen Arbeiten. -- Der oberbayrischen Volkskunde entwächst eine Arbeit, die über den engen landschaftlichen Rahmen hinaus Anspruch auf allgemeindeutsche kulturhistorische Beachtung erheben darf; H. Moser liefert in seiner Darstellung des Volksschauspiels zu Kiefersfelden ( 561) einen grundlegenden Beitrag zur Geschichte des deutschen Volkstheaters überhaupt. Die Einleitung überschaut das Volkstheater des Barock in Altbayern und Tirol, das in der bayrischen Kulturgeschichte eine besondere Bedeutung erhalten hat. Es ist ein Ergebnis der katholischen Gegenreformation aus dem Anfange des 17. Jhds., die das Theaterspiel in die Gebirgsdörfer trug, wo es, wie vornehmlich in Oberammergau, bis in die Gegenwart weiterlebt. In der 2. Hälfte des 18. Jhds. wurde das ländliche Volksschauspiel in etwa 100 altbayrischen und 161 tirolischen Gemeinden gepflegt. Kiefersfelden bei Kufstein gilt als die älteste Dorfbühne Deutschlands und besitzt eine umfängliche Bibliothek handschriftlicher Komödienbücher; es hat den Theaterbarockstil bis heute bewahrt. Es handelt sich in den Spielen nicht um Originalwerke, sondern um überkommene Massenkunst. Der Einfluß des Jesuitentheaters ist besonders im 17. Jhd. in Text- und Szenengestaltung der Volksbühne offensichtlich; es herrscht zunächst engste Verbindung von Theater und Kirche. Die Tendenz der Jesuitenstücke rettet das Volksstück vor der Bedrängung durch die Aufklärung; teilweise liegen Gelübde vor, die zur Aufführung in festen Fristen verpflichten. Kirchliche und weltliche Verbote schränken das Spiel seit 1770 stark ein. Seit 1800 treten die Spiele aus der rein kirchlichen Stoffwahl heraus und spiegeln den Zeitgeist. -- Der oberbayrischen Sagenforschung dient eine wertvolle Veröffentlichung aus dem historischen Seminar zu Graz; W. Herzog gibt mit einer gediegenen Untersuchung nach den Handschriften die berühmte Untersbergsage vom bergentrückten Kaiser heraus ( 560). Der Hauptteil (S. 25--80) enthält die kritische Textausgabe mit den Bildern. Der in der Sage begegnende Kaiser Karl ist wohl nicht Karl d. Gr. Schon Praetorius kennt um 1680 die Kyfhäuserüberlieferung von dem am Tische schlafenden Kaiser, dessen Bart über den Tisch hinwächst. Untersbergsagen sind seit 1582 bei Martin Pegius erwähnt. Die Entstehung der vorliegenden Fassung kann auf Grund der darin enthaltenen Prophezeiungen in das Jahr 1558 zu setzen sein; danach wäre der Kaiser der Sage Karl V. Der Entstehungsort ist wohl Bergheim. Als Verfasser wird ein Reichenhaller Stadtschreibergehilfe Lazarus genannt, dessen Familienname Gizner gewesen sein wird. Die Zahl der Handschriften aus dem 17. bis 19. Jhd. ist beträchtlich. Der Erzähler schildert seine Erlebnisse vom J. 1523 in der Berghöhle und schließt die Prophezeiungen an vor allem über die Zustände vor und während der Endschlacht beim Walserfelder Birnbaum, die Lazarus von dem Mönche erfuhr, der ihn führte. Ein Volksbuch, das 1782 in Brixen gedruckt zu sein vorgibt, hat die Sage verbreitet. -- In den Quellen zur deutschen Volkskunde veröffentlicht F. Byloff ( 558) aus Gerichtsakten »Volkskundliches aus Strafprozessen der österreichischen Alpenländer mit besonderer Berücksichtigung der Zauberei- und Hexenprozesse 1455--1850«. Er will damit auch Beziehungen zwischen Volkskunde und Recht klären. Die Darstellung hält die Anordnung nach der Entstehungszeit der Quellen bei, aber in den Überschriften wird in Schlagworten jedesmal der wesentliche Sachgehalt angedeutet.

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Die reichste Ausbeute gab das steiermärkische Landesarchiv und das Landesregierungsarchiv in Graz: Bahrprobe v. J. 1455; Bildzauber 1465; Liebeszauber mit Leichenteilen Gerichteter 1485; Tötungs- und Erblindungszauber 1485; Zauber mit Judenexkrementen und Leichenteilen neugeborener Kinder 1485; Galgenholz als Zaubermittel 1485; Totzaubern durch Friedhofserde, Leichenteile, Grabtücher 1562; Kröte als Zauber- und Seelentier 1580; Wetterzauber 1585 u. ö.; Besessenheitszauber, Himmelsbriefe, Schloßzauber, Galgenmännlein 1595; Regenzauber 1603; Festmachen 1609; Bahrrecht 1613; Wolfsegen 1615; Hexenbrennen 1645; Werwolfglaube 1662; Perchten 1662; Nestelknüpfen 1672; Totbeten 1677; Passauer Zettel 1681; Christophgebet 1728; Abtreibungszauber 1734; Teufelskappe 1773; Kolomanisegen 1795. -- Die bäuerlichen Verlaßinventare als volkskundliche Quellen würdigt O. Lamprecht ( 559). Diese Inventare, die im steirischen Landesarchive lagern, reichen bis in die 2. Hälfte des 16. Jhds. zurück. Sie stammen vorwiegend aus den obersteirischen geistlichen Patrimonien wie Stift Neuberg, Seckau, Admont; geringer an Zahl sind sie bei den weltlichen Grundherrschaften Obersteiers, spärlich für Mittelsteiermark. Bei Todesfall oder Besitzwechsel ließ vor 1848 jede steirische Grundherrschaft von ihrem Amtmanne und bäuerlichen Schätzleuten jedes Gut aufnehmen zum Zweck der Erhebung des Laudemiums oder Mortuars. Am Beginn wird auch das Besitzinventar des Vorbesitzers aufgeführt, eine wertvolle Quelle für die Besitzgeschichte des Gutes, da es die Herstellung ganzer Besitzketten ermöglicht, in einigen Fällen über drei Jahrhunderte zurück. So ergibt sich eine Besitzer- und Wirtschaftsgeschichte mit Einblicken in die Volkskunde, Volksgenealogie, die Sprachgeschichte usw., in die Beziehungen zwischen Grunduntertan und Grundherrschaft, die bürgerliche Besitzbildung, Eheverträge und Erbrecht, Geldwert des Grundes, totes und lebendes Inventar. In der gleichen Zeitschrift S. 209--218 weist V. v. Geramb einführend auf die Bedeutung der Untertaneninventare als Quelle für die Volkskunde der Sachen hin und druckt ein solches Inventar aus Stift Seckau um 1720 ab; dieses Stift besitzt allein für die Zeit von 1519 bis 1780 über 6000 Stück Inventare.


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