§ 15. Die Epoche der Völkerwanderung(W. Stach) Dicht an den Zeitpunkt, mit dem man gemeinhin die »Völkerwanderung« beginnen läßt, versetzt uns die eindringliche Darstellung, die C. Patsch ( 673) dem pannonisch-mösischen Grenzkrieg unter Valentinian gewidmet hat. Die Studie bildet einen Teil der Abhandlungen, in denen Patsch die Frühgeschichte der Balkanländer mit überragender Sachkenntnis aufhellt (Anz. Ak. Wien 1925, 69 ff. u. 181 ff. zur Gesch. d. Agathyrsen u. d. Sarmaten; S.-B. eb. 208, Abh. 2 zur Völkerbewegung a. d. unteren Donau bis z. Abwanderung d. Goten u. Taifalen). In
der vorliegenden Studie wird im Anschluß vor allem an Inschriftenfunde und Ammian das wichtige Vorspiel zu dem
Zusammenbruche der Römerherrschaft in Pannonien und der letzte römische Versuch zu einem Offensivstoß in
das dortige barbaricum forschungsmäßig zum ersten Male genauer rekonstruiert und durch Beigabe einer
Spezialkarte vorzüglich erläutert. Den Anlaß zu dem tumultus atrox hatten danach die Römer gegeben.
In seiner Fürsorge für die Grenzhut hatte Valentinian 373 von Pannonia I. und Valeria aus neue praesidiaria
castra anlegen lassen, die sich über die Donau weit in das unbesetzte Hinterland vorschoben. Zunächst erhoben
die Quaden in ihrer Erregung über das offensive Überschreiten des zisdanuvischen Grenzsaumes beim Kaiser in
Gallien Einspruch. Aber vergebens. Eine weitere Gesandtschaft, die deswegen beim neuernannten dux von Valeria vorsprach,
wurde -- ein beliebtes Requisit römischer Barbarenbekämpfung -- auf dem Heimweg sogar ermordet. Auf die Kunde
von dieser Gewalttat griffen die Quaden im Bunde mit Jazygen und Argaraganten im Hochsommer 374 mit erstaunlicher
Raschheit zu den Waffen. Der plötzliche Einbruch ins Römische Reich erfolgte in kluger Strategie tief im
Süden, aus der Batschka und dem Banat, und richtete sich gegen Pannonia II. und Moesia I., wo man sich auf
römischer Seite keines Angriffes versah. Der überrumpelte Grenzschutz versagte mit einer Kläglichkeit,
die nur aus der Korruption des damaligen römischen Heeres begreiflich erscheint. So ergossen sich die
durchgebrochenen Jazygen und Quaden über das wehrlose und im Gegensatz zu anderen pannonischen Strichen noch
prosperierende Syrmien. Im 2. Teil der Studie verfolgt dann Patsch, wie es das nächste Jahr der Energie und
kriegerischen Tüchtigkeit Valentinians gelang, die schwere Gefahr noch zu bannen, nachdem in Mösien schon der
jugendliche dux Theodosius, der nachmalige Kaiser, den Stoß der Argaraganten glücklich abgefangen hatte. Der
besondere Reiz der Darlegungen ruht in dem unmittelbaren Leben, zu dem Patsch auch die sprödeste Überlieferung
zu erwecken versteht, und ihr besonderer Vorzug liegt
S.196 in den Streiflichtern, die über die Bereicherung unserer Tatsachenkenntnis hinaus auf das spätrömische Grenzschutzsystem der pannonisch-mösischen Strecke, auf die gesamte Kulturlage diesseits und jenseits des dortigen limes, auf die landsmännische Eigenart der Pannonier und nicht zuletzt auf die beteiligten Persönlichkeiten fallen.Im Gegensatz zu diesem farbigen Bilde beschränkt sich E.
Stein (
674) bei seiner Untersuchung des römischen Grenzschutzes im Westen auf
eine haarscharfe Interpretation der Notitia dignitatum, aus der er die überraschende Folgerung zieht, es habe das
Burgunderreich mit einem Königssitz in Worms niemals gegeben. Stein beginnt mit dem (auch gegen
Alföldi gerichteten) Nachweis, daß nicht nur die in den capp. der not. dign. zu den einzelnen spektablen
Generalen verzeichneten Truppen limitanei waren, sondern daß auch alle diejenigen spektablen
Generale, die ohne Sonderanführung ihrer untergebenen Truppen genannt sind, unmittelbar und ausschließlich
Teile des Feldheeres befehligten: sog. comitatenses, die bekanntlich im 5. Jhd. zusammen
mit den Limitanformationen und den barbarischen Bundesgenossen die Lasten der immer schwieriger werdenden Grenzsicherung
trugen. Aus diesem Anordnungsprinzip der not. dign. ergäbe sich dann für die spätrömischen Provinzen
am Rhein, daß in demselben Gebiet, das der dux Mogontiacensis mit 11 Limitaninfanterieformationen
einschließlich der Orte Worms und Mainz dicht besetzt hielt, zu derselben Zeit nach der herrschenden Lehre auch
die Alanen des Königs Goar und die Burgunder des Königs Gundahar als kaiserliche Föderaten angesiedelt
gewesen wären, während die Limitanbesatzungen von Belgica II. und Maxima Sequanorum unerhört schwach
waren; daß ferner in Germania II. überhaupt kein spektabler General mehr stand, während sich in Germania
I. nicht weniger als drei befanden. Um aus diesen Seltsamkeiten und Widersprüchen herauszukommen, vermutet Stein
(im Einklang mit Hieron., epp. 123, 15, 3 und Salvian., de gub. dei VII § 50), daß bei dem Rheinübergang
der Vandalen, Alanen, Sueben und Burgunder im Winter 406/7 die Grenzhut in Germania I. mit den Städten dieser
Provinz vernichtet wurde, daß aber die Eindringlinge dem Niederrhein fernblieben und die dortige militärische
Organisation keinen Schaden erlitt, daß schließlich Gundahar und seine Burgunder, als sie mit dem Usurpator
Constantinus ein foedus eingingen, ihre Landnahme lieber in der unversehrten Germania II. als in der mit Feuer und
Schwert verwüsteten Germania I. vollzogen. Dieser Annahme verleiht Stein u. a. eine wesentliche Stütze auch
dadurch, daß nach der Textbereinigung Dieterichs bei Olympiodor (frg. 17, FHG IV 61), wo dieser z. J. 411 die von
Gundahar bewerkstelligte Erhebung des Gegenkaisers Jovinus erzählt, auf keinen Fall die Rede von
Mainz ist, sondern ganz unzweideutig von einem in Germania II. gelegenen Orte Mundiaco
(ἔν Μουνδιακῷ τήzi;σ
ἑτέςασ Γεςμανίασ). Die Teilung der Germania
I. aber unter zwei Limitan-duces neben dem comes Argentoratensis und das gleichzeitige Fehlen eines dux Germaniae II.
erklärt Stein durch die weitere Vermutung, daß spätestens 413 die limitanei von Untergermanien
rheinaufwärts verschoben worden seien, wobei ihr Kommandant zum dux Mogontiacensis geworden sei, während der
den beiden Limitankommandanten übergeordnete comes Argentoratensis der Befehlshaber von comitatenses gewesen sein
müßte, die zur Verstärkung des geschwächten Grenzschutzes in Germanien, Belgien und Maxima
Sequanorum garnisonierten.
S.197 Die gleiche Sachlage, wie hier, daß sich mit einem Wechsel in der minuziösen Auslegung weniger Quellenstellen der gesamte Gang der Ereignisse zu wandeln scheint, wiederholt sich auch in der Kontroverse zwischen H. Zeiß und L. Schmidt ( 676). Wie ich im Vorjahre berichtet habe, hat nach der These von Zeiß die Ostgotenherrschaft nordwärts niemals auf Maxima Sequanorum und Raetia II. übergegriffen. Dem gegenüber spitzt nunmehr Schmidt die Frage auf die Entscheidung zu, ob man das Zeugnis des Agathias (I, 6), wonach die Alamannen von Theoderich tributpflichtig und untertänig gemacht worden wären, gänzlich verwerfen darf oder nicht lieber doch zum Teile zu halten versucht, obwohl die Angabe in einem latenten Widerspruch zu Prokop (bell. Goth. I, 13) steht und besonders mit der zeitgenössischen Überlieferung (Cass., var. II, 41; ib. III, 50; Enn., Panegyricus § 72) nicht ohne weiteres in Einklang zu bringen ist. In diesem Sinne gibt Schmidt seinem Widerpart insoweit recht, als auch er Maxima Sequanorum zum größten Teile als burgundischen Besitz ansieht, der für die Gotenherrschaft ausfällt. Andrerseits möchte er aber die Agathias-Stelle mit der Mutmaßung retten, daß Raetia II. wenigstens westlich der Iller gotisch gewesen wäre, obgleich die spätrömische Provinz dieses Namens, wie Zeiß mit Recht hervorhebt, von der Iller aus ostwärts lag. Auf diese Weise gelangt Schmidt zu folgendem Bild der Ereignisse. Als Chlodowech um 502 nach dem Burgunder- und Westgotenkrieg auch das bis dahin noch unabhängige Land der Alamannen zu unterwerfen sich anschickte, riefen diese den Schutz Theoderichs an. Verhandlungen hätten zu dem Ergebnis geführt, daß der Gotenkönig die auf sein Gebiet übergetretenen alamannischen Flüchtlinge in einer entfernten Provinz (vielleicht in Pannonien) ansiedelte und die rätischen Alamannen als Föderaten annahm, während sich Chlodowech mit der Besetzung des Raurakerlandes begnügte und das übrige schweizerische Alamannenland seinen neugewonnenen burgundischen Bundesgenossen überließ. Dabei habe der alamannische Besitz in Raetia II. damals wahrscheinlich schon an der Iller an die Bayern gegrenzt, die ja nach der Meinung von Schmidt um 508 ebenfalls als Föderaten durch Theoderich südlich der Donau angesiedelt worden sein sollen. Trotz dieser Darlegungen hält H.
Zeiß (
677) an seiner früheren Beurteilung des Agathias fest und bestreitet
erneut, daß das Flachland nördlich der Alpen ein Teil des ostgotischen Reiches gewesen sein könnte. Er
wendet sich dabei vor allem gegen die jüngsten Ausführungen von B. Eberl (
405) und betont zunächst, daß ein Hinaufrücken der
alamannischen Landnahme östlich der Iller weit über die Mitte des 5. Jhds. nicht zu rechtfertigen sei, wenn
auch in diesem Jhd. bereits die alamannischen Ursiedlungen, d. h. in erster Linie die großen ing-Dörfer,
entstanden sein mögen. Dann diskutiert er bis ins kleinste das weitere Problem, ob dem bei Cass. bezeugten dux
Raetiarum tatsächlich auch Raetia II. (von den Alpen bis zur Donau) unterstanden habe. Nach seiner umsichtigen
Beweisführung, die mir zwingend erscheint, scheiden für die Lösung dieser Frage die oben bei Schmidt
erwähnten Quellenstellen überhaupt aus. Denn bei den Alamannen des Ennodius handelt es sich um einen
Volksteil, der in ein ostgotisches Grenzland verpflanzt wurde; die Alamannen von var. II, 41 bestätigen die Angaben
des Agathias keineswegs, sondern sind Schutzflehende, die Theoderichs Vermittlung gegen Chlodowech anrufen, der durchaus
als der Herr ihres Volkes erscheint. Es bleibt also völlig im unklaren,
S.198 ob das Alpenvorland zum Ostgotenreiche gehörte. Dasselbe gilt auch für die Erwähnung eines Durchzugs von Alamannen durch Noricum (var. III, 50), so daß die Entscheidung ausschließlich von der Bestallungsformel des dux Raetiarum in var. VII, 4 (vgl. I. 11) abhängig ist. Nun scheine es kein Zufall, daß der Wortlaut der Formel durchgängig in Ausdrücken spricht, die an Wendungen gemahnen, die bei den Befestigungen am Nordrande Italiens auftreten. Wenn aber danach die Kanzlei »Rätien« ähnlich wie die oberitalischen Stützpunkte bewerte, so folge schon daraus, daß dieses Rätien sich nicht bis an die Donau erstreckt haben kann. Vielmehr lasse der enge Aufgabenbereich des dux Raetiarum (Sicherung des Landes, Sorge für Manneszucht unter den Truppen und Kontrolle über den Einlaß von Germanen in die Provinz) und vor allem sein verhältnismäßig bescheidener Rang (spectabilis und nicht illustris) deutlich erkennen, daß es sich dabei um einen ostgotischen Grenzkommandanten im gebirgigen Teile von Rätien, d. h. in Raetia I., gehandelt haben muß, wie auch sonst keine einzige Quelle dafür spreche, daß Theoderich jemals seine Macht im Alpenvorland geltend gemacht oder formelle Ansprüche auf Raetia II. erhoben hätte.Von der Reichsgründung Theoderichs zurück
auf den aquitanischen Boden des westgotischen Brudervolkes führt uns der Beitrag von F. Lot (
675). Wie vor vier Jahrzehnten bereits einmal Ch. Lécrivain, sucht Lot
die Vita Bibiani (MG. SS. rer. Merov. III, 94 ff.) um einer unter dem Westgotenkönig Theoderich I. oder II.
spielenden Episode willen (capp. 4--6) als ein brauchbares und glaubwürdiges Stück Überlieferung zu
erhärten, das im Gegensatz zu den bekannten laudationes barbarorum bei Salvianus und Orosius geeignet sei, die
»humanité« der westgotischen Herren von Aquitanien ins rechte Licht zu rücken. Zwar will Lot die
Erzählung nicht mehr, wie sein Vorgänger, auf die westgotische Landnahme unter Theoderich I. beziehen, um
daran zu illustrieren, mit welcher Grausamkeit damals der Grundsatz der hospitalitas durchgeführt worden wäre;
sondern Lot denkt an die erste Steuererhebung in Aquitanien durch Theoderich II., auf die schon der terminus
iniunctio in der Vita (c. 4) hinwiese; sie sei zu einem Zeitpunkt erfolgt, an dem Theoderich das foedus
mit dem Römischen Reiche gebrochen hatte und als unabhängiger Herrscher den Steuerertrag unter den gleichen
Bedingungen eingetrieben habe, die für die Landesteile des imperium galten. »A l'avance on pouvait être
sûr que les rois barbares et leur entourage, avide et brutal, ne déploieraient pas moins de rigueur
à l'égard des provinciales contribuables que le fisc impérial.« Nun stünde aber einer
solchen Auslegung im Wege, daß der Herausgeber B. Krusch die Vita als ein karolingisches Elaborat erwiesen zu
haben glaube, das vom Ende des 8. oder aus dem Anfang des 9. Jhds. stamme und dessen dürftiger Inhalt keinen
Glauben verdiene. Deshalb ist Lot mit Eifer und Geschick bemüht, die von Krusch für seine These beigebrachten
Einzelgründe zu zerschlagen, um statt dessen eine Entstehungszeit von 520/30 wahrscheinlich zu machen, in welche
Zeitspanne er bezeichnenderweise im Anschluß an Kurth auch die Vita Genovefae verweist. Ich lasse dahingestellt
sein, inwieweit diese Widerlegung geglückt ist, möchte aber betonen, daß gerade das Hauptargument
Kruschs von Lot nirgends auch nur gestreift wird, obwohl es aus dem Munde des besten Kenners der merovingischen
Latinität wohl doppelt schwer wiegt: Sermo (sc. vitae Bibiani) aevo Merovingico attribui non potest, sed ad
Carolingicum referendus.
S.199 Mit diesen Forschungen ist die Jahresliteratur erschöpft, soweit sie unmittelbar unter unseren Berichtsabschnitt fällt. Es erübrigt sich nur noch, auf eine Veröffentlichung von M. Lintzel ( 678) zu verweisen, der in Fortführung früherer Studien (vgl. Jberr. 3 f.) die Verfassungsverhältnisse des Sachsenstammes untersucht. Anknüpfend an den Gegensatz zwischen der späteren sächsischen Gaueinteilung (8.--11. Jhd.) und der vom fränkischen Eroberer eingeführten Grafschaftsverfassung vertritt er die Annahme, daß die späteren Sachsengaue im wesentlichen auf altsächsische Einrichtungen zurückgehen und als Überbleibsel der vorfränkischen Zeit im Sinne der Vita Lebuini antiqua interpretiert werden dürfen. Von diesem Ansatzpunkte her postuliert er für das Sachsenvolk von altersher »drei Arten von politischen Organismen«: Gau, Provinz und Stammesverband, die zum mindesten in Kriegsführung und Vertragsschluß selbständig auftreten konnten. Provinzen habe es nur drei gegeben, da Nordalbingien zu Ostfalen gehört habe, und Ostfalen sei am lockersten, Westfalen am festesten staatlich »konzentriert« gewesen. Die »Souveränität des Stammesstaates« habe die Markloer Vertreterversammlung ausgeübt, deren Abordnungen in den Gauversammlungen gewählt worden seien, die nach Analogie der sonstigen germanischen Verfassungen vorausgesetzt werden müßten. Dagegen wären die zuerst bei Beda namhaft gemachten satrapae die Vertrauensleute der Provinzen gewesen; zwar hätten sie an sich an der Spitze der Gaue gestanden; aber da sie gemäß ihrem »Urbild«, den Provinzialbeamten des persischen Großkönigs, von einer »über den Gauen stehenden Instanz ernannt« worden sein müßten, so sei ihre Erhebung wahrscheinlich auf den Landtagen der Provinzen erfolgt. Die Betrachtung im ganzen, die für die Frühzeit bestenfalls einige unsichere Vermutungen abwirft, wirkt wie eine etwas gezwungene Nachlese zu den ertragreichen und wohlabgewogenen Ausführungen von A. Hofmeister über die Jahresversammlung der alten Sachsen zu Marklo (Hist. Z. 118, 189 ff.), nur daß mir Lintzel dabei den Gefahren nicht ganz entgangen zu sein scheint, vor denen Hofmeister ausdrücklich gewarnt hatte: die Verhältnisse der Frühzeit nicht an den für diesen Zweck überscharfen Begriffen moderner Staats- und Verfassungstheorie zu messen und die karolingischen Zustände nicht allzu vorbehaltlos nach rückwärts zu übertragen. Est quaedam etiam nesciendi ars et scientia. |
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