I. Allgemeine und Deutsche Geschichte des 19. Jhds.

Der 7. Band der Propyläen-Weltgeschichte ( 956), der die Zeit von 1789 bis 1848 umfaßt, ist unter sechs verschiedene Bearbeiter aufgeteilt. Die politische Geschichte des Zeitalters behandeln Alfred Stern (Die französische Revolution und ihre Wirkung auf Europa), Franz Schnabel (Napoleon) und Friedrich Luckwald (Restauration). Geistes- und Wissenschaftsgeschichte sind besonderen Kapiteln vorbehalten. Oskar Walzel schildert Klassizismus und Romantik als europäische Erscheinungen, Heinrich Herkner die wirtschaftlich-sozialen Bewegungen. Eine Weltgeschichte, die aus der Zusammenarbeit verschiedener Gelehrter entsteht, wird niemals eine einheitliche Wirkung erreichen, obwohl diese hier von dem Herausgeber des Gesamtwerkes, Walther Goetz, angestrebt ist, der darum allen Bänden eine Einleitung mitgibt, um diese Einheit stärker zu betonen. Die einzelnen Beiträge wirken mehr durch sich selbst. Der europäische Gesichtskreis tritt stark in den Vordergrund, vielleicht stärker, als es dem Ganzen gut ist. Von Amerika ist kaum die Rede und die Revolution der südamerikanischen Staaten ist dem 9. Bande zugewiesen. Erst wenn das Gesamtwerk erschienen ist, wird sich ein schlüssiges Urteil auch über die einzelnen Teile bilden lassen. Die Beiträge zu dem vorliegenden Bande stehen auf der Höhe der Forschung und sind in einem sachlichen und ruhigen historischen Stil geschrieben, der sich von allen modernen psychologischen Künsten historischer Belletristik fernhält. Auf Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden, die Namen der Mitarbeiter sprechen für sich, nur der Beitrag von Herkner darf besonders hervorgehoben werden, weil er mit großer Sachkenntnis eine Bewegung darstellt, die in der Geschichte des 19. Jhds. oft zu kurz kommt.

Alle Mängel, die einer unter mehrere Bearbeiter geteilten Darstellung notwendig anhaften, fehlen dem Werk von Schnabel ( 957), dessen erster Band vorliegt. Bei der Ausbreitung unseres Wissens in Einzelheiten, bei der großen Zahl der vorhandenen Aktenpublikationen, Biographien und Darstellungen bedeutet es heute schon ein Wagnis, wenn ein einzelner eine deutsche Geschichte


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des 19. Jhds. schreibt, aber die Notwendigkeit, diese Aufgabe zu lösen, wird heute am wenigsten verkannt werden, und so dürfen wir hoffen, daß Schnabels Werk nicht das einzige in seiner Art bleibt. Erst dann kann ein volles und reiches Bild des 19. Jhds. entstehen, über dessen Wesen und Hauptzüge noch so wenig eine begründete und anerkannte Meinung besteht, wie vielleicht nur noch über das 16. Jhd. Schnabel hat sich durch frühere Leistungen -- es sei an die »Geschichte der neuesten Zeit« (Jberr. 4, S. 201) und an »Deutschland in den weltgeschichtlichen Wandlungen des letzten Jahrhunderts« (Jberr. 1, 1108 und S. 207 f) erinnert -- auf seine neue große Aufgabe, eine »Deutsche Geschichte des 19. Jhds.« in drei Bänden zu schreiben, hinreichend vorbereitet. Daß Schnabel dabei von der Erschließung neuen archivalischen Quellenstoffes grundsätzlich abgesehen hat, kann man billigen, wenn man den Zweck seiner Darstellung im Auge behält: eine neue Beurteilung des 19. Jhds. zu geben, das seit dem Ende des Weltkrieges nicht mehr zu unserer Gegenwart gehört, sondern sich deutlich als abgeschlossene Periode darstellt. Da Schnabel das 19. Jhd. -- wie schon seine vorerwähnten Bücher zeigen -- von 1815 bis 1918 rechnet, so daß also die französische Revolution und Napoleon noch dem 18. Jhd. zugewiesen werden, so bietet der vorliegende 1. Band, der mit den Befreiungskriegen abschließt, nur die »Grundlagen«. Darum überwiegt in diesem Bande die Betrachtung noch bei weitem: die geistesgeschichtliche Grundlegung des 19. Jhds. ist das Hauptanliegen dieses Bandes. Schnabel sieht sie mit vollem Recht im MA.; er scheut sich nicht davor, weit auszugreifen, um nicht einen einzigen Wesenszug des 19. Jhds. aus dem Leeren entstehen zu lassen. Statt einer dialektischen Behandlung der Gegensätze von MA. und Neuzeit gibt er auch hier eine geschichtliche Entwicklung der modernen Welt. Rationalismus und Atomismus, die Autonomie der Persönlichkeit, der ganze Geist des »Rechnens und Zählens«, in dem Schn. das Wesen und die Gefahr des modernen Geistes sieht, entsteht doch schon im MA., das, wie jedes Zeitalter, die Keime seiner Überwindung in sich selbst trug. Der Nominalismus zerstört die Ordnungsidee des MA. Ohne das MA. zu idealisieren, bedeutet für Schnabel die aristotelisch-thomistische Idee einer in sich ruhenden, geordneten Welt den Gipfel des MA. selbst und darüber hinaus ein Ziel unserer Gegenwart, es ist das, was an einer andern Stelle des Buches als die »katholische Idee« bezeichnet wird (S. 455). Die aristotelisch-thomistische Staatslehre wird zu der Staatslehre des Hobbes in Kontrast gesetzt, wie andererseits Burkes Auffassung vom Staate, ohne daß hier eine literarische Anknüpfung vorliegt, an sie erinnert (S. 192). Die »societas perfecta« des Thomas von Aquin erscheint als das richtige Abbild des ma.lichen Staates, das in Gegensatz tritt zu dem autonomen modernen Staat des Absolutismus. Weil die Auflösung der Einheit des MA. schon im MA. selbst beginnt, so wird die Reformation nur als eine besondere Erscheinungsform des modernen Individualismus begriffen. In dieser geistesgeschichtlichen Betrachtung verschwindet freilich der religiöse Gehalt des Protestantismus allzusehr: er erscheint in zu enger und ausschließlicher Verbindung mit dem Rationalismus. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die Grundanschauungen Sch.s wiederzugeben, um sich mit ihnen auseinander zu setzen, wie sie es verdienen. Die Ergebnisse der Historiker der letzten Generation sind gewissenhaft ausgewertet, aber auch das Altbekannte tritt in neue Beleuchtung. Diese zeigt sich fast auf jeder Seite seines Buches: es ist keine dogmatische Gebundenheit im engen Sinne, wie sie früher

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mit Recht der katholischen Wissenschaft zum Vorwurf gemacht worden ist, aber doch eben auch nicht der Glaube an den Wert und die Möglichkeit einer »voraussetzungslosen Wissenschaft«. Hier spricht ein echter Historiker, der nicht aburteilen, sondern verstehen will, auch wenn er sich in diesem Verstehen an seine eigene Überzeugung gebunden fühlt; schließlich hat ja die liberale Staats- und Geschichtsanschauung nichts anderes gewollt. Sch. hütet sich bei aller Kritik im einzelnen und im ganzen doch vor allen Formeln: »Es wäre vermessen, wollte der rückschauende Betrachter den Reichtum dieser Jahrhunderte (sc. seit dem MA.) mit einer Formel ausschöpfen, mag sie nun Fortschritt heißen oder Auflösung... Kein Menschengeist ist in der Lage, die immanente Notwendigkeit eines geschichtlichen Vorganges zu erweisen. Der Historiker jedenfalls wird in seinen Grenzen bleiben und sich bescheiden. Er wird die Motive erforschen, die beim Aufbau des europäischen Geistes wirksam gewesen sind, und er wird den Weg nachzeichnen, den die Menschheit gegangen ist bis zur Stelle, an welcher sie sich in unseren Tagen befindet.« (S. 20.) Diese Sätze werden weitgehende Zustimmung finden, zumal da das Werk diese eigenen Forderungen des Verfassers erfüllt. Dem eigentlichen Thema sich nähernd, gibt Schn. eine Schilderung des neuen Geistes und des neuen Staates im Anfang des 19. Jhds., die er auf den geschichtlichen Bedingungen aufbaut, der französischen Revolution und dem Empire und Klassizismus: in dem Staate Napoleons I. gipfelt die atomistisch-nationalistische Staatsanschauung. Die Gegenbewegung gegen den Absolutismus des modernen Staates, gegen den Atomismus und die Säkularisation des Geistes ist das Thema des Abschnittes über Herder und die Romantik, in ihrer Auffassung ist Schn. stark von C. Schmitt beeinflußt, wenn er auch dessen Beurteilung Adam Müllers als des Prototyps romantischer Zerfahrenheit und innerer Unwahrhaftigkeit nicht teilt. Schn. verwertet vielmehr Adam Müllers staats- und wirtschaftswissenschaftliche Schriften als Gegenpol gegen den Rationalismus, z. B. zeigt er sehr wirksam den Gegensatz zwischen Adam Müller und Albrecht Thaer auf ( 468 ff). Unter Vermeidung des Schubfächersystems und bei straffer Gliederung gibt Schn. ein Bild aller politischen und kulturellen Bestrebungen, mit besonderer Vorliebe der pädagogischen. Etwas zu kurz kommt die bildende Kunst, aber wir dürfen in den weiteren Bänden manche Ergänzungen erwarten. Aus dem Buche über »die Grundlegung des neuen Staates« verdient das Kapitel über den Freiherrn vom Stein besondere Hervorhebung; so viel Glanz auf diesen Mann und die von ihm getragene Reform fällt, so tritt darüber unvermeidlich das »alte Preußen« in den Schatten. Friedrich der Große wird mit besonderer Betonung wiederholt als »der Philosoph auf dem Throne« bezeichnet, um damit den Gegensatz zwischen seiner aufgeklärten Philosophie und ihrer mangelhaften Durchführung in der harten Wirklichkeit des Staatslebens zu bezeichnen: ich glaube, daß dieser Zwiespalt, den auch Meinecke in seiner »Idee der Staatsraison« in den Vordergrund gerückt hat, kein endgültiges geschichtliches Urteil begründen kann. Wenn an dieser Stelle noch ein Wunsch für die beiden anschließenden Bände ausgesprochen werden darf, so ist es der, daß sie die Erzählung der Tatsachen nicht zu sehr über der Betrachtung vernachlässigen. Das abschließende Kapitel »Die Befreiung« leitet auch in diesem eigentlich stilistischen Sinne zu dem folgenden Bande über.


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