II. Quellenveröffentlichungen.

Zu den schon in den früheren Jahresberichten besprochenen Gesammelten Schriften von Joseph Görres ist noch aus dem


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Vorjahr nachzutragen Band 11 und 12, die einen Neudruck des »Rheinischen Merkur« enthalten (Jberr. 4, Nr. 1590). Man hat einen typographisch genauen Nachdruck veranstaltet (der dadurch freilich im Format aus der Reihe der übrigen Bände herausfällt). Der Vorzug, den diese neue Ausgabe vor der originalen besitzt, besteht in einem eingehenden Namens- und Sachverzeichnis, das dem Benutzer diese Zeitschrift eigentlich erst erschließt. Es ist zu hoffen, daß der »Rheinische Merkur«, der als Organ der öffentlichen Meinung wie als wichtige zeitgenössische Quelle von der Wissenschaft noch lange nicht ausgeschöpft worden ist, auf Grund dieser Ausgabe eine erneute Beachtung erfährt. Eine Neuausgabe, wie sie hier vorliegt, ist jeder andern Form des Neudrucks (trotz des hohen Preises!) vorzuziehen, da sie den echten Eindruck der Originalausgabe getreu widerspiegelt und auch das Zitieren erleichtert, weil die Seitenzahlen genau mit dem Original übereinstimmen. Auf genaues Zitieren kommt es aber bei historischen Arbeiten sehr an. Wer etwa die Revolutionsschriften von Görres in der neuen Ausgabe benutzt (Bd. I der Ges. Schriften, s. Jberr. 4, 204), der kommt sofort in Verlegenheit, sobald er die einschlägige Literatur über den jungen Görres (Hashagen, K. A. von Müller usw.) benutzt, die sämtlich nach den Seitenzahlen der alten seltenen und sehr schwer erreichbaren Zeitschriften zitieren. Es muß daher als allgemeine Forderung für solche Neudrucke des politischen Schrifttums ausgesprochen werden, daß sie die Seitenzahlen des ersten Druckes am Rande angeben und so auch Zitate nach der Originalausgabe an Hand der Neudrucke sich feststellen lassen. -- Von Görres Ges. Schriften ist im Berichtsjahr erschienen der Band 13 ( 974), Günther Wohlers ist der Herausgeber. Die in diesem Bande veröffentlichten Schriften, Aufsätze, Aufrufe und Denkschriften umfassen einen wichtigen Abschnitt von Görres' Leben und zugleich der preußischen Geschichte: die Zeit nach dem Verbot des »Rhein. Merkur«. In diese Zeit fällt Görres' Vertreibung aus Koblenz und sein Bruch mit der preußischen Regierung, zugleich auch seine Rückwendung zum Katholizismus. An die wichtigsten Schriften dieser Zeit sei erinnert: »Teutschland und die Revolution« (1819), wozu der erst nach Görres' Tode veröffentlichte Aufsatz »Über das Verhältnis der Rheinlande zu Preußen« die Keimzelle bildet (S. 496 ff.); »Europa und die Revolution« (1821); seine Verteidigungsschrift, »In Sachen der Rheinprovinz und in eigener Angelegenheit« (1822) und endlich »Die Heilige Alliance und die Völker auf dem Kongresse in Verona« (1822). In diese Zeit fällt auch die »Koblenzer Adresse« (1817), deren Übergabe am 12. Januar 1818 an Hardenberg die Unzufriedenheit des Königs und der Gegner Hardenbergs erregte.

Die Marx-Engels Gesamtausgabe ( 1491) des Marx-Engels-Instituts in Moskau ist auf 42 Bände berechnet, von denen die erste Abteilung (enthaltend alle philosophischen, ökonomischen, historischen und politischen Werke mit Ausnahme des »Kapitals«) 17 Bände, die zweite Abteilung (das »Kapital« und alle Vorarbeiten dazu) 13 Bände umfassen sollen. Die dritte Abteilung ist den Briefen vorbehalten. Ein Generalregister für alle Teile wird sich als vierte Abteilung anschließen. Großzügigkeit läßt dieser Plan nicht vermissen; freilich, wenn man sich die lange Reihe von Bänden vorstellt, kann es einem gehen, wie es Marx selbst bei dem Blick auf die »20 Riesenfolianten des Duns Scotus« beschreibt: »Ihr braucht die Bücher nicht zu lesen; schon ihr abenteuerlicher Anblick rührt euer Herz, schlägt eure Sinne, wie etwa ein gotisches Gebäude. Diese naturwüchsigen


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Riesenwerke wirken materiell auf den Geist; er fühlt sich erdrückt unter der Masse, und das Gefühl der Gedrücktheit ist der Anfang der Ehrfurcht.« (1. Abt. 1. Bd., 1. Halbbd. S. 181.) -- Vorläufig liegen freilich erst sechs Bände vor (1. Abt. Bd. 1, 1. u. 2. Halbbd. und Bd. 2, 3. Abt. 1.--3. Bd). Die ersten beiden Halbbände enthalten alle Schriften von Marx bis zum J. 1844, in dem die Bekanntschaft und die Zusammenarbeit mit Engels beginnt; da dem zweiten Halbbande noch 89 Briefe und Dokumente beigegeben sind (darunter 14 Briefe von Marx), so liegt hier das gesamte Material zur Jugendgeschichte von Marx vor. Ähnlich ist auch mit den Jugendschriften Engels verfahren (Bd. 2, 1930), auf die noch zurückzukommen sein wird. Unter den Briefen anderer an Marx sind besonders aufschlußreich die Briefe des Vaters, Bruno Bauers und Arnold Ruges. Die Kenntnis der bisher bekannten Jugendschriften wird sehr erweitert, die Nachlaßausgabe von Mehring vollkommen ersetzt. Außer den Vorarbeiten zu Marx' Dissertation (diese selbst schon bei Mehring veröffentlicht) erscheinen hier mehrere bisher nicht wiederabgedruckte Aufsätze aus der »Rheinischen Zeitung«, unter denen »Die Rechtfertigung des Moselkorrespondenten« als der wichtigste hervorzuheben ist. Es steht jetzt fest, daß dieser Artikel, dessen Urheberschaft lange umstritten war, tatsächlich von Marx selbst stammt; er ist vor allem von biographischen Interesse. In der dritten Abteilung der Marx- Engels Gesamtausgabe ist bisher der Briefwechsel zwischen Marx und Engels vorweggenommen (Bd. 1, 1929, Bd. 2 u. 3, 1930). Der bedeutende historische Wert dieses Briefwechsels braucht hier nicht mehr ausdrücklich hervorgehoben zu werden. Hermann Oncken hat beim Erscheinen der ersten Ausgabe den historischen Gehalt dieses Briefwechsels in einem eindringlichen Aufsatz aufgezeigt (wiederabgedr. in seinen »Histor.-politischen Aufsätzen und Reden«, 2, 323--379). Seine Einschätzung des Briefwechsels besitzt auch heute noch volle Gültigkeit, obwohl sich jetzt gezeigt hat -- Rjasanows Einleitungen legen es eingehend dar --, daß die Bernsteinsche Ausgabe an Gebrechen mancherlei Art litt, an Kürzungen, Streichungen und stilistischen Änderungen und vor allem an einer großen Unvollkommenheit im Abdruck der Briefe. Man wird immerhin berücksichtigen müssen, daß Bernstein als Vertreter einer im politischen Kampfe stehenden Partei diese Veröffentlichung machte, die (wie auch Oncken schon hervorhebt) das dogmatische Bild Marxens historisch auflöste und auch manche Menschlichkeiten Marxens und seiner Parteigenossen ans Licht brachte. Über dieses Verfahren nachträglich zu rechten, erübrigt sich; die Erstausgabe des Briefwechsels ist, eben um dieser willkürlichen Eigenmächtigkeiten willen, zu einem Dokument der Parteigeschichte der Sozialdemokratie geworden. Es genügt hier festzustellen, daß selbstverständlich für die wissenschaftliche Forschung fortan nur die neue Ausgabe in Frage kommt. Noch fehlt der abschließende vierte Band des Briefwechsels mit dem notwendigen textkritischen Apparat für alle vier Bände. Inzwischen ist nun freilich der verdiente Herausgeber D. Rjasanow, ein Marxforscher von unbestrittenem Ruf, seines Amtes als Leiter des Marx-Engels-Instituts in Moskau entsetzt und verbannt worden. Wieweit seine Nachfolger die Gaben und den Willen haben, die Marx-Engels-Gesamtausgabe in streng wissenschaftlichem Geiste fortzusetzen, muß vorerst dahingestellt bleiben.

Wenn man von dem Briefwechsel Marx-Engels zu Johann Gustav Droysens Briefwechsel ( 986) übergeht, so kommt man in eine ganz andere Welt,


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und doch sind es die gleichen Jahrzehnte des vorigen Jhds., in denen diese Briefe geschrieben sind. Der Marx-Engels Briefwechsel weist in eine zwar ungewisse, aber mit leidenschaftlichem Willen ergriffene Zukunft: alles ist auf ein großes Ziel abgestellt; auf die Eroberung des Staates durch das Proletariat, auf die Organisation und die politische Erziehung der Massen und nicht zuletzt auf die wissenschaftliche Fundierung dieses weltgeschichtlichen Prozesses. Auch in Droysens Briefwechsel waltet ein politischer Wille: die deutsche Einheitsfrage beherrscht Droysens Denken seit den Tagen des »Offenen Briefes«, der den jungen Kieler Professor zuerst auf die politische Bahn brachte. In der Revolution von 1848 hat er als Abgeordneter Schleswig-Holsteins der Frankfurter Nationalversammlung angehört und in ihr -- wenn auch nicht in vorderster Reihe -- für die deutsche Einheit mitgekämpft. Droysen kämpfte beharrlich und zäh gegen die Reaktionszeit in Preußen: als er den Grundgedanken seiner preußischen Geschichte, den Beruf Preußens zur Einigung Deutschlands, konzipierte, tat er es gegen die damals herrschende Richtung in Preußen; ihm wurde die Benutzung der Archive erschwert, wie er noch nach vielen Jahren in bitterer Erinnerung feststellt (Brief vom 3. 3. 1884 an Heinrich Ulmann, gedr. Forsch. z. Brand.-Preuß. Gesch. 42, 272 s. Nr. 987). Das politische Interesse, das in der Revolution und in den 50er Jahren seinen Höhepunkt erlebte, erfüllt Droysen doch nicht ganz und nicht allein. Mit der Erreichung seines Zieles, der Gründung des Deutschen Reiches, hört es fast ganz auf, ja, eigentlich schon seit 1864, als er sich der Führung Bismarcks anvertraut hatte. Es ist schon oft beobachtet worden, wie dieses restlose Vertrauen auf Bismarcks überlegene Staatsmannschaft dem deutschen Bürgertum zum Schicksal geworden ist, das dadurch verlernte, sich politisch verantwortlich zu fühlen und politisch selbständig zu handeln (vgl. hierzu O. Hintze, Ztschr. f. Staatswiss. 88, 18 ff.). Droysen lebte mit gleicher Stärke wie in der Politik in der Wissenschaft und Kunst. Über die Musik spricht er in reizvollen Briefen mit Felix Mendelssohn-Bartholdy, über religiöse Fragen mit seinem Verleger Friedrich Perthes, über philologische mit Friedr. Gottlieb Welcker. Seine innersten Überzeugungen spricht er seinem Jugendfreund Albert Heydemann aus. Es können nicht einmal alle wichtigen Korrespondenten hier einzeln genannt werden. Der Briefwechsel mit Wilhelm Arendt gibt wichtige politische Aufschlüsse; dieser Professor des Staatsrechts an der Universität Löwen, ein Jugendfreund Droysens und Renegat, konnte ihm viele Nachrichten aus der internationalen Diplomatie mitteilen, die Droysen an die preußische Regierung weitergab. Aus der Frankfurter Zeit interessieren namentlich Droysens Briefe an den preußischen Unterstaatssekretär Hans von Bülow, in denen Droysen vorschlägt, daß Friedrich Wilhelm IV. die auswärtige Politik ganz und rückhaltlos nach Frankfurt verlege, in die Hand der Reichsgewalt niederlege (I, 443 f.). Die lange Antwort, die Droysen darauf erhielt, stammt von Heinrich Abeken (I, 448 ff., Schreiben vom 16. 7. 48): sie gibt tiefe Einblicke in die Auffassung der preußischen Regierung. Welche große Bedeutung der Briefwechsel D.s für die Erkenntnis seiner Geschichtswissenschaft besitzt, hat Friedrich Meinecke in einer feinsinnigen Untersuchung dargelegt. Droysens deutschen Staatsgedanken hat O. Hintze mit dem Material des Briefwechsels neu und tiefschürfend erörtert (Ztsch. f. Ges. Staatswiss. Bd. 88, 1 ff.). Ulmann geht D.s Tätigkeit als Abgeordneter des Frankfurter Parlaments nach ( 987). Mommsen, Herzfeld und Dehio heben

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in längeren Besprechungen andere wichtige Seiten dieses umfangreichen Briefwechsels hervor. An den Vergleich mit dem Marx-Engels-Briefwechsel anknüpfend sei noch gesagt: für Marx und Engels blieb das Menschliche so sehr Nebensache, daß es über einer rein menschlichen Frage einmal fast zum Bruch zwischen ihnen gekommen wäre (Marx-Engels-Briefwechsel, 3, S. 117 ff.). Politik war das einzige Motiv ihres brieflichen Verkehrs. Für Droysen stand aber das Menschliche ganz im Vordergrund, aus gesellschaftlicher Aufgeschlossenheit schöpft dieser Briefwechsel seine innere Kraft; an Albert Heydemann schreibt Droysen: »Ich kann nicht sagen, was mir Menschenherzen fehlen; ich wenigstens kann sie nicht entbehren, ich habe das Bedürfnis nicht einsam zu sein. Es tut weder ein Weiberherz noch der Kinder Liebe, es bleibt da ein weites χάσμα das ausgefüllt sein will« (I, 321). Droysen und sein Kreis lebten noch in der Vorstellungswelt des Neuhumanismus und Idealismus; von Marx' und Engels' Materialismus ist er völlig unberührt (vgl. hierzu Hintze a .a. O. 17). In dem Vergleich der beiden Briefwechsel tritt uns das Doppelgesicht des 19. Jhds. entgegen.

Nicht von der gleichen weittragenden Bedeutung wie diese Publikationen ist die Veröffentlichung von Bergsträsser ( 984), obwohl auch sie neues und wichtiges Material bringt. B. teilt Briefe und Aufzeichnungen von vier Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung mit: Ambrosch, Rümelin, Hallbauer und Blum. Am umfangreichsten und aufschlußreichsten ist das Tagebuch von Hallbauer, das einen Einblick in die Verhandlungen der Klubs gibt, zumal der Fraktion der Westendhall, der Hallbauer angehörte. Damit ist zum erstenmal die Möglichkeit geboten, das Entstehen der Fraktionsbeschlüsse kennenzulernen. Auch Ambrosch, der seine Partei oft gewechselt hat, da die Parteien selbst noch in dauernder innerer Wandlung begriffen waren, gibt in seinen Briefen an Olfers ein Bild dieser fortwährenden Spaltungen und Neubildungen. Rümelins Briefe an seine Frau ergänzen seine schon bekannten Berichte. Blums Briefe an seine Frau, von denen einige schon in der Biographie von Hans Blum mit willkürlichen Entstellungen und Kürzungen verwendet waren, erscheinen hier in vollständigem und berichtigtem Abdruck. Für die intimere Kenntnis des Frankfurter Parlaments ist die Sammlung wertvoll. -- Das Verständnis für die Parteigeschichte und die Entstehung des politischen Denkens und Wollens kann aus vielen bisher unbeachteten Quellen großen Gewinn ziehen: so hat Näf ( 999) die 53 Sympathieadressen gesammelt, die während des Sonderbundkrieges der eidgenössischen Tagsatzung in Bern aus aller Welt, namentlich aus Deutschland (der deutsche Südwesten ist dabei weitaus am stärksten vertreten), ferner aus London, Paris und Brüssel gesandt wurden. Obwohl sich diese Adressen oft wiederholen, rechtfertigt sich die Mitteilung des gesamten Materials, weil es nur so möglich ist, die Selbständigkeit oder Abhängigkeit der Adressenschreiber genau zu beurteilen. Im ganzen gewinnt man den Eindruck, daß sich der Adressensturm ganz spontan entwickelt hat und die zahlreichen Übereinstimmungen der Adressen mehr auf eine einheitliche Stimmung als literarische Beeinflussung zurückgehen. In seiner Einleitung untersucht Näf das Verhältnis der Schweiz zur deutschen Revolution 1847--1849. Die Schweiz hat in dieser Zeit vielen politischen Flüchtlingen ein Asyl gegeben.


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