III. Einzeldarstellungen 1815--1850.

Der Kampf um Metternich, der im Anschluß an Srbiks Werk entbrannt war, nimmt ruhigere Formen an; ein Rückzugsgefecht


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des kürzlich verstorbenen verdienstvollen ungarischen Historikers E. v. Wertheimer ( 963) endete mit dessen klarer Niederlage auf diesem Felde. Eine erfolgreiche Förderung der durch Srbik aufgeworfenen, aber keineswegs endgültig entschiedenen Probleme läßt sich von den Einwänden, die Wertheimer vorbrachte, nicht erwarten; dagegen bedeutet die Besprechung A. O. Meyers ( 963) ein beachtenswertes Zeugnis dieser inneren Auseinandersetzung, die dem Gehalt und Reichtum des Srbikschen Werkes adäquat ist. Auch die englische Geschichtsschreibung nimmt den von Srbik gegebenen Anstoß bereits auf. Woodward ( 962) vertieft das Charakterbild Metternichs, indem er es in Vergleich mit dem Guizots stellt. (Guizot ist auch ein eigener Beitrag des Buches gewidmet.) In einzelnen Kapiteln behandelt er Metternichs politische »Prinzipien« und ihre Anwendung auf das österreichische Problem, die deutsche und die italienische Frage im wesentlichen im Sinne Srbiks unter Ablehnung der von Bibl dagegen erhobenen Einwendungen. Im dritten Beitrag des Bandes über die katholische Kirche im 19. Jhd. werden deutsche Verhältnisse nicht berührt. -- Von allen politischen Verträgen, welche nach 1815 geschlossen worden sind, hat die »Heilige Alliance« bis jetzt am wenigsten Verständnis gefunden; sie aus den geistigen Voraussetzungen ihrer Zeit zu erklären und damit die Fremdheit ihrer Erscheinung aufzuheben, haben sich Bühler und Herzfelder ( 961) zur Aufgabe gesetzt. Beide kommen übereinstimmend zu dem Urteil, daß die Bedeutung und aktive Mitwirkung der Frau von Krüdener (P. Kaufmann, s. Nr. 977, S. 185, nennt sie geradezu »die Mutter der heil. Alliance«) bei der Entstehung und Formulierung der Akte selbst bisher überschätzt worden ist, und daß vielmehr anderen Persönlichkeiten wie Jung- Stilling, Novalis und vor allem dem Philosophen Franz von Baader eine entscheidende Bedeutung zukommt. Bühler weist auch auf die religiöse Entwicklung Alexanders I. vor 1812 und auf die Einflüsse der Russen Kotscheleff und Galizin hin. Namentlich Bühler, dessen Forschungen breiter angelegt sind und daher auch tiefer dringen, weist überzeugend den Einfluß der organischen, religiös fundierten Staatslehre Baaders auf Alexander I. nach, zumal durch seine dem russischen Kaiser und preußischen König 1814/15 überreichte Denkschrift: »Über das durch die französische Revolution herbeigeführte Bedürfnis einer neuen und innigeren Verbindung der Religion mit der Politik« (erschienen 1815). Frau von Krüdeners Einfluß bleibt daneben nur rein persönlich; eine politische Einwirkung ist nicht nachweisbar und unwahrscheinlich. C. Brinkmanns Vermutung (Hist. Ztschr. 120, S. 84), daß Sturdza der Verfasser der Akte sei, wird widerlegt (S. 42 f.). Bühler und Herzfelder konnten leider noch nicht die Ergebnisse der Forschungen Näfs (s. Jberr. 4, S. 203) benutzen, der den Einfluß Metternichs auf die politischen Formulierungen der Akte nachgewiesen hat. -- Der zweite Pariser Frieden (20. Nov. 1815) hatte den Franzosen eine Kriegsentschädigung von 700 Millionen Francs und eine fünfjährige Besetzung französischen Gebietes auferlegt. Wie diese finanziellen Verpflichtungen Frankreichs durch direkte Zahlungen, durch innere Anleihen und mit Hilfe von Anleihen auf dem internationalen Kapitalmarkt durch Vermittlung der englischholländischen Bankfirma Baring & Hope geleistet worden ist, beschreibt das Buch von Nicolle ( 960). Wir bekommen einen wertvollen Einblick in die internationalen Finanztransaktionen nach dem Pariser Frieden und in das Verhalten der einzelnen Staaten zu den Plänen der französischen Regierung. Bekanntlich

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gelang es Frankreich schon bis Dezember 1818 seine Verpflichtungen soweit zu erfüllen, daß auf dem Kongreß von Aachen die Besetzung vor der festgesetzten Frist aufgehoben wurde. Der Führer der Besatzungstruppen, Wellington, war der zäheste Gegner der französischen Anleihepolitik, auch Österreich und Preußen hielten sich zurück, Rußland trat schließlich als Vermittler auf. Das Buch beruht auf aktenmäßiger Grundlage und behandelt die Frage, soweit man erkennen kann, erschöpfend. Nach der abschließenden Aufstellung (S. 186) ergaben sich außer der Kriegsschuld noch eine Reihe anderer Verpflichtungen: z. B. wurden die Besatzungskosten auf 479 Millionen berechnet. Alle diese Belastungen (einschließlich der Kriegskosten für die Invasion von 1815!) ergeben nach der Berechnung Nicolles die Summe von 1,905 Milliarden Francs. Selbst unter Berücksichtigung des veränderten Geldwertes können diese Lasten nach heutigen Begriffen als durchaus erträglich gelten. Der Vergleich mit den heutigen Tributzahlungen Deutschlands gibt auch dem Historiker erst den rechten Maßstab für diese Tributzahlungen Frankreichs nach dem 2. Pariser Frieden. Obwohl dieser Vergleich nahe liegt und keineswegs nur politisches Interesse besitzt, vermeidet ihn der Verfasser sorgfältig: sonst würden seine Schlußfolgerungen anders lauten. Nicolle meint, Frankreich sei im J. 1818 an der äußersten Grenze der finanziellen Opfer angelangt. Er zitiert die Worte des französischen Gesandten am preußischen Hofe, Bonnay (1817) »nous sommes un malade que l'on saigne au blanc, et elles (sc. die Verbündeten) le médecin qui consulte notre pouls pour faire arrêter le sang avant que nous expirions« (S. 190). Zwei Seiten später muß er freilich gestehen, daß am Anfang 1818 sich die Finanzen in einem Gedeihen (prosperité) und Ordnung befanden, wie sie seit langem in Frankreich unbekannt waren. Dieser und der Schlußsatz: »Quelques années de paix, et celle-ci (sc. Frankreich) aura augmenté sa production agricole et industrielle, recouvré sa richesse, repris son rang parmi les grandes nations«, lassen erkennen, daß sich Frankreich sehr schnell von den auferlegten Lasten erholte, wenn es dazu auch einer kurzen und starken Anstrengung bedurfte: das Verdienst, diese Leistungen als Staatsmann und Politiker bewirkt zu haben, kommt dem Ministerpräsidenten Richelieu zu. Dieses selbe Frankreich versteht 100 Jahre später das saigner au blanc besser als die damaligen Verbündeten. Schon 1922, (also auch nach drei Jahren) hat Deutschland nach einer mittleren Schätzung 25 Milliarden Goldmark gezahlt (s. Salin, Die deutschen Tribute, S. 95). Denkt man erst an die Zahlen, die der Youngplan Deutschland auferlegt (116,922 Milliarden in 60 Jahren zahlbar, s. Salin, a. a. O., S. 442 f.), so verblassen dagegen die Tribute des 2. Pariser Friedens, die Nicolle »convoitises« nennt (S. 189). Abgesehen von diesem fundamentalen Mangel an historischer Perspektive enthält das Buch auf seinem eigenen Gebiet eine Fülle urkundlicher Belege, deren Studium auch dem deutschen Historiker nur nützlich sein kann.

Als einen Beitrag zur Geschichte der Reaktion bezeichnet Kaufmann ( 977) seinen Aufsatz über »Max Schenkendorffs Kampf um ein Amt am Rhein«. Die Schwierigkeiten, die dem Dichter durch die Berliner Ministerien gemacht wurden, zeigen an einem Beispiel, wie stark sich der Einfluß der Reaktion schon gleich nach dem Friedensschluß geltend machte. Diese persönlichmenschlichen Schicksale des Dichters sind nur ein Ausschnitt aus dem großen staatlichen Angliederungsprozeß der Rheinlande an Preußen »der schwierigsten


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der Preußen bis dahin im Verlauf seiner Geschichte gestellten staatspolitischen Aufgaben«, wie Herrmann ( 975) meint. Die Sympathien für Preußen waren anfänglich vorhanden, besonders wußten sich Sack, Gruner und Gneisenau die Achtung der Rheinländer zu gewinnen. Mit dem Einsetzen der Reaktion in Berlin, der die meisten dieser im Rheinland an erster Stelle tätigen Beamten und Militärs verdächtig waren, schlug die Stimmung allmählich um; das Verbot des »Rheinischen Merkur« gab ein weithin sichtbares Zeichen für den neuen Kurs. Erst jetzt mehrten sich die Stimmen, die die Vorzüge der französischen Verwaltung gegen die preußische abwogen. Viel Unmut auf beiden Seiten trug die Schuld.

Einen noch weiteren Kreis zieht Scharff ( 969), der die preußisch-hegemonischen Strömungen in der Frühzeit der Einheitsbewegung darstellt. Die Wurzeln dieser Bewegung in der Zeit vor 1806 sind in einen Boden gesenkt, aus dem erst die frühesten Regungen nationalstaatlichen Denkens sich entwikkeln, hier darf man also noch keine scharf formulierten Ziele erwarten. Die Befreiungskriege schufen dann erst die Voraussetzungen zu nationalpolitischen Plänen und Hoffnungen. Scharff sucht besonders die Ziele der Jugend zu erforschen und arbeitet dabei -- wie auch für den ersten Abschnitt -- mit archivalischen Material, vor allem mit den von der Zentraluntersuchungskommission zusammengebrachten Zeugnissen. Die Fülle des neuen Stoffes ist fast übergroß, man kann leider nicht sagen, daß sich das aus andern Quellen schon bekannte Bild wesentlich verschärft hat. So wertvoll manche der hier (im Text und in den Anlagen) mitgeteilten Äußerungen sind, es ergibt sich doch, daß zwischen diesem Idealismus und der Wirklichkeit eine tiefe Kluft bestand. Die Zeit der Karlsbader Beschlüsse machte die Pläne einer Hegemonie Preußens vollends zur Utopie: dennoch tauchten diese Wünsche in Schriften und Briefen immer wieder auf, aber ein erkennbarer Weg zu ihrer Verwirklichung fehlt selbst bei den klügsten und nüchternsten Männern. Ob ein wirklich lebendiger Zusammenhang zwischen diesen ersten tastenden Versuchen, die deutsche Frage durch die Führung Preußens zu lösen, mit der wirklich ernsthaften Bewegung, die in den 30er Jahren beginnt und mit Dahlmanns »Rede eines Fürchtenden« und Pfizers »Briefwechsel zweier Deutschen« datiert werden kann, müßte noch untersucht werden, einstweilen ist ein Zweifel daran erlaubt.

In Scharffs Buch spielt Ludwig Jahn eine große Rolle; von Scharffs Polemik gegen Körner war hier schon die Rede (Jberr. 4, 204). Körner überspitzt die Kritik Jahns; immerhin dürfte doch etwas mehr Zurückhaltung in der Beurteilung Jahns empfohlen werden als sie Sch. in seinem Buche übt: er macht Jahn geradezu zum wichtigsten Vertreter der preußisch-hegemonischen Bestrebungen in der Zeit von 1806. Die Gestalt Jahns erfreut sich in den letzten Jahren überhaupt einer gesteigerten Beachtung; wir erinnern an die Biographien von Eckart (erschienen 1924) und von Neuendorff (Jberr. 4, 204), ferner die Schrift von Piechowski (ebd.), in der Richtung dieser Neubelebung Jahnschen Gedankengutes liegt auch der Neuabdruck seiner beiden Hauptschriften »Deutsches Volkstum« und »Die deutsche Turnkunst«. Beide Ausgaben sind den Originalschriften von 1810 bzw. von 1816 genau nachgebildet; sie erschienen an einer den Historikern fernliegenden Stelle, in den »Quellenbüchern der Leibesübungen«, Bd. 3 und 4, zu dem »Deutschen Volkstum« hat Neuendorff ein Vorwort geschrieben.


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Die dreißiger Jahre zeigen bereits eine viel klarere politische Richtung, da die Julirevolution als Schule der deutschen Politiker gewirkt hat; freilich geht immer noch genug unklare Gefühlspolitik nebenher, sobald ein größerer Kreis politisch zu handeln versucht. Das Hambacher Fest ist ein gutes Beispiel dafür. A. Becker ( 981) druckt einen sehr lehrreichen Bericht des bayrischen Ministers Fürsten Ludwig von Öttingen-Wallerstein ab, der vom 9. Oktober bis 9. November 1833 (also 1½ Jahre nach dem Hambacher Fest) dienstlich die Pfalz bereiste, um die »Gründe der früheren Aufregung« festzustellen. Dieser Bericht bemüht sich ehrlich um ein tieferes Verständnis der Pfälzer Bewegungen und um Abstellung ihrer Ursachen, gibt aber auch dem Historiker ein gutes Material, um die Auffassung der Regierung zu erkennen.

Die Forschungen der letzten Jahre, die sich mit der Einwirkung der auswärtigen Mächte auf die deutsche Revolution von 1848/50 namentlich auf die Frankfurter Nationalversammlung, beschäftigten, haben eine wertvolle Bereicherung erfahren in der Dissertation von Hawgood ( 985). H. beschränkt sich nicht auf die Schilderung der offiziellen diplomatischen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Frankfurter Parlament, die bis auf einige Zwischenfälle recht gut waren (jedenfalls erheblich besser als die mit den kontinentalen Staaten!), sondern er geht auch den geistigen Einflüssen Nordamerikas auf die deutschen Politiker nach. Hier spielt das Problem des Bundesstaates, das in Amerika gelöst war und in Deutschland noch einer schwierigen Lösung harrte, eine besondere Rolle. Die wirtschaftlichen Verhandlungen kamen noch nicht recht in Fluß, weil die Vereinigten Staaten erst die Reichsgründung abwarten wollten, ehe sie sich zu einem Handelsvertrag verstehen konnten.


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