I. Allgemeine Bismarck-Literatur.

Von der Ausgabe der Gesammelten Werke Bismarcks ( 1049 a) sind im Berichtsjahr drei weitere Bände erschienen. Neben Band VI der Politischen Schriften, der die Zeiten des Krieges von 1866 und der Gründung des Norddeutschen Bundes umfaßt (vgl. unten S. 263) ist die von Schüssler besorgte Ausgabe der Bismarckschen Reden (vgl. Jberr. 1928, S. 208) mit den Bänden XI und XII bis zum Jahre 1885 fortgeführt worden. -- Die noch von Granier besorgte Ausgabe einer Auswahl aus Bismarcks Werken ( 1049 b) kommt für wissenschaftliche Benutzung naturgemäß nicht in Frage. Sie sei hier erwähnt, weil sie für Studenten, die die Gesamtausgabe nie werden kaufen können, brauchbar erscheint. Die Ausgabe zerfällt in drei Teile und bringt in zwei Bänden vollständig die »Gedanken und Erinnerungen« und außerdem in je zwei Bänden eine Auswahl aus Reden und Briefen.

Von Darstellungen, die mehr oder weniger die Gesamtheit von Bismarcks Wirken umfassen, sei zunächst auf das ausführliche Werk des inzwischen verstorbenen ungarischen Historikers E. von Wertheimer ( 1054) hingewiesen. Es handelt sich freilich nicht, wie der Titel »Bismarck im politischen Kampf« vermuten läßt, um eine Gesamtdarstellung der Bismarckschen Politik, vielmehr um eine Reihe von Einzelarbeiten, die im wesentlichen die Zeiten bis zur Reichsgründung behandeln; nur ein letzter Abschnitt »Bismarck und Graf


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Taaffe« gilt der späteren Zeit des Reichsgründers. Der Wert des umfangreichen Werkes liegt darin, daß auf Grund reicher Archivstudien, für die neben den Berliner Archiven vor allem das Wiener Staatsarchiv benutzt wurde, eine Überfülle von neuem Einzelmaterial mitgeteilt wird. Diese Mitteilungen aus den Archiven, so wertvoll sie vielfach im Detail sind, werden freilich nirgends zu einer geschlossenen Gesamtauffassung vereinigt und erscheinen fast wie hineingestreut in ein im ganzen veraltetes Bismarckbild. Bei dieser Anlage des Werkes ist besonders bedauerlich, daß die Fundstellen der aus den Archiven mitgeteilten Sätze, ja vielfach auch Einzelmitteilungen über ihre Schreibweise, nach dem für ein derartiges Werk wirklich unmöglichen, heute leider üblichen Brauch, sich erst in den Anmerkungen am Schluß des Bandes finden. -- Für den Charakter des Werkes bezeichnend ist schon der erste Teil, der Bismarck als Gesandten in Frankfurt, Petersburg und Paris behandelt. A. O. Meyers Werk (Jberr. 1927, S. 251 f.) ist dem Verfasser in der Verwertung des Materials über den Bundestagsgesandten Bismarck zuvorgekommen; er benutzt im wesentlichen dasselbe Archivmaterial. Trotzdem nimmt er nirgends ausdrücklich zu A. O. Meyers Werk Stellung, hält an der alten Auffassung durchaus fest, daß Bismarck schon früh bewußt auf den Endkampf gegen Österreich hinarbeitete, ohne das irgendwie zusammenfassend zu begründen. Auch die gegen A. O. Meyer gerichtete Schilderung der Abberufung Bismarcks aus Frankfurt vermag nicht zu überzeugen. Ähnlichen Charakter: vieles Einzelmaterial, aber nirgends Auseinandersetzung mit den Problemen und der Literatur haben die übrigen Kapitel, die mit Ausnahme des schon erwähnten letzten den Zeitraum von 1862 bis 1871 umfassen. Das zweite schildert Bismarcks Berufung ins Ministerium; es ist vor allem dadurch wichtig, daß der auch in späteren Teilen benutzte reichhaltige Briefwechsel der Königin Augusta mit König Wilhelm verwertet wird. In dem Kapitel über die Konvention von Gastein ist vor allem wertvoll, was an Material aus dem Wiener Staatsarchiv mitgeteilt wird. Weitere Teile des Wertheimerschen Buches (Bismarck und Berlin vor Ausbruch des Krieges von 1866, Bismarck und Ungarn im J. 1866, Europäische Politik und Pariser Weltausstellung 1867, Bismarck und Prinz Jérome Napoleon) behandeln Einzelprobleme. Auch das achte Kapitel »Der Kampf um Reich und Kaiser 1870« beschäftigt sich im wesentlichen mit der Kaiserfrage. Alle Abschnitte bringen, wie schon gesagt, mehr oder weniger wichtige Einzeldetails aus den Archiven, deren Mitteilung freilich zum Teil durch das Fortschreiten der Publikation der Gesammelten Werke überholt ist; aber nirgends finden wir eine Auseinandersetzung mit der neueren Forschung und den Versuch, vom Einzelmaterial zu einer Gesamtdarstellung und Gesamtauffassung zu kommen.

Den entgegengesetzten Weg von Wertheimer geht das mehr politisch als wissenschaftlich bestimmte Buch von Harms ( 1053). Ohne wirkliche Verarbeitung des Einzelmaterials wird hier geistvoll und interessant eine Gesamtanschauung Bismarcks knapp und auch straff skizziert, die wohl in vielem von der Auffassung des bekannten Buches von Ziekursch bestimmt wurde. Der Verfasser sieht die eigentliche Tragik Bismarcks und seines Wirkens darin, daß er mit den Mitteln des 18., nicht des 20. Jhds. Politik machte, daß er auf den Monarchen, nicht auf die Regierten blickte und daß er und sein Staat kein wirkliches Verhältnis zu den Massen dieser Regierten bekommen konnte. Damit sei das Problem der Führung und Fortführung des Bismarckschen Werkes ungelöst


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geblieben und hätte ungelöst bleiben müssen. Gewiß ist an dieser Auffassung richtig, daß Bismarcks Reichsgründung die volle Verbindung von Volk und Staat noch nicht vollzog und daß auch die Innenpolitik Bismarcks nach 1871 das von ihm zunächst voll erkannte Problem der inneren Reichsgründung nicht wirklich anzufassen vermochte. Aber für eine wirklich fruchtbare Durchführung des historischen Problems, das sich hinter dieser Tatsache verbirgt, fehlt dem Verfasser das innere Verständnis für Bismarck und für die Notwendigkeit des Weges, der zur Reichsgründung führte. Welche Verkennung von Bismarcks Persönlichkeit verbirgt sich in der Meinung, daß Bismarck schon unter dem Eindruck von 1848 den Gedanken faßte, nicht mit der Masse der Regierten, sondern mit der Dynastie und ihrem Heer die deutsche Einheit zu schaffen; und wenn der Verfasser meint, entsprechend der Auffassung auch von Ziekursch, das deutsche Volk habe bei der Reichsgründung nur eine Statistenrolle gespielt, so scheint uns das die geistige wie reale Bedeutung der nationalen Bewegung für 1871 schlechterdings zu verkennen. Auch in der Auffassung der Außenpolitik Bismarcks nach 1871 und in der Darstellung seiner Entlassung finden sich vielfach sachlich durchaus unzutreffende Behauptungen. Aber entscheidend ist, daß die Art und Weise, in der Bismarck von Harms in ein im Grunde von ihm selbst konstruiertes System verflochten wird, ein Verständnis Bismarcks von vornherein unmöglich macht. Das Problem der Führung war 1890 ungelöst, aber nicht wie Harms meint in erster Linie Bismarck, sondern Wilhelm II. war schuld, wenn man nicht verstand, nach Bismarcks Entlassung dieses Führerproblem zu lösen.

Die Arbeit von E. Schwartze über Bismarcks Staatsauffassung und politische Methode ( 1057) ist ein teilweise recht interessanter Versuch, das Wesen des Bismarckschen politischen Handelns zu erfassen. Der wichtigste Teil dieser Veröffentlichung ist identisch mit dem bereits im Bericht des Vorjahres (S. 220) erwähnten Aufsatz über den Zusammenhang äußerer und innerer Politik bei Bismarck. -- Der Aufsatz von Karl Ludwig ( 1058) schildert Bismarcks religiöse Entwicklung und sein Verhältnis zur Religion. Es handelt sich um eine knappe und im wesentlichen populäre Zusammenfassung, die die nach der Meinung des Verfassers noch heute in weiten Kreisen verbreitete Anschauung widerlegen soll, eine Verbindung: Bismarck und Religion sei unmöglich. Im Gegensatz dazu wird der christliche Charakter der Bismarckschen Politik vielleicht überscharf betont, z. B. das Wort: »Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt« als Beweis dafür angewandt, daß Bismarck auch als Politiker Gott und nicht den Menschen dienen wollte (S. 255). Damit wird, wie auch sonst in dem Aufsatz, zum Teil auch durch Bismarcks Wesen nicht fassende Fragestellungen, das Problem allzu sehr vereinfacht, so sehr der Verfasser mit Recht den stark religiösen Grundzug in Bismarcks Weltanschauung betont. -- Für Bismarcks Beurteilung durch einen seiner engsten Mitarbeiter wichtig sind die von Sass veröffentlichten Briefe von Thile ( 1017) an seinen Freund, den damaligen Gesandten in Kopenhagen und Brüssel, von Balan. Thile war von 1862 bis zu seiner Entlassung 1872 Unterstaatssekretär im Ministerium des Äußern. Die Briefe selbst umfassen den Zeitraum von 1859 bis 1872. Sie enthalten einige politisch ganz interessante Mitteilungen, sind aber vor allem charakteristisch durch das Gemisch von Bewunderung und Kritik gegenüber Bismarck in den Äußerungen Thiles, der sachlich im wachsenden


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Maße Außen- und Innenpolitik (Kulturkampf) Bismarcks nicht mitmachen konnte. Bismarck entließ ihn, als der Kaiser durch Thile und wohl nur aus Versehen ohne Bismarcks Wissen bei der Drei-Kaiser-Zusammenkunft 1872 den Schwarze Adler-Orden an den russischen und österreichischen Botschafter verlieh. -- Der Aufsatz von Lulvès ( 1074) gibt auf Grund umfassender, auch auf ungedrucktem Material beruhender Studien des Verfassers eine zusammenfassende Skizze der Stellung Bismarcks zur römischen Frage vom Beginn seiner Ministerzeit bis zum Sturz. Wir erfahren mancherlei interessante Einzelheiten für Bismarcks Stellungnahme zum Problem des Kirchenstaates, haben freilich gegenüber der vom Verfasser gelegentlich vertretenen Auffassung mancherlei Bedenken. Von einer »instinktiven Abneigung gegen Italien« (S. 266) und einer »Abneigung gegen welsche Art« kann man in solchen Fragen bei Bismarck schwerlich sprechen, ebensowenig wie für die siebziger Jahre richtig sein dürfte, daß Bismarck die Behandlung der römischen Frage »der jeweiligen innenpolitischen Konstellation« (S. 272) unterordnete. Auch der Schlußsatz, der hervorhebt, daß für Napoleon die römische Frage zur Hauptursache seines Sturzes wurde, während Bismarck ihr gegenüber »seine staatsmännische Superiorität zu behaupten« gewußt habe, ist zum mindesten deshalb mißverständlich, weil er verkennt, wie völlig andersartig die Bedeutung der römischen Frage für die außen- und innenpolitischen Situation Napoleons und Bismarcks war. Trotz diesen sachlichen Bedenken kann man wünschen, daß dem Verfasser die erhoffte Veröffentlichung seines ungedruckten Materials möglich sein wird.

Die Schrift von Hagen ( 1050) ist eine ursprünglich in der »Zeitschrift für Politik« erschienene Sammelbesprechung, die eine Übersicht über die Bismarck-Literatur gibt, freilich die wirklich neuen Probleme wenig heraushebt. Dagegen setzt sich der Verfasser, der durch sein Buch über Bismarcks Kolonialpolitik bekannt ist, eingehend mit den Veröffentlichungen auseinander, die dies Thema nach dem Erscheinen seines Buches behandelten.


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