III. Die Reichsgründung und ihre allgemeinen Probleme.

In einer vor Studenten gehaltenen Rede über die Probleme der Reichsgründung weist Beyerhaus ( 1043) mit Recht auf die enge Verbindung der Gegenwart mit der Bismarckschen Reichsgründung hin und betont die außen- und innenpolitischen Schwierigkeiten, die Bismarcks Werk belasteten. Den Nachdruck legt er auf die These, daß Deutschland das einzige Land im 19. Jhd. war, in dem der politische Genius von rechts kam. Das Reich sei gegen den Geist Westeuropas entstanden. Obwohl der Vortrag von diesem Ausgangspunkt aus eine Reihe bemerkenswerter Betrachtungen enthält, so scheint uns die Gesamtthese, in dieser Formulierung zum mindesten, schwerlich zuzutreffen. Sie erinnert, nur mit entgegengesetzter Wertung, an Ziekurschs These, daß Bismarck die Reichsgründung gegen den Geist der Zeit vollzog, und führt in der dafür gegebenen historischen Begründung dazu, daß aus der unendlichen Mannigfaltigkeit deutscher Geschichte und deutschen Wesens ein Zug herausgegriffen wird, der dann einem ebenso isolierten Zug Westeuropas bzw. Frankreichs gegenüber gestellt wird. -- Der an anderer Stelle besprochene Vortrag von Hartung ( 957 a) enthält auch eine kurze Würdigung der Reichsgründung, in der u. a. gegen Doeberl betont wird, daß Bismarck in dem Werk von 1871 nur den Anfang gesehen, weitere Entwicklung des Reichs gefordert habe. -- Ein zusammenfassender


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Aufsatz von Otto Becker (Bismarck und der großdeutsche Gedanke, Weg zur Freiheit 1. Februar 1929) führt den Nachweis, daß im Zeitalter Bismarcks eine großdeutsche Politik schlechterdings unmöglich war. Trotzdem habe Bismarck ein gewisses großdeutsches Gefühl gehabt, eine Behauptung, an deren Berechtigung man wohl zweifeln kann. -- Die kleine Schrift von Henle ( 1044) ist eine Entgegnung auf die von uns im vorigen Jahrgang besprochene Reichsgründungsrede von Ritter (vgl. S. 209). Sie sei nur deshalb erwähnt, weil der Verfasser einen Sieg seiner Auffassung darin zu erblicken pflegt, wenn die von ihm kritisierten, angeblich »kleindeutschen« Historiker nicht mit derselben Unermüdlichkeit antworten, mit der er im Grunde sich stets selbst wiederholend seine Aufsätze verfaßt. Henle, der ja selbst kein Historiker ist, wiederholt hier wie auch sonst in vergröberter Form, was Kaindl mit sehr viel größerem Ernst vertreten hat, von dem er im übrigen im wesentlichen seine geschichtlichen Kenntnisse beziehen dürfte. Daß es sich bei Henle um keine echte »großdeutsche« Geschichtsauffassung handelt, braucht bei der rein polemischen und negativen Tendenz seiner Auffassungen kaum erwähnt zu werden. -- Henle könnte von Srbik, den er freilich auch unter die Reihe seiner Gegner rechnet, lernen, wie man derartige Auseinandersetzungen über letzte Auffassungen sachlich führen kann. Srbiks Rezension des Buches von A. O. Meyer über Bismarck am Bundestag ( 1011) sei hier um ihrer prinzipiellen Bedeutung willen erwähnt. Er betont bei aller Anerkennung der Leistung A. O. Meyers, daß dieser Preußen und Österreich noch immer nicht mit gleicher Unbefangenheit gegenüber stehe und daß er den Deutschen Bund und die Kämpfe am Bundestag allzu ausschließlich mit Bismarcks Augen sehe. Dabei wird im allgemeinsten Zusammenhang die Frage der Stellung Österreichs und Preußens zu Deutschland und die Problematik des Deutschen Bundes aufgerollt, den v. Srbik relativ positiv bewertet. Srbiks Urteilen wird man nicht in allem zustimmen können, um so mehr seiner Forderung einer sich von allen einseitigen Bindungen lösenden Betrachtungsweise der gesamtdeutschen Probleme. -- Einem verwandten Problem gilt die Erlanger Antrittsrede von Otto Brandt ( 1009), die in großen Linien die Bedeutung der mittelstaatlichen Politik vor allem in den 50er Jahren darstellt. Brandt weist zunächst darauf hin, daß im Gegensatz zu den Zeiten vor 1848, in denen Österreich und Preußen am Bundestag einheitlich vorgingen und dadurch eine selbständige mittelstaatliche Politik unmöglich machten, der Gegensatz der beiden Großmächte in den 50er Jahren, den Mittelstaaten und zugleich den politischen Auseinandersetzungen am Bundestag viel größeres Gewicht gab. Brandt leugnet dabei nicht die partikularen Bedingtheiten der mittelstaatlichen Politik, hebt aber sehr nachdrücklich hervor, daß sie sich um das Wohl und die Ehre Gesamtdeutschlands bemüht hätte. Uns scheint dabei der allgemein deutsche Eifer der Mittelstaaten überschätzt, ihr fast selbstverständliches partikulares Streben unterschätzt zu werden. So waren die verschiedenen mittelstaatlichen Bundesreformprogramme doch kaum wirkliche Reformprogramme und galten zum Teil nur dem Kampf um die öffentliche Meinung; und wenn die Mittelstaaten, wie Brandt gelegentlich betont, sich eng mit der Institution des Bundes verbunden fühlten, so doch mit darum, weil sie bei dem wachsenden Ansturm der nationalen Bewegung im Bestehen des Bundes den besten Schutz zur Erhaltung ihrer Souveränität sahen.

In denselben Problemkreis führt die spezielle Arbeit von Erich Zim-


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mermann über den Deutschen Reformverein ( 1018). Es handelt sich um eine Heidelberger Dissertation, die unter Benutzung ungedruckten Materials Entstehung und Geschichte des Deutschen Reformvereins schildert, in dem sich die sog. »großdeutsche« Bewegung 1862 zunächst zusammenschloß. Wie wenig dieser Reformverein eine Volksbewegung war, ergibt sich deutlich aus der Darstellung des Verfassers, der ihn einmal als »Instrument der österreichischen Politik« bezeichnet. Er entsprang im Grunde der Initiative der Regierungen. Daneben zeigt sich die Fülle der Gegensätze, die man, wie einst schon in der Paulskirche, unter Benutzung der großdeutschen Fahne hier zusammenzuschließen versuchte. Auch im Nationalverein gab es gewiß scharfe Gegensätze, aber wie geschlossen wirkt er im Gegensatz zu der hoffnungslosen Zersplittertheit dieser Gruppe, in der sich neben partikularen und konfessionellen Richtungen alle politischen Gruppen von rechts bis zur Demokratie fanden. Bei dieser, durch das Material des Verfassers deutlich hervortretenden, wenn auch nicht neuen Tatsache, ist kein Wunder, daß die Ziele im wesentlichen negativ waren. Von einer wirklich positiven großdeutschen Stimmung ist keine Rede, obwohl auch der Verfasser immer wieder von großdeutsch spricht. Auch die Abwehr gegen die Ausschließung Österreichs erklärt sich aus allen möglichen anderen Motiven, nicht aus wirklich großdeutschem Wollen. Eine Ausnahme machen einige führende Persönlichkeiten, wie etwa der Freiherr von Lerchenfeld. Im ganzen dient das Wort »großdeutsch« nur der Verhüllung anderer Ziele. Alle diese Dinge sind gewiß nicht neu, aber sie werden durch das von Zimmermann benutzte Material und die zusammenfassende Schilderung dieser Gruppe recht einleuchtend belegt. -- Einen Beitrag zu dem Kampf der »großdeutschen« und »kleindeutschen« Richtung in den 60er Jahren enthält die Mitteilung einer Denkschrift aus dem J. 1865 des Heidelberger Professors Bähr an den damaligen österreichischen Gesandten in Baden Pilat durch von Srbik ( 1017). Eine Einleitung des Herausgebers schildert die Beziehungen Österreichs und Badens in diesem Zeitraum. Die Denkschrift selbst berichtet über den Sieg der kleindeutschen Richtung an der Universität Heidelberg und tadelt in scharfen Worten diese Politisierung der Universität. Der starke Einfluß der Hochschulen auf die Politik der badischen Regierung wird dabei hervorgehoben. Im übrigen zeigt der ganze Vorgang, wie sehr die österreichische Politik die ihr aus der Haltung des deutschen Professorentums erwachsende Gefahr erkannte und ihr entgegenzuwirken versuchte. -- Über die Vorgeschichte der Berufung Treitschkes nach Heidelberg (1867) -- zwischen ihr und dem Bericht an Pilat lag die eigentliche Entscheidung -- berichtet der Aufsatz Neumanns ( 127), der eine Reihe von Intimitäten aus den Fakultätsakten mitteilt und auch anderes Material heranzieht. Er ist nicht nur wissenschaftsgeschichtlich interessant, sondern wichtig für die Stimmung der Zeit nach dem Krieg von 1866, vor allem in der Haltung der Fakultät und des badischen Ministeriums.

Den innenpolitischen Problemen, die die Reichsgründung begleiteten, gilt der Aufsatz von Dehio über die Taktik der Opposition während des Konfliktes ( 1028). Die Arbeit ist zunächst dadurch wertvoll, daß eine ganze Anzahl von Nachlässen der preußischen Politiker jener Tage benutzt sind, vor allem die von Sybel und Twesten. Sachlich geht Dehio von der durchaus berechtigten Fragestellung aus, daß man die Haltung der Opposition im Konflikt nicht wie bisher


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überwiegend vom Standort »Bismarck«, sondern von der Seite der Opposition selbst verfolgen müsse. Er kommt dabei in seiner höchst interessanten Untersuchung, die mancherlei wichtiges Material mitteilt, im wesentlichen zu der These, daß die Opposition, weil die inneren Druckmittel zu schwach waren, um den Sieg über die Regierung zu gewährleisten, das Hinzutreten der äußeren Druckmittel zur Herbeiführung dieses Sieges benutzen wollte. Sie habe ihre Taktik deshalb auf die Möglichkeit eines außenpolitischen Konfliktes, notfalls selbst auf die »Pferdekur« einer Niederlage eingestellt. Eine definitive Beurteilung dieser These ist ohne Benutzung der Nachlässe kaum möglich. Wir möchten meinen, daß der Verfasser leidenschaftliche Äußerungen in den Zeiten des Konfliktes allzu scharf interpretiert. Bei der Gesamthaltung dieser bürgerlichen Opposition, die im Grunde nur im äußeren Auftreten, aber nicht im Innern und im eigentlichen Handeln wirklich radikal war, ist eine derartige aufs Ganze gehende Taktik schwerlich wahrscheinlich. Auch hatten bei Ausbruch des Krieges weite Teile der Liberalen Norddeutschlands eher Furcht vor einer preußischen Niederlage, als daß sie irgendwie darauf hofften. Die ganze liberale Bewegung und die Führung der Opposition war viel zu stark auf das Wirken mit moralischen Mitteln eingestellt, um mit einer solchen »Pferdekur« zu arbeiten. -- Einen Beitrag zu der Stellung des liberalen Bürgertums jener Tage gibt gewissermaßen negativ der Aufsatz von Hans Rosenberg: »Gervinus und die deutsche Republik« (in »Die Gesellschaft« Band 6, S. 119--136). Er schildert, wie Gervinus nach 1848 die Bedeutung der gesellschaftlichen Kräfte in der Geschichte erkannte und wie er bei aller zukunftsreichen Bedeutung seiner Ansichten einsam in seiner Zeit dastand. Seine »Einleitung« wurde gerade wegen ihres Hinweises auf die Macht des aufsteigenden vierten Standes, von fast allen liberalen Historikern aufs allerschärfste kritisiert.


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