V. 1866/67.

Der Band VI der Gesammelten Werke Bismarcks ( 1049a), der die politischen Schriften von Juni 1866 bis Juli 1867 umfaßt, ist hier natürlich ebensowenig wie die früheren im einzelnen auszuwerten. Hingewiesen sei auf die immer größere Ausdehnung dieses Unternehmens, das ursprünglich für die Zeit von 1862--90 nur drei Bände vorsah und diese Bandzahl jetzt bereits mit dem J. 1867 erreichte. Das ist gewiß bei der großen Anzahl der bisher unbekannten Stücke berechtigt und begrüßenswert. Freilich krankt


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die ganze Ausgabe, was auch an dieser Stelle nicht verschwiegen werden kann, an einer gewissen Zwiespältigkeit, da der Ausdruck Bismarcksches »Schrifttum« notwendig unklar ist. Die Ausgabe ist keine wirkliche Aktenpublikation, auf der anderen Seite hat manches Schriftstück, das von Bismarck persönlich herrührt, natürlich rein amtlichen Charakter. Dazu läßt sich das, was persönlich Zeugnis der Tätigkeit Bismarcks ist, natürlich nicht rein herauslösen aus dem gesamten Aktenmaterial, so daß der Herausgeber immer wieder zu dem Mittel der in kleiner Schrift gedruckten ausführlichen Einleitungen zu den veröffentlichten Aktenstücken greifen muß. Sachlich bilden den wesentlichen Inhalt dieses Bandes zunächst die den Krieg 1866 einleitenden und ihn begleitenden diplomatischen Aktionen. Dabei ist deutlich zu erkennen, daß Hannover und Kurhessen den Frieden hätten haben können, wenn sie ihn gewollt hätten und daß von lange vorbereiteter Annexionsabsicht keinerlei Rede sein kann. Die späteren Teile des Bandes gelten vor allem der Auseinandersetzung mit Frankreich und der Luxemburger Krise. Sie überschneiden sich vielfach mit der Onckenschen Publikation und geben im Ganzen kein unbedingt neues Bild. Das ist sehr anders für die deutsche Frage und auch für die Entstehung der Verfassung des Norddeutschen Bundes, obwohl sie an äußerem Umfang stark zurücktritt. Besonders eindrucksvoll ist die kluge Behandlung der neu annektierten Provinzen und die elastische Energie im Kampf mit den norddeutschen Kleinstaaten, der die Entstehung des Norddeutschen Bundes begleitete. Noch deutlicher als bisher zeigt sich die Ausnutzung des nationalen Elementes durch die Bismarcksche Politik und die Verwertung der nationalen Bewegung gegenüber den anderen Regierungen; gerade in diesem Zusammenhang finden sich mehrfach verschärfende Zusätze Bismarcks zu den Konzepten seiner Gehilfen. Gelegentlich äußert er sogar den Wunsch, keinen zu konservativen Reichstag zu bekommen, um ein Druckmittel gegenüber den Regierungen zu haben. Daneben zeigen die neu veröffentlichten Akten, daß Bismarck die Luxemburger Krise von 1867 in gewissem Sinne dazu benutzte, um eine Lösung der gesamtdeutschen Frage herbeizuführen. Im wesentlichen handelt es sich dabei freilich wohl kaum um eine »Reichsgründung« im späteren Sinne, sondern, neben scharfer Betonung der notwendigen Konsolidierung des Nordens, um ein enges völkerrechtliches Bündnis mit den süddeutschen Staaten. Ob man diese ganze Politik, wie der Herausgeber Thimme meint, föderativ nennen kann, erscheint als sehr zweifelhaft. Denn auch dieser Band zeigt sehr deutlich, wie Bismarcks kluge, aber mit allen Mitteln arbeitende Politik zunächst im Norden das staatliche Band so fest anziehen wollte, wie im Augenblick zweckmäßig erschien, wobei auch die außenpolitischen Verhältnisse immer wieder aufs stärkste Berücksichtigung fanden. Die »Schonung« der anderen deutschen Staaten ist mehr Klugheit als Ergebnis einer föderativen Anschauung. Bezeichnend dafür ist das Wort, das Bismarck einmal über den Zollverein sagte, man müsse »die bisherigen Verhältnisse unbefangen in die neuen Zustände« hinüberleiten (S. 400). -- Dasselbe Problem behandelt und fast dieselbe Auffassung wie Thimme vertritt das Buch von Wilhelm Schüssler über Bismarcks Kampf um Süddeutschland 1867 ( 1034), dessen Ergebnisse er in einer Rostocker Reichsgründungsrede ( 1035) knapp zusammengefaßt hat. Schüssler hat bereits den eben besprochenen Band der Gesammelten Werke benutzt, daneben sehr reichhaltiges Archivmaterial aus dem Auswärtigen Amt Berlin, aus dem Reichsarchiv

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Potsdam, aus Wiener, Münchener, Stuttgarter, Darmstädter und Dresdener Archive verwertet. Schüsslers Ausgangspunkt ist, daß Bismarck im Frühjahr 1867 versuchte, Hessen-Darmstadt in seiner Gesamtheit zum Eintritt in den Norddeutschen Bund zu bewegen; er meint, wenn Hessen-Darmstadts Anschluß nicht an Dalwigk gescheitert wäre, würde bereits 1867 die Reichsgründung vollzogen worden sein. Bismarck habe dann in den Zeiten vor und nach der Luxemburger Krise mit Entschiedenheit um den Anschluß der süddeutschen Staaten an den Norddeutschen Bund gerungen. Schüssler schildert unter reichlicher Zitierung der benutzten Akten die ganze, fast verwirrende Fülle der politischen Verhandlungen, wobei natürlich nicht nur Bismarcks Politik, sondern auch die der anderen deutschen Staaten, in erster Linie der süddeutschen, und die Österreichs eingehend behandelt wird. Die schwankende Haltung der süddeutschen Staaten, wie die elastische Verhandlungstaktik Bismarcks führen dazu, daß in Schüsslers Buch die beherrschenden Linien nicht immer klar hervortreten, so daß wir ein vielfach farbenreiches, aber nicht immer sehr durchsichtiges Bild erhalten. Eine Stellungnahme im einzelnen ist an dieser Stelle natürlich nicht möglich. Als wichtigstes Ergebnis darf bezeichnet werden, daß Bismarck über die Schutz- und Trutzverträge hinaus im J. 1867 sich doch sehr viel ernster um den Anschluß des Südens an den Norddeutschen Bund bemühte, als man bisher annahm, in Übereinstimmung mit Thimmes Einleitung zu Band VI der Gesammelten Werke. Sehr nachdrücklich tritt dabei hervor, ein wie starkes politisches Druckmittel der Zollverein gegenüber den anderen Staaten bedeutete. Als Minimum dessen, was Bismarck damals erreichen wollte, bezeichnet Schüssler ein Zollparlament, als Maximum die Gründung des Reiches schon 1867. Wenn auch, wie schon aus den Gesammelten Werken hervorging, bei den ganzen Verhandlungen von einer sehr viel lockeren Verbindung die Rede ist, als sie später der Reichsgründung zugrunde lag, davon, daß Bismarck, wie es etwa Treitschke bewußt begrüßte, zunächst sich ausschließlich, auch aus innenpolitischen Gründen, auf den Norden beschränkte, wird man nach dem Ergebnis der Schüsslerschen Arbeit schwerlich mehr reden können. Auf der anderen Seite aber scheint uns Schüssler ebenso wie Thimme die Bedeutung dieser Verhandlungen zu überschätzen. Wir möchten meinen, daß es sich 1867 doch nicht eigentlich um den Plan einer Reichsgründung, sondern gerade wegen des möglichen Konfliktes mit Frankreich in erster Linie um die außenpolitische und militärische Bindung des Südens an den Norden handelt. Daß die gleichzeitig spielende Verhandlung mit Österreich als höchste Annäherung Bismarcks an das großdeutsche Ideal bezeichnet werden kann, möchten wir ebenfalls bezweifeln, da der taktische Grund dieser Verhandlungen allzu deutlich auf der Hand liegt. Immerhin ist sehr deutlich, wie im Gegensatz zur früheren Auffassung, auch in dieser Zeit die Linie der Bismarckschen Politik unendlich kompliziert und auf der anderen Seite unendlich elastisch und anpassungsfähig ist. Auch gegen Schüssler wäre zu bemerken, daß diese Anpassungsfähigkeit gegenüber den kleineren Staaten, die politische Gründe hatte, mit Föderalismus nichts zu tun hat, ebensowenig wie man von Dalwigk so ausgesprochen eine föderalistische und »universalistische« Einstellung annehmen kann, wie das Schüssler will. Meint er doch sogar, Dalwigk habe wenigstens unbewußt an die Aufgabe gedacht, »den mitteleuropäischen Raum für das Deutschtum frei zu erhalten« (S. 104). Trotzdem wird dann später darauf hingewiesen, daß

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Dalwigks hessischer Partikularismus größer war, als sein prinzipieller Föderalismus (S. 109 Anmerkung). Uns scheint, daß der hessische Partikularismus bei Dalwigk ausschließlich herrschte, wie ja auch ein großer Teil der übrigen Gegner Bismarcks ebenfalls im wesentlichen von robustem Partikularismus bestimmt war. Andererseits darf betont werden, daß auch bei Bismarck in diesem Zeitraum das großpreußische Motiv stärker war, als es nach Schüsslers Darstellung zum Ausdruck kommt. Überhaupt scheint uns, was mit Hinblick auf mehrere Arbeiten unseres Berichtsjahres gesagt werden darf, ebenso müßig wie überflüssig, die nun einmal im Zeitraum vor der Reichsgründung auf allen Seiten im wesentlichen partikular bestimmte Politik der einzelnen, noch souveränen Staaten immer wieder als »großdeutsch«, föderalistisch usw. ideologisch zu umkleiden.

Steht in Schüsslers Arbeit das Verhältnis zum deutschen Süden im Vordergrund, so behandeln zwei speziellere Arbeiten das Verhältnis zu norddeutschen Staaten. Die Veröffentlichung von Karl Lange ( 1032) schildert, wie Braunschweig, das zunächst auf der Seite Österreichs stand, beim Herannahen der Krise von 1866 doch Neutralität wahrte. Wichtig ist vor allem, daß, im Gegensatz zu Behauptungen Rosendahls, von einer Annexionsabsicht Bismarcks keine Rede sein kann, und daß Bismarck aus militärischen Gründen den Anschluß Braunschweigs an Preußen verlangte, um dann in vorläufigen Abmachungen sich sehr maßvoll zu zeigen. Zunächst erfolgte dieser Anschluß noch nicht. Die Braunschweiger Regierung lavierte vorsichtig, zumal der Herzog auf Österreichs Sieg rechnete. Erst nach Langensalza und Königgrätz folgte auch noch zögernd die Mobilmachung, dann ein Bündnis mit Preußen und schließlich der Anschluß an den Norddeutschen Bund. Bei dem endgültigen Beitritt führte die Regierung keinen formellen Beschluß des Landtages herbei. -- Das wesentliche Ergebnis der Arbeit von Dickmann, einer Berliner Dissertation ( 1037), entspricht dem, was der Verfasser in dem die nachfolgende Zeit behandelnden Zeitschriftenaufsatz ausgeführt hat, der im vorigen Jahrgang unserer Berichte erwähnt wurde (S. 214 f.). So schließt denn auch im Gegensatz zum Titel die Arbeit bereits 1867 ab. Sie zeigt sehr deutlich die Widerstände, die bei der Gründung des Norddeutschen Bundes zu überwinden waren und ist charakteristisch für Bismarcks Haltung, der zunächst jede Selbständigkeit des sächsischen Heeres beseitigen wollte, aber dann aus allgemein politischen Gründen, auch mit Rüchsicht auf die auswärtige Lage, in gewisser Beziehung nachgab.

Die Arbeit von Camon über den böhmischen Feldzug ( 1029) ist eine knappe, schon 1902 für eine französische Militärschule geschriebene Studie, die wissenschaftlich ohne Bedeutung ist. -- Für die französischen Stimmungen und die französische Politik gegenüber den Vorgängen in Deutschland 1866/67 ist die in der »Revue des Deux Mondes« vom 15. Dezember (Band 54, S. 835--880) von Hanotaux besorgte Veröffentlichung von Briefen Prosper Mérimées an die Mutter der Kaiserin Eugenie interessant.


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