VII. Deutsche Außenpolitik 1871--90.

Onckens Vortrag über Ziele und Grundlagen der deutschen auswärtigen Politik von 1871--1914 ( 1046) gibt in seiner ersten Hälfte eine scharfe Skizze der Bismarckschen Politik. Er betont, wie andersartig der Charakter der Politik nach der Reichsgründung und der vor 1871 war. Man habe überhaupt erst eine Tradition der auswärtigen Reichspolitik begründen müssen. Oncken charakterisiert Bismarcks Politik als »System konservativer Europapolitik«, die für die Macht des Reiches das Höchste geleistet und zugleich den Frieden Europas bewahrt habe. Gewiß habe diese Politik in gewissem Sinne die nationalen Kräfte zurückgehalten, aber ein letztes Urteil über Bismarcks Politik müsse bedenken, daß sie durch Bismarcks Entlassung der »äußersten Erprobung nicht unterworfen wurde«, daß sie nicht mehr vor die Wahl gestellt war, das System »der Aushilfen fortzusetzen oder durch neue Methoden abzulösen«. -- Der erste Band der französischen Aktenpublikation ( 1040), der hier natürlich nicht eingehend besprochen werden kann, behandelt, wie schon erwähnt, die Verhandlungen des Jahres 1871, dann vor allem die mit Kriegsentschädigung und Räumung des französischen Gebietes im Zusammenhang stehenden Verhandlungen und schließlich noch die außenpolitische Krise von 1875. -- Der Aufsatz von Bloch ( 1041)


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nimmt das Erscheinen der französischen Aktenpublikation zum Anlaß, um die verschiedenen Methoden der deutschen, französischen und englischen Publikationen zu vergleichen. Er tritt nicht ohne Grund für die von den Franzosen gewählte chronologische Gliederung ein und kritisiert scharf Anmerkungen der Herausgeber zu den Akten, die das Urteil beeinflussen könnten, wobei deren Bedeutung für die deutsche Publikation überschätzt wird. Trotz etwas einseitiger Polemik sind Blochs Gesichtspunkte beachtenswert. Immerhin sollte er nicht vergessen, daß die deutsche und die englische Publikation der französischen vorausgingen, die also von ihnen lernen konnte. -- Eine allgemeine Betrachtung, ebenfalls durch die verschiedenen Aktenpublikationen veranlaßt, über den Quellenwert diplomatischer Dokumente veröffentlicht Ganem ( 1042). Er äußert den Wunsch, daß alle Geheimverträge der Zeit von 1871--1914 nach dem Muster der österreichischen Sammlung Pribrams in einem Sammelband herausgegeben werden sollten. -- Das von Hauser herausgegebene, den gesamten Zeitraum von 1871 bis 1914 umfassende »Manuel de politique européenne« ( 1038) geht natürlich weit über den Rahmen der deutschen Geschichte hinaus und kann hier nur kurz erwähnt werden. Eine Reihe französischer Historiker haben mitgearbeitet. Die etwas unglückliche Art der Arbeitsverteilung führt zu vielfachen Überschneidungen und gelegentlich auch zu Widersprüchen. Eine wirklich einheitliche Grundauffassung hat die Veröffentlichung nicht, wenn man nicht die etwas tendenziöse Grundhaltung so bezeichnen will, die, ohne Deutschland Kriegspolitik vorzuwerfen, doch alle Bündnisse der Gegenseite als durch die Sorge vor der deutschen Politik gerechtfertigt hinstellt.

Die Veröffentlichung der von Moltke herrührenden Aufmarschpläne und sie ergänzende Schriftstücke für die Zeit von 1871--90 ( 1066) bildet eine mehr oder weniger wichtige Ergänzung zu den die Bismarckzeit umfassenden ersten sechs Bänden der deutschen Aktenpublikation. Eingeleitet wird die Veröffentlichung durch eine noch nicht bekannte Denkschrift Moltikes vom Dezember 1859. Eine militärische Auswertung der Aufmarschpläne ist natürlich nicht möglich. Sie sind aber auch interessant für die Entwicklung der politischen Lage. 1871 war noch ein Aufmarschplan gegen Frankreich und Rußland beabsichtigt, während in den nächsten Jahren im wesentlichen nur ein Aufmarsch gegen Frankreich vorgesehen war. 1877 wird mit der Möglichkeit Frankreich- Österreich, oder Frankreich-Rußland gerechnet, seit Ende der 70er Jahre dann fast ausschließlich mit der französisch-russischen Kooperation. Ein Brief aus dem Jahre 1875 zeigt, daß Moltke mit einem französischen Vorgehen durch Belgien und für diesen Fall mit Beteiligung der belgischen Armee auf deutscher Seite rechnete (S. 59).

Der Aufsatz von Platzhoff ( 1072) skizziert knapp die allgemeine Bedeutung der elsaß-lothringschen Frage für die russische Politik bis in den Weltkrieg hinein. Ausgehend von der allgemeinen Lage seit 1871 wird unter anderem auf die Bedeutung der Ablehnung einer Garantie für Elsaß-Lothringen durch Rußland 1876 hingewiesen. -- Die holländische Arbeit von Jouwersma ( 1075) untersucht die deutsch-französische Krise von 1875 und ihre Vorgeschichte, und umfaßt auch Probleme der deutschen Innenpolitik, vor allem den Kulturkampf. Die Studie ist herausgegeben von dem niederländischen Komitee für die Untersuchung der Kriegsursachen und bringt im wesentlichen kaum neue


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Ergebnisse, zum mindesten nicht für den deutschen Leser. Manches ist zu beanstanden, aber die Gesamtdarstellung erscheint als zutreffend. Vor allem wird energisch festgestellt, daß Bismarck 1875 den Krieg nicht wollte. -- Der Aufsatz von H. Prösch ( 1076) über einen englischen Bündnisfühler 1876 geht von einem Leitartikel der »Times« vom 16. Oktober 1876 aus, den der Verfasser nicht recht überzeugend für amtlich hält. Prösch verfolgt dann den englischen Versuch eines Zusammengehens mit Deutschland zunächst in der orientalischen Frage und Bismarcks ablehnende Haltung. Der Verfasser scheint uns die allgemeine Bedeutung dieses englischen »Bündnisfühlers« stark zu überschätzen. -- Der Aufsatz von Vergniol ( 1086) behandelt die Schnäbele-Affäre unter Mitteilung bisher nicht bekannter Details. Zwei in Faksimile abgedruckte Briefe sollen beweisen, daß ein deutscher Polizeibeamter Schnäbele über die Grenzen gelockt habe. Im ganzen ist der Aufsatz überaus tendenziös eingestellt, spricht für Bismarcks Gesamtpolitik gegenüber Frankreich immer wieder von Kriegswillen, was auf Grund sehr unzulänglichen Materials zu beweisen versucht wird, u. a. durch Zeitungsartikel und Flugschriften, die mit der amtlichen deutschen Politik nichts zu tun haben.

Montgelas' Aufsatz ( 1087) behandelt vor allem auf Grund der Denkwürdigkeiten von Schweinitz die Haltung von Bismarck und Schweinitz in der Frage der Beziehungen zwischen Deutschland, Österreich und Rußland. Der Verfasser betont, daß trotz einzelner Differenzen zwischen Bismarck und dem Botschafter kein wesentlicher Gegensatz bestanden habe. -- Für die Entstehung des Drei-Kaiser-Bündnisses von 1881 sind die in englischer Sprache vorgelegten Erinnerungen von Saburov ( 1080) wichtig. Zugrunde liegt ein französisch abgefaßtes Erinnerungswerk »Ma mission à Berlin 1879--84«, aus dem Teile bereits früher in einer englischen Zeitschrift und im Krasny-Archiv veröffentlicht wurden. Die Erinnerungen Saburovs, der von 1880--84 russischer Botschafter in Berlin war, beginnen mit Unterredungen Bismarcks im J. 1879 und schließen mit dem J. 1881 ab. Vom Herausgeber vorausgeschickt ist ein 1912 in der »Revue de Paris« veröffentlichter Aufsatz von Saburov »Russie, France, Allemagne 1870--1880«; es ist der Zeitraum, in dem er russischer Gesandter in Athen war. -- Die in den »Berliner Monatsheften« aus dem Krasny- Archiv in deutscher Übersetzung mitgeteilten Berichte von Schuwalow über seine Verhandlungen mit Bismarck über den Rückversicherungsvertrag ( 1085) sind für die Beurteilung dieses Vertrages und Bismarcks Haltung aufschlußreich. -- Die Arbeit von Irene Grüning, eine Berliner Dissertation ( 1077), ist wichtig durch das in ihr verarbeitete, in Deutschland kaum bekannte Material der russischen Presse. Die Arbeit ist freilich im Urteil gelegentlich stark abhängig von dem bearbeiteten Material, und auch der Ausdruck ist vielfach von den fremdsprachigen Unterlagen bestimmt. Sachlich ist die Arbeit sehr dankenswert. Ein einleitendes Kapitel über die russische Presse weist darauf hin, daß sie sich im Gegensatz zur Innenpolitik in Fragen der auswärtigen freier tummeln durfte, was nun freilich, wie die Arbeit der Verfasserin später selbst zeigt, durchaus nicht immer der Fall war. Sehr stark im Vordergrund der Arbeit steht der russische Publizist Katkov, dessen Persönlichkeit und Lebensschicksal eingehend behandelt wird. Der eigentliche Hauptteil der Arbeit betont zunächst, daß unmittelbar nach dem Berliner Kongreß von einer allgemeinen Mißstimmung gegen Deutschland keine Rede war. Erst das Bekanntwerden


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der Aufhebung des Artikels V des Prager Friedens habe zu einer Wandlung geführt, was freilich nicht ganz überzeugt. In der Zeit seit 1882, die unter dem wenig glücklichen Titel »Option für Deutschland« behandelt wird, sei die Presse Deutschland im allgemeinen freundlich gegenübergetreten. Auch Katkov habe keineswegs ein französisches Bündnis, sondern im wesentlichen eine Politik der freien Hand gewollt. Gerade 1890 sei die russische Presse zur Verständigung mit Deutschland bereit gewesen; ihre Haltung hätte also kein Hindernis für Erneuerung des Rückversicherungsvertrages gebildet. Die Arbeit scheint uns nicht immer der Gefahr zu entgehen, aus dem sehr umfangreichen Material der Presse nur das zu entnehmen, was die eigene These stützt. Immerhin zeigt sich deutlich, daß man nicht, wie vielfach bisher, die antideutsche Haltung der russischen Presse für Ende der 80er Jahre allzu scharf betonen soll. Freilich ist im Gegensatz zum Titel der Arbeit Presse nicht gleich öffentliche Meinung. -- Im Gegensatz zu der Arbeit von Grüning ist die von Propper ( 1081), der von 1875 bis in die Zeiten vor dem Weltkrieg als Journalist in Petersburg tätig war, sehr wenig ergiebig. Nach dem Ausdruck der Verlagsanzeige handelt es sich um »Küchengeheimnisse der zaristischen Politik« und was der Verfasser, wohl aus späterer Erinnerung heraus, berichtet, bedarf stets der Nachprüfung und ist vielfach ohne Zweifel unrichtig. Die Erzählung, daß der damalige Militär-Attaché von Schweinitz 1869 auf Bismarcks Befehl die russische Presse habe bestechen wollen, ist ebenso amüsant wie unglaubwürdig (S. 29 ff.). Es ist ja unmöglich, daß, wenn Schweinitz wirklich damals deswegen abberufen wurde, er später wiederum als Botschafter nach Petersburg kam. Ebenso unglaubwürdig ist die Behauptung, daß die Judenprogrome des Jahres 1881 in Rußland von Deutschland her veranlaßt worden seien, wie der Verfasser auf Grund etwas prahlerischer Äußerungen Stöckers bei einer zufälligen Begegnung in der Eisenbahn meint.

Toutain, der Verfasser des Buches über Alexander III. und die französische Politik ( 1083), war von 1885--1888 Sekretär der französischen Botschaft in Petersburg. Über deutsche Geschichte im besonderen enthält die Veröffentlichung so gut wie nichts. Ganz interessant sind die Eindrücke über die Beisetzung Wilhelms I.; Toutain war damals zufällig in Berlin. Vor allem will der Verfasser die französisch-russischen Beziehungen in den fraglichen Jahren schildern, die er als Vorläufer des französisch-russischen Bündnis bezeichnet. Die ganze, sehr tendenziöse Auffassung ist bestimmt durch die Neigung, das später Wirklichkeit werdende französisch-russische Bündnis schon in dieser Zeit stark vorbereitet zu sehen.


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