VIII. Bismarck und die Innenpolitik 1871--1890.

In seinem Vortrag über die deutsche Innenpolitik seit der Reichsgründung ( 1090) skizziert Ziekursch, ausgehend von der Problematik des konstitutionellen Systems, straff und klar die Bismarcksche Innenpolitik entsprechend den in seinem Buch entwickelten Anschauungen.

Das Bismarck-Buch des bekannten Politikers v. Kardorff ( 1052) enthält vier Vorträge, die Bismarcks Stellung zur konservativen und nationalliberalen Partei, Bismarcks Sturz und die Parteien, Bismarck nach seiner Entlassung und Bismarck und den Kulturkampf behandeln. Der Verfasser sagt in der Einleitung, daß diese -- die wissenschaftliche Bismarckliteratur mit großer Belesenheit verwertenden -- Vorträge dem Kenner der Literatur wenig oder nichts Neues


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bringen würden. Das ist bis zu einem gewissen Grade richtig. Aber es darf doch darauf hingewiesen werden, daß in manchen Dingen Kardorffs Auffassungen recht interessant sind und daß er vor allem auf Grund persönlicher Mitteilungen seines Vaters wie anderer politisch führender Persönlichkeiten gelegentlich neues Material mitteilen kann.

Das an anderer Stelle eingehender besprochene (vgl. S. 345) Buch von Brockhaus ( 1059) »Stunden mit Bismarck« enthält eine Fülle von Äußerungen Bismarcks aus den 70er Jahren über fast alle wichtigen Fragen der Innenpolitik des Zeitraums, daneben auch über außenpolitische Probleme, auch aus den Zeiten der Reichsgründung und über die Friedensverhandlungen mit Frankreich 1871. -- Auch die Universitätsrede von Rothfels über Bismarcks Sozialpolitik ( 1583), sei hier kurz erwähnt. Rothfels' Skizze ist für Bismarcks Persönlichkeit, wie für die gesamte Innenpolitik des Zeitraums wichtig. Vor allem betont Rothfels, daß Bismarck in der Praxis der Sozialpolitik ausschließlich vom Staate ausging, in der Überzeugung, nur der Staat könne die soziale Frage lösen. -- Der kurze Aufsatz von Borchard über Bismarck als preußischen Handelsminister ( 1063) gibt eine gedrängte und inhaltsreiche Übersicht der Probleme, die das preußische Handelsministerium in Bismarcks Ministerzeit beschäftigten. Auch eine Reihe für Bismarcks Persönlichkeit sehr charakteristische Äußerungen werden aus den Akten mitgeteilt. In einer Notiz des Jahres 1888 erklärt er das preußische Handelsministerium auf die Dauer für ebenso unmöglich, wie das mecklenburgische und sächsische. Die Pflege des deutschen Handels werde stets Aufgabe des Reiches bleiben. Auch eine Reihe von Kleinigkeiten, die Bismarck für den Bürobetrieb verfügte, u. a., daß jeder Beamter seinen Namen leicht leserlich zu schreiben habe, sind für seine bis ins Detail gehende Arbeitsweise und für sein Streben, Ordnung in den Schriftverkehr zu bringen, höchst charakteristisch. Bezeichnend ist auch, daß er nach seinem Amtsantritt befahl, bei den von ihm selbst unterzeichneten Immediatberichten den üblichen Devotionsstrich fortzulassen. -- Die von Andreas mitgeteilten Gespräche mit dem badischen Finanzminister Ellstätter ( 1062) sind von Ellstätter unmittelbar nach ihrem Stattfinden aufgezeichnet. Er berichtet über zwei Gespräche aus dem Jahre 1875, die im wesentlichen Finanzprobleme und die Frage der Verstaatlichung der Eisenbahn berührten und teilt eine Aufzeichnung aus dem Jahre 1877 über eine Sitzung des Reichsbahnkuratoriums mit, in der sich Bismarck vor allem über außenpolitische Fragen und die Stellung zu Frankreich äußerte. -- Aus den Aufzeichnungen des mecklenburg-schwerinschen Bundesratsbevollmächtigten Oldenburg hat Schüssler eine »kleine Auswahl« für die Jahre 1879--85 veröffentlicht ( 1060), die zunächst eine Anzahl charakteristischer Äußerungen Bismarcks enthalten. Das Wichtigste ist ein Einblick in die Arbeitsweise des Bismarckschen Bundesrats, der, formell föderalistischer Natur, tatsächlich nach einem Ausdruck Oldenburgs Order parieren mußte. Daneben ist in der Veröffentlichung interessant, daß sie den starken Widerstand des liberalen und dem Freihandel zuneigenden Oldenburgs gegen den Umschwung der Bismarckschen Innenpolitik zeigt; u. a. bezeichnet er die soziale Versicherung immer wieder als Sozialismus.

Die Arbeit von Schiffers über den Kulturkampf in Aachen ( 1092) ist auch für die allgemeine Geschichte interessant als wichtiger Beitrag zur Wirkung des Kulturkampfes in der Provinz. Charakteristisch ist etwa, daß sich die Behörden


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der Provinz bemühten, bei der Ausführung die Berliner Verordnungen zu mildern. -- Die Tübinger Dissertation von Sandberger über die Ministerkandidatur Bennigsens ( 1093) benutzt mit Ausnahme ungedruckter Stellen des Tagebuchs von Falk nur gedruckte Literatur und fördert das behandelte Problem nicht entscheidend. Natürlich wird auf Grund des inzwischen reichlich erschienenen gedruckten Materials manches Detail in der Darstellung der Onckenschen Biographie korrigiert. In den entscheidenden Punkten scheint uns Sandberger Onckens Auffassung nicht zu widerlegen. Auch die ziemlich breite Behandlung der Motive Bismarcks zur Ministerkandidatur Bennigsens kommt im Grunde nur dazu, eine Reihe von Motiven nebeneinander zu stellen. Bennigsens selbst wird von Sandberger scharf verurteilt. Aus Parteigebundenheit sei er Bismarck nicht entgegengekommen. Aber war Bennigsen nicht gerade deshalb, weil er, wie der Verfasser immer wieder betont, keine starke Führerpersönlichkeit war, sachlich durchaus berechtigt, wenn er nicht als einziger Nationalliberaler in ein Bismarcksches Ministerium eintreten wollte, wobei er, wie Sandberger sagt, seine ganze Vergangenheit aufs Spiel gesetzt hätte. Gerade wenn Bismarck bei der Ministerkandidatur Bennigsens, wie Sandberger meint, die Bildung einer Rechtsmehrheit von den Konservativen bis zum regierungsfreundlichen Flügel der Nationalliberalen und eine Sprengung der Partei beabsichtigte, war im Grunde Bennigsens Ablehnung berechtigt. Unter diesen Umständen ist auch die Behauptung von Sandberger, Bismarck habe in keiner Phase der Verhandlungen einen Bruch mit den Nationalliberalen erwogen, nur formell richtig. Denn die ganze Kombination beruhte auf dem Ziel der Spaltung der Partei. Und schließlich, wenn Bismarck wirklich in Bennigsen vor allem »die angenehme Persönlichkeit«, d. h. den bequemen Kollegen, erst in zweiter Linie den Parteiführer sah, so hatte Bennigsen von seinem Standpunkt aus völlig recht, auf Bismarcks Angebot nicht ohne Bedingungen einzugehen. Die scharfe Verurteilung Bennigsens durch Sandberger entspringt überhaupt einer etwas versteiften Auffassung des gesamten Problems, was auch darin zum Ausdruck kommt, daß abschließend betont wird, das »Recht« sei auf Bismarcks Seite gewesen. Bei solchen politischen Problemen haben im Grunde beide Seiten von ihrem Standpunkt aus »recht«, wenn man überhaupt diesen Ausdruck gebrauchen will.

Die kleine Schrift von Toennies über das Sozialistengesetz ( 1094) verwertet kein neues Material und bringt eine scharfe, politisch und persönlich bedingte Verurteilung der Politik des Sozialistengesetzes. Sie ist wichtig durch die anschauliche Schilderung der wirtschaftlichen und sozialen Zustände der behandelten Zeit. -- Der Aufsatz von Kehr ( 1076) nimmt die auch an dieser Stelle (vgl. Jberr. 1928 S. 221) als völlig unzulänglich kritisierte Veröffentlichung des Sohnes von Puttkamer über seinen Vater zum Anlaß, um eine ebenso interessante wie überscharfe und zu sehr vereinfachende Betrachtung über die soziale Umschichtung in Preußen in den Zeiten Puttkamers zu veröffentlichen. Er weist auf die Vorgänge hin, die das Verschwinden des liberalen Geheimrats bedingten und in einer mehr oder weniger bewußten Stellenpolitik nur streng konservative Persönlichkeiten in die Beamtenstellen brachten. Als Hauptergebnis der Umschichtung wird hingestellt, daß eine neue feudale Bourgeoisie entstand, u. a. unter starker Ausnutzung des Instituts des Reserveoffiziers. Kehr weist damit ohne Zweifel auf Probleme hin, die wichtiger sind als manche in die Augen tretenden äußeren Vorgänge, obwohl ihre abschließende


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Behandlung eingehendere Betrachtung nötig macht, als es dieser von der Polemik ausgehende und vielfach in ihr steckenbleibende Aufsatz tun kann.


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