§ 24. Deutsche Geschichte von 1890--1914

(H. Herzfeld)

Die Schwierigkeit, intimere Quellen zur inneren Geschichte Deutschlands seit 1890 in reicherem Ausmaß zu erschließen, ist auch in dem neuen Berichtsjahr nur in vereinzelten Fällen überwunden worden. Durchschnittlich gilt heute noch, daß am ehesten Fragen der Bearbeitung zugänglich sind, die in der Hauptsache mit publizistischem und literarischem Material gelöst werden können. Die Memoirenliteratur ist zwar in ständiger Mehrung begriffen, nach den trüben Erfahrungen, die die diplomatische Geschichte seit der Erschließung ausgedehnten Aktenmaterials über den Wert dieser Kategorie gemacht hat, ist aber in ihrer Auswertung eine gewiß nur begrüßenswerte Zurückhaltung eingetreten, soweit die eigentlich wissenschaftliche Literatur in Frage kommt. So ist auch diesmal nur über sehr ungleichmäßige und zerstreute Beiträge zur inneren Geschichte zu berichten.

Die Diskussion um Wilhelm II. hat in der Arbeit M. Buchners über die Katholiken und die Weltanschauung des Kaisers ( 1116) einen warmherzig gemeinten Versuch gebracht, von katholisch-konservativem Standpunkt aus der Nachkriegskritik an dem Monarchen entgegenzutreten. Das Buch ist aus wesentlich moralischen Antrieben, aus verletztem Gerechtigkeitsgefühl entstanden und arbeitet sehr stark mit dem historisch bedenklichen Material der öffentlichen Kundgebungen Wilhelms II. Es kann im einzelnen aber durch Hinweise auf die


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Beziehungen zwischen Wilhelm II. und hervorragenden Persönlichkeiten des deutschen Katholizismus nützlich werden. -- Ebenfalls in die Kategorie einer Apologetik, die ihr Ziel verfehlt, weil der Standpunkt von Anfang an gegeben ist, gehört A. Niemanns Buch über die kaiserliche Kommandogewalt ( 1117). Das politisch wie militärisch wichtige Thema ist ohne eigene Forschung auf Grund sehr begrenzter Literatur mit dem Ziel behandelt, nachzuweisen, daß die Regelung des Verhältnisses von politischer und militärischer Gewalt im Kaiserreich zwar technisch den gesteigerten Ansprüchen des Weltkrieges nicht genügend angepaßt worden sei, an sich aber eine prinzipiell richtige Lösung bedeutet habe.

Auch die Beiträge zur biographischen und Memoirenliteratur des Jahres bringen zum großen Teil nur begrenzten Ertrag. Die Görresgesellschaft hat durch Adolf Dyroff eine Reihe von Reden und Ansprachen des Grafen Hertling ( 1303) herausgeben lassen, die ihn vornehmlich als katholischen Gelehrten der Zeit um die Jahrhundertwende, als Vorkämpfer der Paritätsforderung und im Ringen um das Problem: Katholizismus und Wissenschaft zeigt. Ein Anhang bringt eine Reihe persönlicher Erinnerungen an ihn aus Freundes- und Mitarbeiterkreisen, die im Todesjahr 1919 in Presseorganen erschienen sind. Am wichtigsten ist von diesen meist die Bonner Lehrzeit berührenden Beiträgen der Aufsatz von K. Hoeber über Hertlings Jugendfreundschaft mit Theodor Stahl, der als wertvolle Ergänzung der Erinnerungen Hertlings das Freundespaar zu Beginn der 60er Jahre im Strome großdeutsch-katholischer Überzeugungen zeigt. -- Buchhändlerisch ein großer Erfolg sind die Erinnerungen der Fürstin Pleß ( 1171) doch mehr ein Beleg für die politische Naivität einer schönen Frau, deren wohlgemeinte Amateurdiplomatie aus den Schwierigkeiten emporwuchs, denen die Engländerin in Deutschland ausgesetzt war. Ihr englischer und deutscher Verkehrskreis bewegt sich vor 1914 im engsten Bereich der politisch maßgebenden Persönlichkeiten und die lebendig wiedergegebenen Eindrücke der Verfasserin sind nicht ohne Interesse; im Gegensatz zu dem übertrieben scharfen, im Grunde sie überschätzenden Skandalurteil der Kriegsjahre ist ihr psychologisches Urteil über Wilhelm II. nicht ohne Bestreben, gerecht zu sein und erwiesenes Wohlwollen ritterlich zu vergelten, während sie anderen Persönlichkeiten gegenüber stärker versagt. Tieferer historischer Gehalt ist in dem zweibändigen Werk nicht zu suchen. -- Ein liebenswürdiges Erinnerungsbuch ohne jede Neigung zur Überschätzung der eigenen Person ist die Lebensbeschreibung des Prinzen Heinrich von Schönburg-Waldenburg ( 1119). Schon als Leutnant im Potsdamer Leibhusarenregiment, dessen Atmosphäre gut geschildert wird, mit dem künftigen Kaiser vertraut geworden, hat der Prinz von 1900 bis 1902 die Stelle eines kaiserlichen Flügeladjutanten bekleidet und schildert anschaulich die bekannte atemlose Hetzjagd des kaiserlichen Lebens mit dem Versuch, die oft erhobene Anklage der Flügeladjutantenpolitik als unzutreffend nachzuweisen. In den ersten Kriegsjahren dem kaiserlichen Hauptquartier angehörig, vermag er auch hier nur die allgemeine Atmosphäre wiederzuspiegeln und hat an den Ereignissen keinen bedeutsameren Anteil gehabt.

Die Erinnerungen und Aktenstücke aus dem Leben des Lübecker Bürgermeisters F. Fehling ( 1172) bringen ein bürgerlich patrizisches Lebensbild voll Arbeit und hoher geistiger Kultur. Über den Kreis seiner Vaterstadt und der rein hanseatischen Entwicklung greifen sie hinaus durch seine Tätigkeit als


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Bundesratsvertreter. Besonders der Anhang, der Berichtsmaterial zur Geschichte der Reichsfinanzreform von 1907 und das Ringen um Heeresvorlage und Dekkungsgesetze von 1913 bringt, ist zur inneren Geschichte des Reichs zu beachten. Für die Kriegsjahre spiegelt das Buch das Sinken der Bedeutung des Bundesrates bis zum J. 1917 wieder. -- Zur deutschen Kolonialgeschichte hat Th. Seitz seine Erinnerungen in zwei kleinen Bändchen ( 1173) zum Abschluß gebracht. Sie zeigen die unerquickliche Lage, in der sich die Kolonialabteilung vor 1907 gegenüber dem Reichstag befand und bringen in der Schilderung seiner Gouverneursarbeit in Kamerun (1907--10) und Südwestafrika (1910--15) einen lebendigen Beitrag über die Leistung der deutschen Kolonialarbeit am Vorabend des Weltkrieges, dessen Vorzeichen auf diesem vorgeschobenen Posten schon seit 1910 um so drückender fühlbar wurden, als die Schutztruppe mit ständiger Abneigung des Reichstages zu rechnen hatte. Der Schluß des Werkes gibt eine Rechtfertigung der im Juli 1915 von Seitz abgeschlossenen Kapitulation, die die Rettung des deutschen Elementes in Südwest erreicht habe. -- Die schwierigste Entwicklungsphase dieser Kolonie beleuchtet die -- von seinem Sohne verfaßte -- Biographie des Gouverneurs Leutwein ( 1174), deren Interesse über diesen speziellen Fragenkreis herausragt, da sie sehr offen und kritisch die Gegensätze zwischen Gouverneur, Generalstab und Militärkabinett während des Hereroaufstandes erörtert und mit der Beleuchtung dieser Friktionen einen Beitrag zu der Problematik der deutschen Heeresorganisation vor dem Kriege überhaupt liefert. -- Historisch so gut wie bedeutungslos ist das neue Büchlein von W. Ohnesseit über seine Tätigkeit als Konsul in Jassy, Riga und Odessa ( 1175), das fast nur von Fragen des deutschen Auslandschulwesens handelt. Der Verfasser ist bei dem deutschen Vormarsch in Südrußland 1918 erneut in sein früheres Tätigkeitsgebiet entsandt worden und hat dort die Monate vom Zusammenbruch bis zum Abtransport der Deutschen durch Frankreich miterlebt.

Abschließend sind aber doch zwei wichtige Quellenpublikationen militärischer Art zu verzeichnen, die recht bedeutsamen geschichtlichen Gehalt besitzen. Es ist das zunächst die Publikation von Mohs über Waldersees militärisches Wirken ( 1118). Hatten die Tagebücher Waldersees in erster Linie seinen starken politischen Ehrgeiz hervortreten lassen, so erlaubt die Ausgabe von Mohs jetzt einen Überblick über seine soldatische Laufbahn und Leistung, der nicht mehr gestattet, ihn vorwiegend als Hofgeneral abzutun. Man gewinnt das Bild eines wohlverdienten militärischen Aufstieges, dessen Arbeit an den deutschen Aufmarschplänen für den Zweifrontenkrieg schon unter Moltke wichtiges Material zur wachsenden Ungunst der strategischen Lage Deutschlands bringt. Zusammen mit der Publikation von Schmerfeld erweitert sie wesentlich unser sachliches Verständnis dafür, daß die Walderseesche Forderung des Präventivkrieges von militärischem Standpunkt aus mit begreiflicher Notwendigkeit entstehen mußte. Sie kann daher nicht mehr mit der früheren Stärke aus seinem politischen Ehrgeiz abgeleitet werden. -- Auf ebenso reiches Material erster Hand sind die liebenswürdigen Denkwürdigkeiten des Feldmarschalls v. d. Goltz ( 1290) gegründet, die, das ganze Leben dieses geistvollen Soldaten umspannend, von den Reichsgründungskriegen an ein inhaltreiches Spiegelbild der deutschen Heeresentwicklung geben, das durch die Selbständigkeit des Verfassers stets auf die Forderungen der nationalen Selbstbehauptung im ganzen bezogen


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ist. Goltz' klippenreiche Karriere, die diesen unabhängigen Geist in stetem Kampfe mit bürokratisch-traditioneller Engherzigkeit an den leitenden Stellen der Armee zeigt, repräsentiert ebenso die besten Seiten des deutschen Heeres, wie die bedenklichen Gefahren, die aus der Erbschaft der glänzenden Erfolge von 1864 bis 1871 sich eingestellt haben. Die letzten Jahre vor dem Krieg haben seinem Ansehen durch den unglücklichen Verlauf des türkischen Balkankrieges von 1912/13 einen zwar unverdienten, aber doch so schweren Schlag versetzt, daß hier mehr als in seinem erstaunlich rüstigen Alter die Wurzel für seine tragische Nebenrolle im Weltkrieg gelegen hat. Tagebücher und Briefe der J. 1914--17 über seine belgische Generalgouverneurzeit und türkische Wirksamkeit sind außerordentlich lehrreich und zeigen ihn als scharfsinnigen, sehr beachtlichen Kritiker der deutschen Heeresführung seit der Marneschlacht.

Unter den darstellenden Arbeiten des Jahres ragt durch Erschließung wertvollen neuen Materials das Buch hervor, das Zechlin ( 1122a) über die Staatsstreichpläne Bismarcks und Wilhelms II. geschrieben hat. Trotz des Titels, der Politik des Reichsgründers und der Epigonen zu stark in eine Ebene schiebt, ist schon die meist mit bekanntem Material arbeitende Behandlung von Bismarcks Kampfideen gegen Reichstag, Wahlrecht und Sozialdemokratie bestrebt, diese letzte Phase Bismarckscher Innenpolitik auf dem Hintergrund seiner gesamten Staatsanschauung und damit in ihrer eigentlichen Tiefendimension zu zeigen. Dies Bestreben wird lehrreich gefördert, indem Bismarcks Anschauung vom Reich als ursprünglichem Bund der Fürsten mit der Auffassung der neueren staatsrechtlichen Literatur in Verbindung gesetzt wird. Schon für diese Fragen hat Z. wertvolles neues Material aus den Akten der Reichskanzlei beigebracht. Der zweite Teil seines Buches über die Weiterentwicklung bis zu Caprivis Sturz zeigt mit seiner reichen Dokumentation aus den Akten der Reichskanzlei, des Auswärtigen Amtes und des preußischen Staatsministeriums, sowie bayrischen und sächsischen Gesandtschaftsberichten aus Berlin geradezu, was mit diesem Material zu leisten ist, wie sehr aber auch eine erfolgreiche Forschung zur inneren Geschichte des Reiches auf seine Erschließung angewiesen ist. An Problemgehalt ist diese sprunghaft wechselnde Epigonenpolitik der bismarckschen nicht vergleichbar, aber Zechlin hat doch zum ersten Male und mit wichtigen Ergebnissen die Anfänge jener Reaktionswelle gegen den neuen Kurs beleuchtet, die für die zweite Hälfte der neunziger Jahre so wichtig geworden ist. -- Für das Ende dieses Jahrzehntes ist noch die gediegene Leipziger Dissertation von R. Förster über die Geschichte der preußischen und deutschen Flotte bis 1898 ( 1126) zu nennen. Aus dem Reichswehrministerium und Marinearchiv ist hier reiches Material zur Entwicklung der Flotte seit der Mitte des 19. Jhds. zusammengetragen, das die bisherigen Ansätze zur Behandlung dieses Problems erheblich überholt. Von starkem Interesse schon für die Bismarckzeit liegt das Hauptgewicht der Arbeit doch auf der verwirrten Stagnationsperiode von 1890 bis 1898. In Parallele zu H. Hallmann wird Kritik an Thimmes Auffassung der Verbindung zwischen Krügerdepesche und Flottenbau geübt. F. unterbaut von neuem die Auffassung, daß 1898 notwendig eine Änderung der verfahrenen Flottenverhältnisse eintreten mußte. Die Arbeit schließt mit einer Darstellung der publizistischen Propaganda für das 1. Flottengesetz, die mit der bekannten Verschiebung der Fronten H. Delbrück im Lager der Handelsneidtheorie zeigt.


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Auch für die Geschichte der deutschen Außenpolitik nach 1890 sind gerade für die ersten Jahre eine Reihe besonders wertvoller Erzeugnisse zu verzeichnen, neben denen dann als wichtiger Bestandteil der Literatur des Jahres vor allem die breite Polemik zur englischen Bündnisfrage um die Jahrhundertwende steht. Die zusammenfassende Darstellung tritt hinter der monographischen Literatur ganz zurück und kreist in den meisten Fällen zu sehr um das Problem der Kriegsschuldfrage, um feinere geschichtliche Fragestellung zuzulassen. Diese Gefahr ist mit Bewußtsein vermieden in der Abhandlung W. Mommsens über die Vorgeschichte des Weltkrieges ( 1115), der aber im knappen Rahmen eines Vortrags nur eine Skizze der größten Linien mit vorsichtig abgewogenem Urteil geben kann. -- C. Bornhaks starker Band über die Kriegsschuld ( 1113) ist zu ausschließlich auf die deutschen Akten aufgebaut. Mehr ein Kommentarwerk zu diesem, als wirklich Geschichte der deutschen Weltpolitik, auch in seiner günstigen Beurteilung Wilhelms II. nicht eingehend genug begründet, zeigt das Buch, daß heute eine befriedigende Darstellung nicht mehr auf so begrenztem Material aufgebaut werden kann. -- C. R. Beazleys Abhandlungen über die Verantwortlichkeit für den Weltkrieg in der KSF. ( 1114) umspannen die ganze Periode seit 1870 und sind durch vielfache Übereinstimmung mit dem Urteil der deutschen Forschung erfreulich; sie gehen aber stark im Detail auf und enthalten mehr kritische Zurückweisung von Einzelanklagen gegen die deutsche Politik, als ein Gesamtbild der Entwicklung.

Aus der Einzelforschung ist zunächst W. L. Langers überaus fleißiges und gediegenes Buch zur Entstehung des französisch-russischen Zweibundes ( 1123) zu nennen, das zu den verständnisvollsten und besten Beiträgen der amerikanischen Forschung zur europäischen Vorkriegsgeschichte gerechnet werden muß. Aufgebaut auf umfassende Literaturkenntnis, gründliche Auswertung auch entlegener offizieller Publikationen, von Publizistik und Presse, sowie die für diesen Fragenkreis allmählich Allgemeingut der Forschung werdende Durcharbeit der Wiener Akten vermag sich die Arbeit ehrenvoll neben und nach der gediegenen Leistung O. Beckers zu behaupten. Im Urteil über das Bismarcksche Bündnissystem und die Kündigung des Rückversicherungsvertrages zeigt sie weitgehende Übereinstimmung mit der deutschen Auffassung und beleuchtet so die Weite des Fortschrittes, den diese Annäherung gegen manche amerikanischen Publikationen der ersten Nachkriegsjahre bedeutet. Durch sorgfältige und ausgedehnte Zeichnung des Hintergrundes, den die europäische Politik für die französisch-russische Annäherung bot, sind zwei Probleme ausgiebig neu beleuchtet, die beide in der deutschen Forschung schon angeschnitten waren, hier aber erheblich erweiterte und vertiefte Behandlung erfahren: Der Zusammenhang der katholisch-kurialen Ralliementspolitik des Kardinalstaatssekretärs Rampolla mit der Entstehung des Zweibundes und die Bedeutung der Mittelmeer- und Asienfragen für die französische und russische Politik im Gegensatz zur englischen. L. ist mit sehr sorgfältiger Begründung geneigt, für Rußland anzunehmen, daß ihm der werdende Zweibund wenigstens seit 1893/94 überwiegend Instrument antienglischer Politik geworden sei. Er möchte überhaupt die Bedeutung dieses Bündnisses relativ recht gering einschätzen und meint, daß es Frankreich mehr belastet als genützt habe, weil bei der steten Interessendivergenz zwischen den beiden Verbündeten Rußland am stärkeren Hebel gesessen habe. Bleibt das Bedenken und Zweifeln ausgesetzt, so kann das Urteil über den


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Gesamtwert der Arbeit doch dadurch nicht erschüttert werden. -- Ein Teilproblem des gleichen Zeitraumes, das auch Langer sachkundig und vorsichtig behandelt, hat die kluge und in ihrer Forschung doch gediegene Studie von W. Herrmann über Dreibund, Zweibund und England 1890--95 ( 1122) behandelt. Sie beruht in ihrem Fundament naturgemäß auf der Arbeit O. Beckers und hätte das stärker hervorheben können. Auch der methodische Weg, Heranziehung der Wiener Akten, war von Becker gewiesen, hat aber hier in vielen Punkten wertvolle ergänzende Ergebnisse geliefert. H., der die österreichische Kritik am Neuen Kurs gleich Becker scharf unterstreicht, sieht in Kálnoky die stärkste diplomatische Kraft des Dreibundes nach Bismarcks Sturz. Besonders eingehend hat er die umstrittene Frage der Rosebery-Sondierung von 1894 behandelt und doch wohl wenigstens so viel gesichert, daß diese Aktion österreichischen, nicht englischen Ursprungs ist und daß die auch von österreichischer Seite nicht einfach zu widerlegende deutsche Besorgnis eines dolus eventualis bei Rosebery nicht unberechtigte Motive gehabt hat. Die Sondierung und ihr Scheitern ist ihm letzten Endes: »das Produkt österreichischen Drängens und englischen Widerstandes«.

Kálnokys Rolle bei dem Sturz des Ministeriums Taaffe im J. 1893 behandelt Ed. Heller ( 1125) mit dem Ergebnis, daß zwar im Hintergrunde gegensätzliche Auffassungen über das deutsche Bündnis zwischen Kálnoky und Taaffes Berater Steinbach festzustellen sind, diese aber bei den akuten Vorgängen des Ministersturzes nicht mitgewirkt haben, da von Kálnoky wie Taaffe die Grenzlinie zwischen Außen- und Innenpolitik stets möglichst gewahrt wurde. -- Zum letzten Jahrzehnt des 19. Jhds. ist noch die Dissertation von Zapp über deutschfranzösische Annäherungsversuche bis 1898 ( 1124) zu nennen, die, ganz auf der deutschen Aktenpublikation beruhend, die Begrenztheit aller dieser Anläufe durch die Zurückhaltung Frankreichs feststellt. -- Jene Politik der Wiederaussöhnung von Kurie und französischer Republik, die W. Langer in seinem Buche behandelt, hat M. Claar in einer sachkundigen Studie über den Kardinal Rampolla ( 1140) bei dessen Tode mit mehr biographischer Absicht gewürdigt und gezeigt, daß hier eine bewußt politische Option im Spiel der großen Mächte vorlag, deren Erfolg aber durch Übersteigerung des Klerikalismus in Frankreich in das Gegenteil umschlug. Cl. legt die inneren Zusammenhänge dieser Politik Rampollas mit dem österreichischen Einspruch gegen seine Papstwahl nach dem Tode Leo XIII. dar.

Eines der umstrittensten Probleme der deutschen Vorkriegspolitik hat das Reichstagswerk des Untersuchungsausschusses mit seinen zwei Bänden über Deutschlands Haltung auf den Haager Friedenskonferenzen ( 1132) erreicht. Sie bieten wertvolles Material durch den scharfen Gegensatz, der im Laufe der Verhandlungen zwischen den verschiedenen Sachverständigen zutage trat. Gegen das erste Gutachten Wehbergs, der unter völliger Isolierung der deutschen Politik zu schärfster Verurteilung am Maßstabe einer prinzipiellen Bejahung der pazifistischen Idee gelangte, haben alle Mitgutachter, Delbrück, Montgelas, Thimme und Hoeniger, entschiedenen Einspruch erhoben. Wir verdanken es dieser Auseinandersetzung, daß die Gutachten auch die Klarstellung des Verhaltens der übrigen Mächte in die Untersuchung einbezogen haben und so helfen, aus dem allgemeinen Milieu der Zeit heraus das Verständnis der deutschen Skepsis zu vertiefen. Auch der vielangegriffene Geheimrat Kriege, der


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als Zeuge vernommen wurde, konnte aus schlimmen Erfahrungen, die Deutschland besonders Amerika gegenüber mit dem Schiedsgerichtsprinzip gemacht hat, und durch Klarlegung der deutschen Vorarbeiten für eine durch den Weltkrieg vereitelte dritte Haager Konferenz zur milderen Beurteilung der deutschen Politik beitragen. In diesen Gutachten ist unsere quellenmäßige Kenntnis zum Thema auch über die große Aktenpublikation hinaus wesentlich erweitert, so daß die historische Forschung hier einen dankenswerten Ertrag des Untersuchungswerkes buchen muß. Die darstellende Verarbeitung dieses neuen Stoffes steht noch aus. Die eingehende Frankfurter Dissertation von Junk über die erste Haager Konferenz ( 1132a) war bereits vor Erscheinen dieser grundlegenden Publikation herausgekommen. Ihre verständige und fleißige Verarbeitung des ganzen älteren Materials kann nur noch als Ausgangspunkt benutzt werden, von dem aus der neue Wissensertrag einzugliedern ist.

Eine ganze Flut von Literatur jeder Art knüpft sich an die großen Entscheidungen der Jahrhundertwende. Sie ist bereits verbunden mit dem Problem der Gesamtbeurteilung Bülows, das seit seinem Tode von Jahr zu Jahr größere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Der Aufsatz, den Herre ( 1117a) bei dieser Gelegenheit erscheinen ließ, hat bereits Grundlinien einer Kritik vorgezeichnet, die sich durch Bülows Memoiren noch wesentlich verschärfen sollte. -- Die beginnende Bülow-Konjunktur brachte eine zweibändige Publikation des Verlages Reißner aus seinen amtlichen Schriften ( 1117b), die nur als Plünderung der großen Aktenpublikation bemerkenswert ist. Die Einleitung des ungenannten Herausgebers mit starker Kritik gegen Bülow ist ohne eigene Bedeutung. Hat man ein Präventivmittel gegen das bevorstehende Erscheinen der Bülowschen Memoiren für nötig gehalten, -- denn das schien der Zweck zu sein --, so ist Bülow nach seinem Tode noch einmal überschätzt worden.

Die komplizierte weltpolitische Lage um die Jahrhundertwende ist zu einem Lieblingsgebiet für Dissertationen geworden. Die Münsterer Arbeit von B. Zims über den spanisch-amerikanischen Krieg ( 1131a) ist eine brauchbare Erweiterung für dieses in größerer Arbeit schon von H. Leusser angeschnittene Thema, die zur Ergänzung der Akten auch wirtschaftliche Fragen und öffentliche Meinung heranzieht. -- H. H. Schacht über die mazedonische Frage bis zum Mürzsteger Programm ( 1128) gibt nur stoffliche Verarbeitung der deutschen Aktenpublikation ohne stärkere politische Einordnung. -- I. Bachmann: Von Kiautschou bis Kreta (Diss. Köln 1929, Teildruck) ist interessant, weil sie Rückwirkungen der Salisburyschen Bündnissondierung bei Rußland im Anfang 1898 auf diesem Fragengebiet nachweist und eingehend den sehr ernsten Stimmungsreflex dieser Lage in der offiziösen deutschen Presse beleuchtet. -- Eine weitgespannte, auch in der Auswertung beachtliche Behandlung hat die Rolle des fernen Ostens in der allgemeinen Politik der Jahrhundertwende durch H. Zühlke erhalten ( 1126a). Der Verfasser, ein Schüler von H. Rothfels, hat, ausgehend von dessen Grundanschauungen, sich erfolgreich bemüht, die einzelnen Phasen der ostasiatischen Politik stets in Hinblick und Wertung auf ihren Zusammenhang mit der Gesamtlage des Mächtesystems zu behandeln, ohne dabei seinem Spezialthema übertriebene Bedeutung für den allgemeinen Gang der Dinge zuzuschreiben. Sein Schlußergebnis stellt vielmehr gerade fest, daß die Fragen der ostasiatischen Politik weder Rußland vom Zweibund abzuziehen, noch ein deutsch-englisches Bündnis zu schmieden vermochten. Als Beitrag zur


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Einzelforschung sei besonders hervorgehoben die eingehende Behandlung der mit Recht als hochbedeutsam gewerteten Salisburyschen Rußlandsondierung von 1898, die sich nach russischem Material des Krasny-Archives heute noch erweitern ließe, und die so eingehend und instruktiv noch nicht vorgenommene Verbindung der einzelnen Phasen der Boxerexpedition mit der Allgemeinpolitik der J. 1900--01. Das gegen den Durchschnitt sehr ruhige und vorsichtig milde Urteil des Verfassers über die deutsche Chinapolitik erscheint in seiner soliden Begründung doch recht beachtenswert.

Mit H. Höhnes Aufsatz über Chamberlains politischen Werdegang ( 1128a), der in dankenswerter Ausnutzung englischer Literatur die Entstehung seiner deutsch-amerikanischen Bündnisidee bis in die 80 er Jahre zurückverfolgt und sie als Ergebnis seiner ganzen Entwicklung nachweist, beginnt der große Kreis der Arbeiten zur deutsch-englischen Bündnisfrage. Wie schon der Bericht über die beiden letzten Jahre (Jg. 1928, S. 268/69; Jg. 1929, S. 223) vorausnehmen konnte, hat das Erscheinen der englischen Akten zu diesem Problem keine Lösung, kaum eine Abschwächung der schwebenden Streitfragen herbeigeführt. Bejahung und Verneinung englischer Annäherungs-, ja Bündnisbereitschaft, Begründung des Scheiterns der Verhandlung auf englische Ablehnung oder Ungeschick deutscher Forderungen stehen sich noch ebenso schroff wie in den früheren Stadien der deutschen Forschung gegenüber. In der Differenz zwischen den Aussagen deutscher und englischer Akten ist die Diskussion über den Wert der deutschen Akten zur Beurteilung der englischen Akten heute noch nicht ausgetragen. Joh. Haller ( 1129) hält so entschieden an dem Zeugniswert der deutschen Akten für die englische Seite der Vorgänge fest, daß er sogar die Gegnerschaft Salisburys gegen den Bündnisplan in Zweifel zieht. Die deutsche Forderung nach Einbeziehung des gesamten Dreibundes bleibt ihm der entscheidende Wendepunkt für den Mißerfolg der Verhandlungen. In allen Hauptsachen ist also hier die ältere Auffassung des Bündnisproblems unerschüttert erhalten, wenn auch manche Schattierungen verändert sind. -- Das gleiche Gepräge trägt auch W. Beckers eingehendes Buch über Fürst Bülow und England 1897--1909 ( 1129a), das in der Hauptsache schon vor dem Erscheinen der englischen Akten ausgearbeitet war und diese Lage nicht verleugnet. Es handelt sich um eine breite, vernichtende Ablehnung der Bülowschen Politik, die merkwürdigerweise die politischen Spannungen aus der Bagdadbahnpolitik sehr optimistisch, dafür aber Bülows Englandpolitik mit um so größerer Schärfe beurteilt. Der neuen Quellenlage ist hier insofern Rechnung getragen, als die Kritik vor allem gegen die deutsche Zurückhaltung in den J. 1898/99 gerichtet ist, während für 1901 doch die Bedeutung von Salisburys Widerstand nicht verkannt wird. Auch hier bleibt jedoch die deutsche Politik der Hauptverantwortliche, indem in methodisch sehr bedenklicher Weise Bülows Deutsche Politik von 1916 herbeigezogen wird, um zu erhärten, daß die letzte und stärkste Wurzel für seine Zurückhaltung in den Flottenbauplänen gelegen habe. Der sehr eingehende zweite Teil des Buches führt dann die Entwicklung des Flottenbauproblems bis zu Bülows Sturz weiter. Unter schroffster Ablehnung der Tirpitzschen Risikoidee wird die trennende Wirkung des Flottenbaues als Hauptfundament der wachsenden deutsch-englischen Spannung betrachtet. Bülows verspätete Versuche, in dieser Frage einzulenken, dienen dazu, das negative Urteil über seine Gesamtpolitik zu letzter Schärfe zu steigern.


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Die entgegengesetzte Strömung, die nach den neuen englischen Akten ein englisches Bündniswerben nicht mehr als gegeben ansieht, wurde von G. Ritter ( 1130) vertreten, der nach diesem Material zuerst eine scharfe Kritik an den Eckardtsteinschen Berichten übte. Er begrenzt auch die Neigung Lansdownes, dem deutschen Werben entgegenzukommen, mit Recht sehr viel schärfer, als dies vielfach geschehen ist, hat aber die Möglichkeit, in Spezialententen vielleicht doch noch einen Boden für deutsch-englische Annäherung festzuhalten, noch nicht näher in die Erörterung gezogen. Verdienstvoll war es, daß er grundlegend auf die englischen Bedenken hinwies, die ganz generell in der kontinentalen Gespanntheit der deutschen Lage zwischen den Mächten des Zweibundes, in der daraus folgenden Abneigung gegen eine Garantie für Elsaß-Lothringen das Hauptmotiv der englischen Zurückhaltung enthüllen. -- Dieser kritische Standpunkt ist dann, noch ausführlicher und sehr sorgfältig begründet, auch von G. Roloff ( 1130a) vertreten worden. Hier ist Stadium für Stadium die Kritik der Eckardtsteinschen Berichte in meines Erachtens so überzeugender Weise durchgeführt, daß eine Anrufung der deutschen Akten gegen die englischen über die englische Seite der Verhandlung nicht mehr möglich sein sollte. Wie Ritter verneint auch Roloff, und zwar mit überzeugender Begründung, den häufig auftretenden Versuch, in dem provisorischen Vertragsentwurf Sandersons vom 23. 5. mehr als eine Grundlage für die Beratungen des englischen Kabinettes, nämlich ein Zeichen momentaner Bündnisbereitschaft, zu sehen. Auf die Bedeutung der Tatsache, daß Lansdowne noch Ende 1901 Gegner der Salisburyschen Isolierungsneigung und bereit war, Sonderabmachungen mit Deutschland zu erwägen, ist hingewiesen, ohne die hypothetische Erörterung hierin eventuell enthaltener Entwicklungsmöglichkeiten aufzunehmen.

Am Abschluß dieser Literatur ist noch das eigenartig verbissene Buch von H. Kantorowicz über den Geist der englischen Politik ( 1134) zu erwähnen, das alle Sünden systematischer Englandabneigung, die in Deutschland seit 1914 begangen wurden, durch ebenso systematische Überspannung nach der anderen Seite wieder gut macht. Für die engere geschichtliche Betrachtung kommt dieses Buch nicht in Frage, das, wo es Akten verarbeitet, sie mit ganz subjektiver Einseitigkeit nach feststehenden Ideen interpretiert. K.s Psychologie des Engländers, sein Ruhm englischer Ritterlichkeit, Sachlichkeit, Humanität und Irrationalität enthält im einzelnen manche beachtenswerte Korrektur einseitiger Verkennung englischen Wesens, sowie feine Hinweise auf die Vorzüge englischer Art, die aber in ihrer systematisch-einseitigen Idealisierung auch völkerpsychologisch nur ein stilisiertes Phantasiebild schaffen, das sich wirkungsvoll gegen ein ebenso einseitig ins Gegenteil stilisiertes dunkles Bild kontinentalen, besonders deutschen Wesens abheben soll. Vorstellungen und Charakteristik des Verfassers über die deutsche Forschung zu Kriegsentstehung und Kriegsschuldfrage, die überall nur eine große Verschwörung gegen die Wahrheit und den Weltfrieden erblicken, stehen außer jeder Diskussionsmöglichkeit.

Die Lage um die Jahrhundertwende behandelt auch Bd. 1 der 2. Serie der französischen Aktenpublikation ( 1153), der das J. 1901 umfaßt. Hier wie bei dem später zu besprechenden Eröffnungsbande der 3. Serie gilt, daß die endlich einsetzende Publikation sich als Ausgangspunkt relativ ruhige Jahre ausgesucht hat, die den eigentlichen Brennpunkten der französischen Vorkriegspolitik noch fernstehen. Bei dem engen Zeitraum, den die einzelnen Bände enthalten,


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wird eine umfassendere kritische Würdigung der Publikation das Vorliegen größerer Bandreihen abwarten müssen, eine Lage, die bei dem langsamen Fortschritt der Jahre seit 1929 auch heute noch beträchtlich entfernt scheint. Erst dann wird sich entscheiden lassen, ob die Zusammensetzung der leitenden Kommission in die die noch lebenden aktiven Diplomaten der Vorkriegszeit aufgenommen sind, ohne Einfluß auf die Gestaltung der Arbeit geblieben ist. Die von Hartung schon 1930 (Berl. Mhh. VIII, S. 20 ff.) geäußerten Bedenken über das Fehlen vertraulichen Materials an Randbemerkungen und Niederschriften aus dem inneren Dienst des Ministeriums, der Hinweis, daß Spuren über den mündlichen Verkehr zwischen den im Ausland beschäftigten Vertretern und der Zentrale zu fehlen scheinen, wird man bis dahin im Auge behalten müssen, ohne deshalb dem Material der Publikation mit unberechtigten Bedenken entgegenzutreten. Der Inhalt des vorliegenden Bandes (vgl. A. Rosenberg, Berl. Mhh. VIII, S. 936 ff.) weist keine Spuren auf, daß die französische Politik von der gleichzeitigen großen Wende der deutsch-englischen Beziehungen wirklich konkrete Nachricht erhalten hätte. Er zeigt sie im Ganzen in der Haltung einer vorsichtigen Defensive, die durch Unzufriedenheit mit der fernöstlichen Aktivität des russischen Verbündeten und die Intimität seiner dynastischen Beziehungen nach Berlin begründet ist. Relativ selbständig, von Delcassé gebilligt, aber mehr geduldet als aktiv betrieben, entwickelt sich daneben die umfassende Aktion Barrères zur Lockerung des italienischen Dreibundsverhältnisses. Als Ziel formuliert er selbst, wenn auch mit defensiver Zwecksetzung, daß Italien auch bei formell französischem Angriffskrieg gegen Deutschland, der aber wie 1870 durch Provokation erzwungen sein würde, seine Neutralität zusichern soll. Tatsächlich ein Anfangsglied im Prozeß der deutschen Isolierung, läßt die Aktion nicht erkennen, ob Barrère mit ihr schon über seine italienische Aufgabe hinausgreifende Pläne verfolgt hat.

Von größter Wichtigkeit für die ganze Entwicklung der englischen Vorkriegsdiplomatie ist die Publikation St. Gwynns über Briefe und Freundschaften von Sir Cecil Spring-Rice ( 1135a). Die persönliche Bedeutung dieses feinsinnigen englischen Diplomaten besteht vor allem darin, daß er, zeitig in den Vereinigten Staaten tätig und mit Roosevelt von früh auf befreundet, einer der erfolgreichen Vermittler englisch-amerikanischer Annäherung gewesen ist. Nach einem über ganz Europa und Asien ausgedehnten diplomatischen Wanderleben ist er 1912 auch wieder abschließend als Botschafter nach Washington zurückgekehrt. Obwohl er mit dem Präsidenten Wilson und seinem Kreis nie in ein näheres Verhältnis treten konnte, hat er in den ersten Kriegsjahren durch kluge Reserve die Sache der englischen Politik doch wohl kaum so schlecht vertreten, wie dies die gleichzeitige Kritik behauptete. Seine Briefe aus der Kriegszeit sind aber von einer Skepsis über die schließliche Entscheidung Wilsons erfüllt, die nach den Housepapieren so nicht mehr zu halten ist. Jene persönliche Differenz, die ihn nach dem Eintreten Amerikas in den Weltkrieg seine Stellung kostete, hat sein zum Pessimismus neigendes Urteil doch wohl stark beeinflußt. Für die Vorkriegsperiode spiegelt er mit reichem Material wichtige Nuancen der englischen Berufsdiplomatie: auf Grund eigener Berliner Erfahrungen im zweiten Teil der 90 er Jahre setzt sich bei ihm trotz Anerkennung des friedlichen Wollens deutscher Regierungskreise doch schon um die Jahrhundertwende die Sorge vor dem übermächtigen Aufstieg der deutschen Kraft fest;


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auch der Flottenbau erscheint sehr zeitig als Gegenstand ernster Befürchtungen. In den späteren Jahren bleibt seine Prognose für die politische Zukunft Englands überaus düster, da er persönlich nach persischen Erfahrungen kein Zutrauen auf die Entente mit Rußland zu fassen vermochte. Er war daher ein Verfechter angespanntester englischer Rüstungen, der alle konservative Panik seit 1909 getreulich mitgemacht hat. In dem Maß seines Pessimismus' nicht eigentlich repräsentativ für die unter Grey maßgebenden Persönlichkeiten des Foreign Office, zeigt er doch wieder, daß die Sorge und Angst vor Deutschland in der englischen Diplomatie tiefste Wurzeln geschlagen hatte. -- Die Autobiographie Lord Haldanes ( 1156) bietet für diejenigen Fragen der Vorkriegsdiplomatie (Windsoraffäre und Berliner Mission von 1912), in denen er am unmittelbarsten hervorgetreten ist, nur geringe Ergänzungen zu seinem früheren Buche. Am ehesten ist noch die eingehende Schilderung seines Anteils an der Kabinettskrise von 1905/06 und die erneute Verteidigung seiner Amtsführung als Kriegsminister von Wert für die politische Geschichte der Vorkriegszeit. Aufschlußreich ist dagegen die Schilderung seines persönlichen Werdegangs, des Ursprungs seiner engen Vertrautheit mit deutscher Philosophie und Literatur in der lebensvoll geschilderten Göttinger Studentenzeit zu den Füßen Lotzes. Das jetzige Mitglied der Labour-Party ist unbefangen genug für den wiederholten Hinweis, daß die insulare Begrenztheit von Greys persönlichem Gesichtskreis und Bildung zu stärkster Befangenheit in seinem Urteil über die deutsche Politik geführt habe. Haldane mißt dieser Lage ganz offen unheilvollen Einfluß auf die Entwicklung der Beziehungen zu Deutschland bei. -- Als wichtigste dieser englischen Publikationen ist schließlich noch die Biographie Lord Lansdownes von Lord Newton ( 1135) zu nennen. Der Verfasser meint zwar selbst, gerade zur Geschichte der Außenpolitik nur eine bescheidene Nachlese gegenüber Lees Eduard VII. und der englischen Aktenpublikation bieten zu können. Das gründliche und straff zusammengedrängte Buch bringt aber außer dem Einblick in den Werdegang des Schöpfers der französischen Entente doch sehr wesentliche Beiträge zur Entstehungsgeschichte dieses Vertrages (Korrespondenz mit Lord Cromer und Bedeutung der ägyptischen Frage für die englische Entscheidung). Ebenso wird aus der privaten Korrespondenz Lansdownes doch noch Einzelnes zur Vorgeschichte auch der russischen Entente von 1907 beigebracht, mit deren schwierigen Voraussetzungen er schon als indischer Vizekönig von 1888--1893 (persische und afghanische Frage) in Berührung getreten war. Seit Ende 1905 in die Opposition geworfen, ist Lansdowne dann noch einmal im Kriege durch seinen berühmten Friedensbrief vom Nov. 1917 weit über die Rolle eines loyalen Oppositionsführers hinaus hervorgetreten. Die Vorgeschichte dieser Episode war bereits in den Memories and Reflections von Asquith (Jberr. 1928, S. 237) angeschnitten worden; unsere Kenntnis wird hier durch ein Material erweitert, das auch die relative Stärke der Resonanz in der öffentlichen Meinung Englands beleuchtet. Zugleich zeigt es aber, daß die Regierung seiner Anregung von Anfang an ablehnend gegenüberstand. Sie hat sich seinem ursprünglichen Wunsche nach einer parlamentarischen Debatte über die Friedensfrage, die vielleicht eine lehrreiche Parallele zum deutschen Streit über die Friedensresolution ergeben hätte, sofort entgegengestellt. Die Publikation im Daily Telegraph ist nur die Folge der hierdurch geschaffenen Zwangslage gewesen.

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Von biographischer Literatur außerhalb Englands ist nur kurz das Buch von Korostewetz über Witte ( 1137a) zu nennen. Lehrreich zur inneren Geschichte Rußlands, betont es den Zusammenhang von Wittes Neigung, Deutschland als technisches und wirtschaftliches Vorbild zu betrachten, mit seiner zeitweisen Neigung für ein Kontinentalbündnis; zu den konkreten Einzelfragen der russischen Außenpolitik in ihren Beziehungen zu Deutschland bringt es jedoch nichts Neues.

Von den politischen Krisen der Zeit nach 1900 hat lebhafteres Interesse nach dem Erscheinen des entsprechenden Bandes der englischen Aktenpublikation die erste Marokkokrise erweckt. Allerdings ist die Jenaer Dissertation von A. Hoffmann ( 1152) nur eine bedeutungslose Anfängerarbeit. -- Benutzbar ist dagegen die Dissertation von H. Schöttle (Die Times in der ersten Marokkokrise bis z. Annahme der Konferenz durch Frankreich. Diss. Tübingen 1929.), die mit zahlreichen Belegen nachweist, daß diese Zeitung in vollkommenem Parallelismus zur englischen Regierungspolitik sich die französische Sache restlos zu eigen gemacht hat und den Sturz Delcassés mit stärkstem Bedauern, aber auch mit geschickter Zurückhaltung vor einer gefährlichen Bevormundung des französischen Bundesgenossen behandelte. -- Ein wichtiges Thema, das inzwischen durch das Buch Hosses über die englisch-belgischen Aufmarschpläne gegen Deutschland (Wien 1930) erweiterte und vertiefte Behandlung erfahren hat, griff nach Erscheinen der englischen Akten zuerst B. Schwertfeger ( 1141) an, indem er die Tatsache herausschälte, daß nach dem neuen Material die militärische Sondierung in Brüssel in genauer Parallele zu den Militärbesprechungen mit Frankreich unter Wissen und Autorisation Greys aufgenommen ist. Auch er sieht in dem entgegenkommenden Verhalten der Belgier eine zweifellose einseitige Begünstigung Englands, die er aber mit Rücksicht auf die schwierige Lage des Landes milde beurteilen möchte. -- Aus holländischer Feder liegt eine recht gründliche Gesamtbehandlung der Marokkofrage von 1905--1911 vor. Man bedauert, daß diese gediegene Arbeit von Enthoven ( 1152a) durch das Erscheinen der englischen Akten, die nur an Einzelpunkten schon Berücksichtigung erfuhren, so schnell überholt ist. Das Buch beschränkt sich zwar sehr auf den engsten Kreis seines Themas und verzichtet auf wirkliche Einordnung in den Gesamtzusammenhang der europäischen Politik, aber der Verfasser hat sich ehrlich bemüht, durch mündliche Informationen noch lebender Diplomaten (Kühlmann, v. d. Lancken, Rosen, Stumm, Zimmermann, Herbette, Chérisey, J. Cambon pp.) über das gedruckte Material herauszukommen, wobei er freilich diesen Mitteilungen sich zu stark gegenüber den gleichzeitigen Aktenzeugnissen anvertraut. Als übersichtliche Zusammenfassung zur Marokkofrage kann die Arbeit bei dem Fehlen größerer neuerer Arbeiten vorläufige Dienste leisten.

In die Situation nach Abschluß der ersten Marokkokrise führten F. Thimmes wertvolle Aufsätze über das berüchtigte Memorandum Crowes vom 1. 1. 1907 ( 1143/44), die die grundlegende Bedeutung dieses heute allbekannten Belegs für die tiefablehnende Voreingenommenheit der englischen Politik unter Grey erstmalig scharf herausarbeiteten. Die eingehende Zersetzung der selbst im englischen Lager nicht unangefochtenen Argumentation Crowes ist ein Musterbeispiel gediegener kritischer Arbeit. -- In sachlichem Zusammenhang steht damit der Hinweis des gleichen Verfassers ( 1155) auf die Quellenbedeutung der


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als Privatdruck erschienenen Akten von P. von Schwabach. Denn dieser die Tradition Bleichröders fortsetzende Bankier, der vom Auswärtigen Amt immer wieder in vertraulicher Mission nach London und Paris verwendet wurde, hat als Verwandter Crowes vergeblich versucht, dessen Mißtrauen gegen die deutsche Politik zu zerstreuen. Der von Thimme gegebene Auszug aus den Schwabachschen Papieren zeigt, daß in ihnen eine intime Quelle von beträchtlichem Gehalt vorliegt. Ihre allgemeine Bedeutung liegt in dem nachdrücklichen Hinweis, daß hier ein Vertreter der Hochfinanz mit größtem Nachdruck seine ausgedehnten politischen Beziehungen für die friedliche Milderung der europäischen Gegensätze benutzt hat. Th.s Aufsatz enthält auch die wichtige Angabe, daß Holsteins Papiere -- Schwabach hat mit ihm in langjährigen Beziehungen gestanden -- in den Besitz des Bankiers gelangt sind und heute von ihm »mit aller Pietät« gehütet werden.

Der Fortschritt der englischen Aktenpublikation hat mit ihrem IV. Bande ( 1136) die Entstehungsgeschichte der russischen Entente von 1907 erreicht. Der Band weist die bekannte Anlage auf und läßt die Zerreißung in eine diesmal recht große Anzahl sich überschneidender Unterabschnitte stark hervortreten. Seine Ergebnisse sind von G. Roloff (Berl. Mhh. 1930, S. 805 ff.) erstmalig verwertet worden. Der Aufsatz zeigt, wie seit dem Abschluß der französischen Entente von 1904 die englische Politik unentwegt an der Idee ihrer Ergänzung nach der russischen Seite hin festgehalten hat. Trotzdem er relativ wenig intimeres Denkschriftenmaterial enthält, tritt deutlich hervor, daß der aktive, zum Abschluß des Ausgleichs drängende Teil durchaus England gewesen ist. Auch die peinliche Störung der Doggerbankaffäre hat diese Tendenz nur kurz unterbrochen und innerlich kaum geschwächt. Die liberale Politik Greys tritt ohne Zögern und Abschwächung auch diese Erbschaft ihrer konservativen Vorgänger an. Die Bereitschaft, im Notfall Opfer in der Meerengenfrage zu bringen, ist prinzipiell bereits vorhanden, wenn auch die tiefe Schwäche Rußlands nach Krieg und Revolution es möglich machte, den Zarenstaat mit einer ganz allgemein gehaltenen, vorläufigen Zukunftsvertröstung abzufinden, auf der sich dann Iswolskis unglückliche Aktion von 1908 mit irriger Zuversicht aufbaute. -- In die Reaktion Deutschlands auf diesen englisch-russischen Zusammenschluß führt L. J. Halls Aufsatz ( 1142) in dem neugegründeten amerikanischen Journal of modern History, der nach deutschen Akten und amerikanischer Literatur auf einen -- vor allem vom Kaiser mit großen Anfangshoffnungen begleiteten -- Versuch hinweist, eine Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten in China herzustellen. Der Anlauf scheiterte, weil es Amerika sehr schnell gelang, gerade unter Ausnutzung des deutschen Entgegenkommens, zu einer Milderung seiner starken Gegensätze zu Japan zu gelangen, womit sein Interesse für die deutsche Anlehnung im fernen Osten wieder erlosch.

Die fleißige und eingehende Dissertation Zorgers ( 1159) über die Mission Haldanes ist inzwischen bereits durch das Erscheinen der entsprechenden englischen und französischen Akten zu dieser Frage überholt worden und kann nur noch als Orientierung über den ihnen vorausgehenden Wissensstand dienen. -- Gegen den diesen Verhandlungen parallel laufenden Bd. 1 der 3. Serie der französischen Dokumente ( 1153) ist vorläufig die gleiche Reserve wie gegen den oben besprochenen Band der 2. Serie zu richten. Den Inhalt der


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wenigen Monate November 1911 bis Februar 1912, die hier von 631 Nummern in großer Ausführlichkeit vorgeführt werden, hat F. Hartung (Berl. Mhh. 1930, S. 20 ff.) kurz zusammengefaßt. Es handelt sich um die relativ ruhige Zeit nach Abschluß der Agadirkrise, die aber Interesse gewinnen, weil sie die ersten Schritte der Poincaréschen Politik enthalten. Sein Vorgehen gegen Italien im Tripoliskrieg zeigt bereits seine ganze formaljuristische Unnachgiebigkeit. Die Feststellungen der Iswolskipapiere über die Anfänge ihrer Beziehungen erfahren durchaus Bestätigung. Im Verhältnis zu Deutschland tritt der schroffe Wille hervor, unter Ablehnung Bethmannscher Annäherungsversuche die Geschlossenheit des Ententelagers und damit die Teilung Europas in zwei scharf geschiedene Gruppen durchaus zu wahren. Wichtig ist das Material zur Haldanemission. Es zeigt, daß Grey schon bei der Abreise Haldanes nach Berlin erste Fühlung mit Paris genommen hat, so daß trotz der Pariser Unruhe letzten Endes stets der Wille zum Zusammengehen gegen »gemeinsame Feinde« erhalten blieb. Man wird daher die Frage, welchen Einfluß das Verhalten Frankreichs auf das Scheitern der Mission geübt hat, nicht auf das Gebiet direkter, aktenmäßig festgestellter französischer Einsprüche begrenzen dürfen. Während die französische Diplomatie in imponierender Geschlossenheit und Klarheit erscheint, beleuchtet der Band durch die Zeugnisse über vergebliche Anbiederungsversuche Aehrenthals grell, wie gering das Maß des inneren Zusammenhaltes auf der Seite des Dreibundes gewesen ist. Italien gegenüber hält die französische Diplomatie ganz klar den Standpunkt fest, daß mit Rücksicht auf eventuelle ungünstige Rückwirkungen in der öffentlichen Meinung Englands seine formelle Lostrennung vom Dreibund nicht einmal von Vorteil sein würde.

Im übrigen sind die letzten Vorkriegsjahre fast nur in einer Fülle einzelner Aufsätze behandelt worden. Berichte russischer Militärattachés von Anfang 1912 aus Paris ( 1154) zeigen, daß auf französischer Seite damals bereits ein ganz entschiedenes militärisches Überlegenheitsgefühl vorhanden war, das triumphierend feststellte, angesichts der Selbstverständlichkeit englischer Hilfe im Kriegsfalle sei die Lage Frankreichs seit 1870 noch niemals so günstig gewesen. Berichte aus Berlin spiegeln dort eine durchaus friedliche Stimmung und kommen bei dem rein militärischen Kalkül, welche Jahreszeit für ein plötzliches Losschlagen Deutschlands besonders geeignet sei, zu der -- als Widerlegung beliebter, bis zu Grey vertretener ententistischer Nachkriegsthesen interessanten -- Feststellung, daß dies am ehesten der Winter sei. -- Damit treten diese gleichzeitigen Berichte im schroffen Gegensatz zu den Erinnerungen des Baron Beyens aus Berlin ( 1160), deren schon seit 1928 (vgl. Jberr. 1928, S. 230) begonnene Publikation in der Revue des deux Mondes mit einer Reihe langatmiger und inhaltlich magerer Fortsetzungen weitergeführt ist. Eine schärfere Tendenz als im Vorjahre ist insofern spürbar, als parallel zu den Poincarémemoiren das deutsche Heeresgesetz von 1913 breit als Alarmzeichen behandelt wird. Die Aufsätze führen, ohne wirklich Neues zu bringen, bis zum Abschluß des zweiten Balkankrieges mit dem Bukarester Frieden. -- Ebenso wertlos ist das französische Buch von J. Brissaud über die Zabernaffäre ( 1169), das unter souveräner Nichtbeachtung der deutschen Literatur den Zwischenfall benutzt, um den Gegensatz zwischen Elsaß und Deutschland am Vorabend des Weltkrieges ohne jede kritische Hemmung so breit wie möglich erscheinen zu lassen.

Eine gediegene Arbeit über die deutsch-türkischen Beziehungen von 1913/14


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hat der frühere Adjutant Liman v. Sanders C. Mühlmann ( 1161) verfaßt. Seine Darstellung der Limankrise steht hinter der gediegenen Arbeit R. I. Kerners (Jberr. 1927, S. 275) an umfassender Behandlung der europäischen Verwicklung zurück. Wichtig ist, daß die Heranziehung neuer Aktenbestände aus dem Reichsarchiv und dem Auswärtigen Amte die Materialien der großen Aktenpublikation zur Entstehungsgeschichte der Mission (Verhältnis von Generalstab und Auswärtigem Amt bei ihrer Vorbereitung) ergänzt. Nachdem die letzten Jahre uns reiches russisches Material über die Türkeipolitik der Entente bei Kriegsausbruch gebracht haben, hat der Verfasser die gleiche Aufgabe für die deutsche Seite mit wesentlichen Ergänzungen unseres Wissens gelöst. Er schließt mit einer militärisch wie politisch besonnenen Rechtfertigung des deutsch-türkischen Kriegsbündnisses, die die prinzipielle Frage nach dem Wert der deutschen Bagdadbahnpolitik überhaupt nicht mit behandelt, sondern von der Tatsache der 1913 einmal gegebenen Lage ausgeht. -- Das letzte Stadium des italienischen Dreibundes hat Graf Waldersee ( 1162) behandelt, der noch einmal persönliche Erinnerungen und spätere Studien über die militärpolitischen Beziehungen vor allem der J. 1913/14 zusammenfaßt und betont, daß der Generalstab bei allem Vertrauen zur Persönlichkeit Pollios sich über die politische Unsicherheit der italienischen Hilfe nicht getäuscht habe. -- Er nimmt damit eine Kritik an dieser militärischen Auffassung vorweg, die V. Bredt in einem Aufsatz über Italien als Bundesgenosse ( 1163) übt. Bredt vertritt im übrigen die Auffassung, daß Italiens Verhalten bei Kriegsbeginn als unter vis major erfolgt zu verstehen sei, während die These, daß die Abmachung mit Frankreich vom J. 1902 mit dem Bismarckschen Rückversicherungsvertrag gleichzusetzen sei, sich doch wohl zu sehr auf die rein formale Seite der Vorgänge beschränkt. -- Seine weitere Auffassung, daß schon die öffentliche Meinung Italiens im parlamentarischen Staate ein Zusammengehen mit dem Dreibunde verboten habe, wird bei sonstiger Zustimmung selbst von italienischer Seite (Gravina 1163) mit dem Hinweis in Zweifel gezogen, daß die öffentliche Meinung Italiens sich doch stark von dem Einfluß der Regierung habe gestalten lassen.

Zur Geschichte der serbischen Vorkriegspolitik hat Boghitschewitsch einen II. Band seiner verdienstlichen großen Zusammenstellung von Akten zur serbischen Politik ( 1138) erscheinen lassen. Nützlich für eine zusammenfassende Würdigung der serbischen Politik durch die Sammlung verstreuter Materialien und durch die stets sachkundigen Anmerkungen des Herausgebers enthält dieser Band doch stofflich sehr viel weniger Neues als sein Vorgänger. Weitaus den größten Teil füllt Wiederabdruck von Dokumenten der Großen Politik, der älteren österreichischen und französischen Farbbücher, sowie der bekannten russischen Publikationen (Siebert/Iswolski). Am ehesten wird man noch den Wiederabdruck zerstreuten Materials aus dem Krasny Archiv begrüßen, das freilich auch deutschen Forschern schon zum größeren Teil in der KSF. erschlossen war. Nur aus der russischen Berichterstattung aus Belgrad (Hartwig) sind einzelne wirklich neue Aktenstücke aufgenommen. Dankenswert ist auch der Anhang, der Auszüge aus den Protokollen dieser russischen Gesandtschaft bringt. Die 1908 einsetzende Übersicht, die dem Moskauer Archiv entstammt, gibt wenigstens eine erste orientierende Anschauung von den Themen der russischen Berichterstattung aus Belgrad. -- Der Aufsatz des gleichen Verfassers in den Südd. Monatsheften über Mord und Justizmord in Serbien ( 1139) behandelt wieder


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das Thema Dimitrjewitsch, das bereits sein französisches Buch über den Salonikiprozeß erörtert hatte.

Von österreichischer Seite hat L. Schnagl ( 1165) die berüchtigte Prohaskaepisode von 1912 untersucht. Er bringt den aktenmäßigen Nachweis, daß die serbischen Kommandostellen tatsächlich bewußt die diplomatischen Vorrechte des Konsuls mißachtet haben, und weist nach Boghitschewitsch auf die bezeichnende Tatsache hin, daß die Prohaska abgenommenen Papiere auch den Weg nach Petersburg gefunden haben. -- Umfassender und bedeutsamer ist J. Brauners Untersuchung über die letzte Zeit der österreichischen Verwaltung in Bosnien und der Herzegowina. Br. ( 1164) gibt vor allem einen Beitrag zur Verteidigung Potioreks gegen die scharfe Kritik der Erinnerungen Bilinskis. Er zeigt die Unhaltbarkeit der Zustände im Lande, die aus den Spannungen zwischen Militärbehörde und Zivilverwaltung in Wien entstanden, und betont, daß Potiorek, dem man die Verantwortung für das Gelingen des Attentates gegen den Thronfolger hat zuschreiben wollen, seit langem vergeblich die Einrichtung eines politischen Sicherheitsdienstes verlangt habe. Die Zersetzung war so weit fortgeschritten, daß die serbische Regierung von Wien her Kenntnis von Geheimberichten Potioreks erhalten konnte, während Bilinski sich gegen eine Amtsentsetzung des dafür verantwortlichen Regierungsbeamten sträubte. Der Auffassung des Verfassers nach trägt die den serbisch-slawischen Interessen weithin nachgiebige Haltung des Ministers einen wesentlichen Schuldanteil an der völligen Unterwühlung der österreichischen Autorität im Okkupationsgebiet.

Das anziehende und problemreiche Thema der Erscheinung des Erzherzogs Franz Ferdinands hat schließlich den Gegenstand von drei aufschlußreichen Büchern gebildet. Sein früherer Leibarzt Eisenmenger hat Erinnerungen an den Erzherzog ( 1168) veröffentlicht, die sehr zu Unrecht den Vorwurf der Pietätlosigkeit gegen ihn wachgerufen haben. Eis. hat den Thronfolger in der schweren Krise seiner Lungentuberkulose durch Jahre hindurch behandelt und so seinen Charakter in einer Zeit stärkster Spannung auch von den unbequemen Seiten her gründlich kennengelernt. Er wird der Gediegenheit der Persönlichkeit trotz offener Erörterung seiner Schroffheit, seiner strengen, mit Rücksicht auf seine Familie aber erklärlichen Sparsamkeit, seiner rücksichtslosen Jagdleidenschaft durchaus gerecht. Das politische Gebiet wird nur mit Abdruck einiger Briefe des Erzherzogs betreten, bei deren Niederschrift er die Hilfe seines Arztes als Sekretär beansprucht hat. -- Überaus inhaltreich für die ganze politische Geschichte Österreichs, nicht nur der Persönlichkeit Franz Ferdinands ist die hochstehende Biographie aus der Feder Leopold von Chlumetzkys ( 1167). Aus dem Tagebuch seines Vaters kann er wichtige Beiträge zur Charakteristik der Regierungsweise und Persönlichkeit Kaiser Franz Josefs bringen, die in den Rahmen einer einleitenden Kritik dieses Regimes eingefügt sind. Der Verfasser selbst ist als Publizist dem Erzherzog und seiner Umgebung nahegetreten. Vor allem hat ihn enge Freundschaft mit dessen bedeutsamstem Ratgeber, dem Chef seiner Militärkanzlei Obersten Brosch, verknüpft. Durch dessen Witwe ist ihm die Benutzung seines offensichtlich überaus inhaltreichen Nachlasses ermöglicht worden. Da die Papiere des Thronfolgers selbst durch testamentarische Bestimmung noch auf lange Zeit der Kenntnis der Wissenschaft vorenthalten sind, kann die Erschließung dieses Materials, das innen- wie außenpolitisch in alle den Erzherzog bewegenden politischen Probleme Einblick gibt,


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nur warm begrüßt werden. Die Publikation ist weitaus die reichste Quelle zur Geschichte Franz Ferdinands, die uns nach den Conradschen Erinnerungen erschlossen ist. Ein stattlicher Anhang bringt eine ganze Reihe von instruktiven Papieren des Broschschen Nachlasses in unmittelbarem Abdruck. -- Auch der zweite Biograph des Erzherzogs, Sosnowski ( 1166), ist als angesehener Publizist bereits vor dem Kriege in Beziehungen zur Umgebung des Thronfolgers getreten und von diesem gelegentlich zur Vertretung politischer Ideen herangezogen worden. Von warmer Bewunderung für Franz Ferdinand erfüllt, gibt auch er eine verständnisvolle, die Haupteinwendungen der Kritik gegen ihn bekämpfende Lebensdarstellung, die an Materialwert und realistischer Kenntnis und Auffassung freilich nicht ganz die Höhe des vorhergehenden Buches erreicht. Das gelegentlich eingeschaltete Material bringt neben einigen Briefen aus der Kindheit und über das Eheglück Franz Ferdinands nur bereits gedruckte, wenn auch nicht leicht zugängliche Zeitungsartikel der Nachkriegszeit. Immerhin bleibt das Buch durch seine liebevolle Verarbeitung des sorgfältig gesammelten Materials zu beachten.


Diese Seite ist Bestandteil des Informationsangebots "Jahresberichte für deutsche Geschichte" aus der Zwischenkriegszeit (1925-1938)