b. Allgemeine und diplomatische Gesamtgeschichte des Krieges

Mit dem J. 1929 liegt wenigstens ein Dezennium seit den letzten Entscheidungen des Weltkrieges hinter uns. So kurz dieser Zeitraum für historische Distanzierung von einem so ungeheuren Geschehen ist, so wird doch allmählich deutlicher, daß das Erleben der J. von 1914 bis 1919 der Teilnehmergeneration, die sich heute noch vorwiegend literarisch betätigt, langsam stärker der reflektierenden Betrachtung zugänglich wird, nicht mehr nur aus der überwältigenden Wucht des unmittelbaren Erlebnisses erfaßt wird. Diese Entwicklung ist heute auf literarischem Gebiete in der Fülle belletristischer und dichterischer Versuche zur Meisterung des Kriegsproblemes schon deutlicher als auf wissenschaftlichem Felde erkennbar. Am ehesten ist die militärgeschichtliche Seite des Krieges bereits einer ruhigen Betrachtung zugänglich geworden, so daß nicht durch Zufall die jetzt in allen Ländern eingeleitete Bearbeitung der offiziellen Kriegsgeschichtswerke Ergebnisse von bleibendem Werte verspricht. Auch die biographischen Beiträge der militärisch-kriegsgeschichtlichen Literatur beginnen gerade in diesem Jahre eine Anzahl Werke von beträchtlichem Gehalt aufzuweisen, die langsam über die rein apologetische Memoirenform vorzustoßen beginnen. Die politische Geschichte des Weltkrieges hat dagegen aus bekannten Gründen auch heute noch mit einer überaus mangelhaften Quellenlage zu rechnen. Gerade die wertvolleren Arbeiten gehören daher hier noch zur monographischen Literatur, so daß ihre Würdigung nur einen bruchstückweisen Fortschritt unseres Wissens verzeichnen kann, der, in der Fragestellung stark abhängig von begrenzten Interessen der Gegenwart, nur inselartig Teile festeren Bodens für gesicherte Kenntnis gewinnen läßt. Nationale Begrenztheit des Interesses, Einschränkung auf Teilfragen wiegen erdrückend vor und gerade Beiträge, die diese wohl begründeten Schranken überschreiten, sind vorläufig meist nur erst von sehr begrenztem Werte.

Das gilt für das Buch des Engländers W. Martin ( 1298) über Staatsmänner des Weltkrieges. M. hat von der Grundlage journalistischer Kenntnis und journalistischen Erlebens her 25 führende Persönlichkeiten des Weltkrieges ohne stärkere Vertrautheit und Auseinandersetzung mit der Literatur charakterisiert. Geistvoll geschrieben hat das Buch doch eigentlich nur Interesse als Spiegelung von einem sehr bestimmten englischen Standpunkt her. Gelegentliche Einfügung eigenen anekdotischen Erlebnisses ist weniger anregend, wie die gewandte Charakterisierungsgabe des Verfassers, die bei den führenden Personen der englischen Kriegszeit und bei ihm persönlich reizvollen Erscheinungen wie Briand, Poincaré oder Veniselos auch ein beachtenswertes eigenes Wort findet.

Die Beiträge der deutschen Forschung liegen auf dem Gebiet der inneren Geschichte Deutschlands im Weltkrieg. E. Zipfel ( 1179) gibt in seinem Aufsatz


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über die Akten der Kriegsgesellschaften im Weltkrieg willkommene Orientierung über einen ausgedehnten Bestandteil der Kriegsakten des Reichsarchives. Er erläutert an ausgewählten Beispielen die tiefeingreifende Bedeutung ihrer Arbeit für die wirtschaftliche Organisation der Kriegsjahre und tritt dem herrschenden einseitigen Verdammungsurteil über ihren Wert einschränkend entgegen. -- Durch reichen Quelleninhalt bedeutsam ist L. Bergsträssers Buch über die preußische Wahlrechtsfrage im Kriege ( 1316), das, im Auftrage des Reichsinnenministeriums nach den amtlichen Akten bearbeitet, unter persönlicher Verantwortung des Verfassers erschienen ist. Ganz neu ist in ihm die Darstellung über die eingehende Bearbeitung der Wahlrechtsfrage vor 1917 im preußischen Staatsministerium. Sie zeigt, daß hier schließlich die Tendenz herrschend blieb, bei einer Wahlrechtserweiterung die Vorkriegsstruktur der politischen Kräfte in Preußen so wenig wie möglich zu ändern. Die Folge war, daß, als die Frage 1917 brennend wurde, das preußische Staatsministerium ein noch gewichtigeres Hindernis der Bethmannschen Pläne wurde, als die politisch doch sehr viel unsicherere Oberste Heeresleitung. Dieser Widerstand hat in dem ursprünglichen, von Wahnschaffe herrührenden Entwurf der Osterbotschaft die entscheidende Abschwächung durchgesetzt, die den Zeitpunkt der Reform doch wieder im Ungewissen ließ. Bei innerer Sympathie für Bethmann kommt Bergstr. doch zu einem kritischen Urteil über seine Kompromißpolitik, die stets wieder eine Diagonale unvereinbarer Kräfte zu finden suchte.

Außerordentlich inhaltreich und eine Fülle neuen Wissens vermittelnd ist wieder der starke II. Band des Handbuches zur schleswigschen Frage von Alnor und O. Scheel ( 1230), dessen 1929 abgeschlossene 1. Hälfte bis zum Ende der Kriegszeit führt. Er greift in der Behandlung der Vorgeschichte der dänischen Neutralität auch in das Jahrzehnt nach 1900 über und gibt hier durch das Heranziehen dänischer Literatur eine wertvolle Ergänzung der deutschen Aktenpublikation. Die Probleme der Kriegszeit sind in erschöpfender Weise mit reichster Literaturkenntnis und maßvoller Beurteilung behandelt. Der Reichtum der Quellenbelegung läßt dem Benutzer überall die Möglichkeit eigener Urteilsbildung offen. So ist hier eine ausgezeichnete Grundlage für das Doppelproblem der dänischen Neutralität im Kriege mit ihrer durch die erregte öffentliche Meinung des Landes bewirkten umfassenden Verzweigung sowohl nach den Ententeländern, wie den neutralen skandinavischen Nachbarstaaten (besonders Schweden) und zugleich für die engere Entwicklung der schleswigschen Frage im deutschen und preußischen Rahmen geschaffen. Auf diesem Teilgebiet liegt damit eine Zusammenfassung vor, die in ihrer Art als mustergültig gelten kann.

Die Greifswalder Dissertation von H. Koch über die Hamburger sozialistische Presse ( 1231) ist nicht von besonderem Rang. Sie gibt in ihrem begrenzten Ausschnitt typischen Einblick in den Entwicklungsgang der sozialistischen Presse während der Kriegsjahre. Das wichtigste der behandelten Blätter, das Hamburger Echo, steht in sehr ausgesprochener Weise auf dem rechten Flügel der Mehrheitssozialdemokratie .-- E. Jaekhs Schrift über den Völkerbundsgedanken in Deutschland während des Weltkrieges ( 1219) gibt eine Orientierung über den Anteil, den pazifistische Bewegung, wissenschaftlich-völkerrechtliche Arbeit und politische Kreise von Parlament und Regierung an der Vorbereitung der Völkerbundsidee gehabt haben und endet mit der seit 1917 vorbereiteten Gründung


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der deutschen Liga für Völkerbund. -- B. Weils ( 1223) Schrift über die deutsch-französischen Rechtsbeziehungen seit 1914 dient vor allem der juristischen Orientierung über die Wiederaufnahme der Rechtsbeziehungen seit dem Friedensschluß, vermag aber auch einen Leitfaden für die entsprechende Gesetzgebung der Kriegsjahre abzugeben.

Zahlreich sind wieder die Beiträge zur Erweiterung unserer biographischen Kenntnisse, die freilich auch recht wertlose Bücher, wie die Erinnerungen von Margarete Ludendorff ( 1295) aufweisen, die fast keinen Einblick in das Leben des Generals gewähren können. Briefmaterial ist nur ganz spärlich enthalten. Die Erzählung über die Ursachen des Bruches zwischen Ludendorff und Erzberger ist anekdotisch übertrieben und nicht zu benutzen. Man erhält eigentlich nur einen etwas lebendigeren Einblick in die düsteren Wochen nach der Entlassung des Herbstes 1918. -- Auch die liebenswürdigen Briefe und Schriften von A. Gildemeister (hrsg. von seiner Frau. Oldenburg 1929) spiegeln zwar das seelisch ernste Ringen eines durchaus national gestimmten, kultivierten Mannes mit den schweren Problemen kultureller und politischer Übergangszeit, enthalten aber über solche typischen Elemente hinaus nichts individuell historisch Bedeutsames. -- Eine liebevolle Schilderung König Ludwig III. von Bayern hat O. Riedner ( 1308) gegeben, die das Ringen partikularistisch bayrischer Einstellung und ehrlich nationalen Wollens seit 1870 gut veranschaulicht. Die trotz seiner früheren Popularität mannigfach angefeindete Haltung des Königs in Krieg und Revolution wird verständnisvoll behandelt.

Eine dankenswerte Erweiterung unseres Wissens über Rathenau ist durch eine ganze Reihe von Büchern erfolgt. E. Gottlieb ( 1310) hat mit einer kritischen Rathenaubibliographie eine Übersicht über den ganz ungeheuren Stoff geschaffen, der heute schon für das Leben dieser ihre Zeitgenossen faszinierenden Erscheinung bereit liegt. Neben der umfangreichen Bibliographie seiner verstreuten publizistischen Arbeiten zeigt die ungeheure Liste von 2227 Nummern der seit 1894 über ihn erschienenen Arbeiten und Aufsätze, wie grenzenlos bei umfassender Bereitstellung der Stoff des modernen Historikers anschwillt und wie hoffnungslos jedes Vollständigkeitsideal angesichts einer solchen Lage scheitern muß. -- Unsere Materialkenntnis wird nicht unwesentlich erweitert durch einen Band Politischer Briefe ( 1312), der nur vereinzelt, leider ohne besondere Kenntlichmachung, Stücke aufnimmt, die schon früher in der zweibändigen Briefsammlung von 1926 erschienen waren. Der Herausgeber hat Auslassungen nicht kenntlich gemacht, und der Vergleich mit dem früheren Druck ergibt, daß wenigstens in diesen Fällen auch wesentliche Bestandteile fortgelassen sind. Trotz dieser Bedenken ist der Reichtum des Briefwechsels mit Bethmann, Ludendorff -- der bis 1917 sehr stark vertreten ist --, Wandel, Seeckt pp. so groß, daß man die Publikation vorläufig begrüßen müssen wird. Vor allem für die ersten Kriegsjahre wird unsere Kenntnis über Rathenaus Verhalten und Urteil sehr wesentlich erweitert. Für die Jahre 1917/18 stehen wir auf bekannterem Boden. Aber noch für die Katastrophenstimmung der letzten Kriegswochen und Rathenaus Verzweiflungskampf gegen die überstürzte Friedensaktion sind wieder ergänzende Briefe beigebracht. -- Die im Rahmen der Gesammelten Schriften erschienenen Schriften aus Kriegs- und Nachkriegszeit ( 1313) bringen an sich bekannte Arbeiten. Ihre leichter zugängliche Zusammenfassung wird aber angenehm empfunden werden, da der Historiker hier Schriften


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findet, die, wie die Kritik der dreifachen Revolution mit ihrem Schlußteil, der Apologie gegen die beginnende Sturmflut leidenschaftlicher Angriffe, gerade für ihn von hohem Interesse sind. Dazu gehört auch die heiß umstrittene Abhandlung über den Kaiser mit jener immer wieder herangeholten Äußerung über den Einzug durch das Brandenburger Tor, die die Erkenntnis heute nicht mehr verhindern kann, daß das Ganze dieser Abhandlung einen der fesselndsten Versuche zur Charakteristik Wilhelms II. darstellt, der, psychologisch und kritisch von eindringlichster Schärfe, doch auch bemüht ist, dem Geschilderten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und die vielfach faszinierende Wirkung seiner Persönlichkeit vor dem Beginn der Götterdämmerung nicht nur zu verspotten, sondern auch zu verstehen. -- Einen sehr ernsten Versuch, Rathenaus Ganzes, als Unternehmer, Schriftsteller, Denker und Politiker, zu würdigen hat E. Heimann im Handwörterbuch der Staatswissenschaften ( 1311) unternommen, dessen gedankenreiche, gedrängte Abhandlung zu dem Besten gehört, was über Rathenau geschrieben ist.

Die Biographie Stresemanns von R. Olden ( 1314) ist nur der Vorläufer einer ganzen Reihe von Büchern gewesen, die zum Teil sehr erheblich diesen ersten Versuch hinter sich lassen, der weder neues Quellenmaterial aus eigenem Wissen, noch eigene Erforschung des reichlich vorhandenen publizistischen Materials, noch eine vertiefte und wirklich persönliche Auffassung zu bieten vermag.

Von österreichischer Seite liegt eine kurze Skizze des Conte Corti über das Problem der Koalitionsarbeit im Weltkrieg ( 1218) vor, die die große Bedeutung dieser Frage in beiden Lagern nur in ganz andeutenden Umrissen wiedergibt. -- Die biographische Skizze über Kaiser Karl von dem Freiherrn von Hussarek ( 1306) bietet auch nicht für die eigene Ministertätigkeit des Verfassers im Jahre 1918 stofflich Neues. Sie tritt sehr warm für die menschlich anziehenden Seiten des letzten österreichischen Kaisers ein und sucht dessen Sonderfriedenspolitik zu verteidigen. Der Verfasser ist der Meinung, daß der Kaiser nicht nur die österreichischen, sondern auch die wahren deutschen Interessen gewissenhaft habe wahren wollen und nur den wirklichen Ernst der Kriegslage ohne die Selbsttäuschung des deutschen Partners richtiger als dieser erkannt habe. -- Sehr inhaltreich ist dagegen das Buch von P. Molisch ( 1229) über die tschechische Frage im Weltkrieg, das die Schwierigkeit der Quellenlage auf diesem Gebiet zwar nicht einfach hat beseitigen können, aber durch persönliche Beziehungen Kenntnis der Akten des Armeeoberkommandos erhalten hat und die Verhandlungen des Hochverratsprozesses gegen Kramarč eingehend verwertet. Während die reiche tschechische Literatur der letzten Jahre in ihren führenden Vertretern die Auslandarbeit der Tschechen bevorzugte, ist diese hier zwar einbezogen, aber ergänzt durch eingehende Behandlung der Entwicklung im Inneren Böhmens und Österreichs. Der lebhafte Streit zwischen österreichischen Militärbehörden und zivilen Stellen erfährt auf Grund dieses Materials eine Beleuchtung, die die sehr ernsten militärischen Besorgnisse in starkem Grade rechtfertigt. Gegen die einheitliche Linie tschechischer Loslösungspolitik, die in den Memoiren eines Masaryk und Benesch vorherrscht, treten die sehr viel stärkeren Schwankungen der tschechischen Inlandspolitik deutlich heraus, die erst seit der Berufung des Reichsrates im Jahre 1917, freilich, wie der Verfasser betont, nicht etwa durch diese Berufung mehr und mehr zum entschiedenen


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Loslösungswillen übergeht. Auch die Darstellung des Umsturzes in Böhmen gibt eine eingehende Kritik der tschechischen Auffassung und erörtert, vorsichtig abwägend, die Frage, ob damals die Möglichkeit eines sofortigen friedlichen Ausgleiches zwischen Tschechen und Deutschen in Böhmen vorhanden gewesen ist. -- Ebenfalls gibt einen gewichtigen Beitrag zu den letzten Jahren der Geschichte des Habsburger Reiches das Buch des ehemaligen Finanzministers Al. Spitzmüller /Harmersbach ( 1249) über die letzten österreichisch-ungarischen Ausgleichsverhandlungen. Der Verfasser will das nicht mehr praktisch ins Leben getretene Abkommen von 1917 gegen die österreichische Kritik verteidigen, die seiner Verhandlungstätigkeit zu große Nachgiebigkeit gegen Ungarn vorgeworfen hat. Er betont den starken Erfolg, daß es geglückt sei, an Stelle des latenten wirtschaftlichen Kampfes zwischen beiden Reichshälten unter dem System der kurzfristigen Ausgleichsverträge eine auf weite Sicht gestellte Regelung ihrer wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen zu setzen. Sehr aufschlußreich für die innere Geschichte der österreichischen Ministerien im Weltkrieg, behandeln die Ausführungen besonders eingehend die Ministerkrisen der ersten Monate Kaiser Karls. Der Verfasser, der die Bedeutung seines eigenen Vertragswerkes gegen die Kritik von Gratz und Schüller (vgl. Jberr. 1925, S. 317/18) sehr hoch einschätzt, macht seinen Nachfolgern schwere Vorwürfe, daß sie versäumt haben, durch rechtzeitiges Ins-Leben-führen der Abmachungen eine vielleicht auch in der Katastrophe von 1918 nicht unwichtige Klammer in den Staatsbau der Donaumonarchie zu fügen. -- Anspruchsvoll, aber enttäuschend sind die ganz apologetischen Memoiren des Grafen Batthyany ( 1218a), die außenpolitisch schärfste Abneigung gegen das deutsche Bündnis in Frieden wie Krieg, innenpolitisch den Glauben vertreten, daß Demokratisierung, allgemeines Wahlrecht und Unabhängigkeit von Österreich im Sinne Kossuths das Heilmittel aller ungarischen Sorgen gewesen sein würden.

Zur inneren Entwicklung Frankreichs im Kriege steuert A. Rosenberg ( 1216) einen Aufsatz bei, der das Verhältnis der öffentlichen Meinung zur Schuldfrage erörtert. Während er in der Flut der offiziellen Propaganda nur auf erste schwache, von Außenseitern wie Demartial und M. Morhardt, nicht Berufshistorikern getragene Anfänge wahrhaft wissenschaftlichen Studiums der Kriegsentstehung hinweisen kann, stellt die eingehend behandelte Diskussion des französischen Sozialismus über das Problem eine lehrreiche Parallele zur deutschen Entwicklung in den verschiedenen Schattierungen der Sozialdemokratie dar. -- Eine Fülle von Einzelmaterial der wertvollsten Art entrollt der starke Band von L. Petit ( 1224), der mit der Kenntnis des hochstehenden Fachmannes die äußeren Finanzen Frankreichs im Kriege behandelt. Das Problem, für die französische Gegenwart in der Frage der Schuldenregelung von beherrschender Wichtigkeit, enthält doch auch einen wichtigen Beitrag zur allgemeinen Geschichte des Krieges, der nicht zu übersehen ist. Denn der Einblick in die finanziellen Beziehungen vor allem zu England und Amerika entschleiert einen wichtigen Teil der Schwierigkeiten, mit denen die alliierte Kooperation zu kämpfen hatte. Besonders die kritische Lage der Entente im Herbst 1916, als der amerikanische Kredit aus privaten Quellen zu versiegen drohte, bis der Eintritt Amerikas in den Krieg die Spannung behob, wird nach diesem reichen Material sehr deutlich, das in allen Stadien das Wachsen der


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wirtschaftlichen und finanziellen Übermacht der Vereinigten Staaten lehrreich beleuchtet.

Zur russischen Entwicklung im Weltkrieg liegen zwei Publikationen vor, deren Interesse sich aber ganz auf die innere Politik Rußlands bezieht. C. E. Valliamys Übersetzungsband aus russischen Archiven ( 1222) bringt eine Reihe sehr interessanter Beiträge aus dem Krasny-Archiv zur revolutionären Zersetzung in Rußland, die mit Einzelteilen, Bericht über Meutereien der baltischen Flotte 1915 und während der Oktoberrevolution, immerhin auf die Fragen der Kriegführung überleiten. -- Für die ganze innere Lage Rußlands in ihrer Verkettung mit den Kriegsanforderungen ist aufschlußreich das Buch von Gronsky und Astrow ( 1221) über Krieg und russische Regierung, das in der von russischen Emigranten bearbeiteten Carnegieserie über Rußland im Weltkrieg erscheint. Es behandelt freilich nur Zentralregierung und städtische Selbstverwaltung, nicht das so ungeheuer wichtige Problem des russischen Dorfes im Kriege, das einem anderen Teile der Sammlung vorbehalten ist. Nach der Lage der Dinge konnte es nicht aus den Akten geschrieben werden. Indessen sind die Verfasser aus eigener Tätigkeit im Kriege mit den Problemen vertraut und sachkundig, so daß sie ein lehrreiches Bild von dem allmählichen Versagen der Regierungsmaschinerie entwerfen, das überall in schrittweiser, unwiderstehlicher Vorbereitung ihres Zusammenbruches neue Kräfte zu konkurrierender Tätigkeit hervorlockte, ohne der wachsenden Desorganisation in Staat und Wirtschaft Herr werden zu können. Das Buch vertritt lebhaft die Auffassung und den Standpunkt des russischen Bürgertums, der so berichtigend und ergänzend neben der umfassenden Publikationsarbeit der Sowjetwissenschaft über die Vorgeschichte der Revolution zur Geltung kommt. -- Diplomatische Memoiren über seine Petersburger Tätigkeit im Jahre 1914, deren Fortsetzung in Aussicht steht, hat der Rumäne Diamandy ( 1220) zu publizieren begonnen (vgl. oben S. 293). Er behandelt vom Standpunkt eines ausgesprochenen Ententefreundes die Verhandlungen mit Rußland bis zu dem Vertrage vom 2. Oktober 1914, der, formell noch Neutralitätsvertrag, Rumänien doch schon die Aussicht auf Erwerb österreichisch-ungarischen Gebietes eröffnete und unter den Eindrücken der Marneschlacht einen ersten Höhepunkt der Annäherung an die Entente bedeutete. -- Rumäniens gedrückte Lage unter der Okkupationsverwaltung der Mittelmächte behandelt G. Antipa ( 1226) in einem Bande der Carnegiereihe, der sich außer auf rumänisches Material und persönliche Erfahrung auf deutsche und österreichische Beuteakten gründet. So sehr die Kritik an der radikalen wirtschaftlichen Ausbeutung des Landes vorherrscht und so stark die Differenzen in Einzelfragen bleiben müssen, läßt sich doch nicht leugnen, daß der durch die Schule deutscher Wissenschaft gegangene Verfasser, ein Verehrer E. Haeckels in Jena, doch den guten Willen besitzt, versöhnliche Züge deutschen Entgegenkommens und Schonungswillens nicht zu unterdrükken und sehr genau zwischen deutschem, ungarischem und bulgarischem Regime auf rumänischen Boden scheidet. Das Bestreben nach Objektivität des Urteils ist unverkennbar. -- Nur eine Zusammenfassung aus bekannter Literatur, ohne Berücksichtigung der wertvollen Werke von Recke und Capasso, ist der Aufsatz des regsamen Ch. Appuhn ( 1227) über das Verhältnis der polnischen Nationalbewegung zu den Mittelmächten im Kriege.

Das Erstarken wirklich historischen und auch kritischen Interesses an der


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Kriegsteilnahme des eigenen Landes in Amerika, spürbar schon darin, daß Barnes die Frage nach dem Ursprung der amerikanischen Kriegserklärung in sein großes Werk einbezog, wird erneut deutlich an dem sehr inhaltreichen Werk von Hartley Grattan ( 1194): Why we fought. Es berücksichtigt umfassend die Propaganda von Entente und Mittelmächten in den Jahren 1914--1917 und zeichnet sich in diesem dornigen Kapitel durch ruhiges, alle Übertreibungen der Kriegszeit abstreifendes Urteil aus. Die ökonomischen Verflechtungen, deren bestimmender Einfluß auf das Verhalten Amerikas voll gewürdigt wird, sind zum erstenmal einer zum Gesamtüberblick vordringenden Behandlung unterworfen worden. Der Hauptteil des Buches über die diplomatische Vorgeschichte des Kriegsentschlusses läßt nach den Enthüllungen der letzten Jahre die ententistische Voreingenommenheit der amerikanischen Politik, ihre Schwäche gegen England und Rücksichtslosigkeit gegen Deutschland, ohne jede Abschwächung zur Geltung kommen. Auch Grattan vertritt jedoch die Ansicht, daß Wilson unter dem Eindruck der britischen Zurückhaltung gegen Houses Vermittlungsangebot im Frühjahr 1916 tief verstimmt gewesen sei und daher in der zweiten Hälfte dieses Jahres sich dem Standpunkt einer wahrhaften Neutralität stärker denn je angenähert habe. Der deutsche Entschluß zum rücksichtslosen U-Bootkrieg und die deutsche Behandlung des Wilsonschen Friedensschrittes erscheinen ihm daher als wichtige letzte Voraussetzung des amerikanischen Kriegsentschlusses. -- Eine ungeheure Fülle dokumentarischen Materiales schüttet in zwei starken Bänden die Publikation über das amerikanische Hilfswerk in Belgien ( 1225) aus. Sie ist für die politische Geschichte des Weltkrieges von Interesse, weil die Schwierigkeiten dieser humanitären Arbeit stets eng mit der Entwicklung der englischen Blockadepolitik verknüpft sind, so daß in steten mühsamen Verhandlungen eine Diagonale zwischen den widerstrebenden Interessen Englands und Deutschlands gesucht werden mußte. Auch nach dem Eintritt Amerikas in den Krieg erlischt das Interesse an dem Material nicht, das die katastrophale Einwirkung des U-Bootkrieges auf die Schiffsraumfrage im Jahre 1917 ebenfalls anschaulich reflektiert.

Für die Geschichte der Schweizer Neutralität im Weltkrieg liegt der 1. Band eines gediegenen Sammelwerkes von Jak. Ruchti ( 1232) vor, dessen Inhalt bemerkenswerte Parallelen zu dem Material des Alnorschen Handbuches über die Schleswigsche Frage aufweist. Die Schweiz ist im Kriege durch das Ringen ententistischer und deutscher Sympathien, das durch umfassende Propaganda von beiden Seiten stets genährt wurde, durch den Gegensatz deutscher und romanischer Bevölkerungsteile bis in die Grundfesten erschüttert worden. Die letzten Jahre des Weltkrieges verwickelten die Lage noch mehr durch das Anschwellen sozialer Gärungen, die das Land im Augenblick des Waffenstillstandes unmittelbar der Gefahr einer Revolution unter dem Einfluß des deutschen Nachbarn gegenüberstellten. So ist das schwere Ringen des Bundes um die Behauptung einer wirklichen Neutralität zwischen den das eigene Land durchsetzenden Gegensätzen ein dramatisches Beispiel für die Tiefe, mit der die neutralen Länder von der großen europäischen Krise in Mitleidenschaft gezogen wurden.


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