c. Einzelne Phasen der allgemeinen und diplomatischen Geschichte des Krieges.

Es handelt sich bei diesem Abschnitt ganz besonders um eine Fülle einzelner Studien von zum großen Teil nur beschränktem


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und vorübergehendem Wert. Das ist der Fall bei A. Pingaud's ( 1232a) Aufsatz, der die Diplomatie der Entente bis zum Londoner Abkommen vom 5. November 1914 darstellt. Sie weist auf wenig beachtete Themen hin, indem sie zeigt, daß der Gedanke, russische Truppen in Frankreich, japanische in Rußland zu verwenden, bereits unmittelbar nach Kriegsbeginn im Lager der Entente zur Erörterung gekommen ist. -- Eine dankenswerte, reiche Materialzusammenfassung gibt Fr. Recktenwalds Arbeit über die öffentliche Meinung Englands von 1914 bis 1916 ( 1234), die die erste Bildung der späteren englischen Kriegszielforderungen untersucht und zeigt, daß während der ersten Kriegsjahre in England noch vielfach relative Mäßigung vorhanden gewesen ist.

Italiens Eintritt in den Weltkrieg ist Gegenstand zweier Aufsätze. R. Kissling ( 1236) wertet österreichische und italienische Quellen, vor allem das neue italienische Generalstabswerk, aus, um die militärische Schwäche Italiens als Hauptgrund seiner Zurückhaltung bis zum Frühjahr 1915 zu beleuchten. -- O. v. Wertheimer ( 1238) hat eingehend das Material der Tiszabriefe zu einer Darstellung seines Verhaltens gegen Italien verarbeitet. Er vertritt den Standpunkt, daß seit Ausbruch des Weltkrieges die deutsche und österreichische Politik nicht mehr in der Lage gewesen sei, die Grundfehler wieder gutzumachen, die im Juli 1914 durch Berchtolds Schuld gegen Italien begangen worden seien.

R. J. Kerner ( 1240), der bereits die Liman v. Sanderskrise in einer gediegenen Studie behandelte, hat die neuen russischen Publikationen über die Meerengenfrage zu einer tüchtigen Abhandlung über das Verhältnis von Entente und Türkei bis zum J. 1915 ausgenutzt. Es fällt auf, daß er trotz der bekannten französisch-russischen Feststellungen annimmt, Sasonow habe in den ersten Kriegswochen tatsächlich ernsthaft ein Bündnis mit der Türkei erstrebt und sich mit der Offenhaltung der Meerengendurchfahrt für Rußland begnügen wollen. Die Darstellung der aus dem Plan der Dardanellenexpedition erwachsenen Spannung zwischen England und Rußland und ihr schließlicher Ausgleich in der Bewilligung der russischen Wünsche beruht dagegen auf einwandfreier Auswertung des vorhandenen Materials. -- Gleichfalls auf dem reichen Ergebnis der russischen Publikationen baut G. Frantz mit seiner angesichts bisheriger deutscher Zurückhaltung vor diesem Problem dankenswerten Zusammenfassung über die Verletzung der griechischen Neutralität im Kriege ( 1241) auf. Der Aufsatz beschränkt sich glücklicherweise nicht auf die völkerrechtliche Seite der Frage. Indem er eindringlich alles herausholt, was in den russischen Akten über die sehr schweren latenten Spannungen enthalten ist, die die Politik Rußlands, Italiens, Englands und Frankreichs gegenüber Griechenland belastet haben, liefert er einen willkommenen Beitrag zur inneren Geschichte der Entente im Weltkrieg.

Eine Reihe von französischen Aufsätzen zur Frage der Friedensmöglichkeiten im Weltkriege bringt leider keinen neuen Ertrag. Teils ( 1242) handelt es sich um Übersetzung bekannten englischen Materials, teils ( 1242a) trotz anspruchsvoller Ankündigung neuer Enthüllungen durch einen Sachkenner nur um Einführung eines französischen Publikums in das deutsche und österreichische Material zur Friedensfrage von 1916 bis 1918. -- Der Aufsatz von Mirkine-Guetzéwitsch ( 1243) über den Frieden von Brest-Litowsk behandelt die Motive der Leninschen Kapitulation von russisch-bolschewistischem Standpunkt


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her und betont die welthistorische Bedeutung des Friedensschlusses, der ganz nach der Absicht und Erwartung Lenins den Weg zu einer Rettung der russischen Revolution durch Zeitgewinn gebahnt hat. -- G. Schaumanns neue Studie über die deutsche Intervention in Finnland ( 1244) ist vor allem eine Auseinandersetzung mit der deutschen Arbeit des Vorjahres von F. Beyer, deren Materialwert sie mit geringen Ergänzungen anerkennt, während sie seine Grundthese, die Wertung des deutschen Eingreifens als völkerrechtlich zulässige Intervention bekämpft und durch Hervorhebung der politisch-militärischen Ziele Deutschlands ersetzen möchte.

Das Thema der Housememoiren ist erneut in zwei Aufsätzen von A. Vagts ( 1304/ 1305) behandelt, die ihn als typischen Vertreter amerikanischen Liberalismus ansehen möchten und gegen die Abhandlungen der letzten Jahre über die Papiere des Obersten keine neuen Züge beibringen.

Am wichtigsten ist schließlich die Literatur zu Waffenstillstand und deutschem Zusammenbruch. Das Büchlein des Generals Mordacq über den Waffenstillstand ( 1250) beklagt die relative Spärlichkeit der französischen Memoirenliteratur und ist, als Vorläufer einer Reihe weiterer angekündigter Beiträge, tatsächlich eine willkommene Erweiterung unseres Wissens über die französische Seite der Krise im Oktober und November 1918. M. ist damals militärischer Begleiter Clémenceaus gewesen und Träger der Verbindungen zwischen ihm und dem Hauptquartier Fochs. Aus nächster Kenntnis, mit der Tendenz, die heutige französische Kritik am Abschluß des Waffenstillstandes zu bekämpfen, schildert er seine technische Vorbereitung durch französische Heeresleitung und Regierung und betont vor allem, daß sein Abschluß 1918 auf allen Seiten, auch von Poincaré und ganz entschieden von Foch, mit dem Gefühl wirklicher Erleichterung aufgenommen worden ist. Die Memoiren zeigen, daß die Bedenken Haigs gegen die Härte der Waffenstillstandsbedingungen auch von Lloyd George energisch vertreten worden sind, und -- gegen die Meinung Pershings -- anfangs auch den Obersten House beeinflußt haben. -- Nur eine völkerrechtlich-moralische Kritik des Waffenstillstandes und seiner Durchführung enthält der Aufsatz von Marhefka ( 1272). -- Dagegen gibt das kleine Büchlein von V. Schiff ( 1251) von sozialistischem Standpunkt her den anschaulichen Bericht eines Augenzeugen über die Friedensverhandlungen von Versailles und den Unterzeichnungsbeschluß in Weimar, den O. Landsberg für das vorhergehende Ringen im Kabinett Scheidemann und Herm. Müller für die Unterschrift in Versailles ergänzt hat. -- Besitzt dies Büchlein so begrenzten, aber frischen Quellenwert, so ist Stern-Rubarths Buch über Brockdorff- Rantzau ( 1299) eine verständnisvolle Charakteristik des Grafen, die nach Mitteilungen von Augenzeugen, darunter dem Bruder des Verstorbenen, arbeitet. Im allgemeinen ist aber das Quellenfundament in der journalistisch-gewandten Darstellung untergegangen, so daß nur an wenigen Stellen ein wirklicher Zugang zum Material eröffnet wird. Die Darstellung von Brockdorff-Rantzaus historisch bedeutsamster Leistung als Friedensverhändler von Versailles bleibt in der Hauptsache in den Grenzen, die schon durch seinen eigenen Dokumentenbeitrag bekannt geworden sind. Immerhin ragt das Buch durch Ernst der Behandlung und vornehme Darstellungsform über die meisten Produkte seiner literarischen Kategorie erheblich heraus.

Zum inneren Zusammenbruch Deutschlands hat die Fortsetzung des Untersuchungswerkes


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des Reichstagsausschusses ( 1245) wieder drei beachtliche Beiträge gebracht. Die Frage nach der Bedeutung der Heeresmißstände hat in Gutachten von M. Hobohm und O. Volkmann diametral entgegengesetzte Beantwortung gefunden. Während Hobohm in der prinzipiellen Struktur des kaiserlichen Heeres, dessen Umwandlung zum wahren Volksheer im Weltkrieg unausweichliche Forderung hätte sein müssen, die Wurzel der sehr hoch bewerteten Mißstände findet, gibt Volkmann zwar das Bestehen einer ganzen Reihe schwer belastender Mißstände zu, sieht sie aber sehr viel stärker in der unmittelbaren Auswirkung der ungeheuren Ansprüche der Kriegszeit begründet. Auch methodisch steht er in schroffem Widerspruch zu der Arbeitsweise Hobohms. Der Wert des durch diesen Gegensatz der Standpunkte erschlossenen Materials ist auf jeden Fall wieder recht erheblich. -- Volkmann hat in einem weiteren Gutachten, dessen Gegenstück von Hobohm noch zu erwarten ist, auch die Annexionsfragen im Weltkrieg behandelt. Um richtige Beleuchtung der deutschen Kämpfe über diese Frage zu erlangen, ist mit dem heute freilich noch beschränktem Material der Vergleich zu den Kriegszielen der Ententeseite scharf durchgeführt worden. Volkm. vertritt in der Diskussion über die Friedensmöglichkeiten den Standpunkt, daß in den Jahren 1917/18 -- gleichgültig, ob die auch von ihm als wünschenswert bezeichnete deutsche Verzichtserklärung auf Belgien abgegeben wäre -- ein Statusquofrieden wahrscheinlich zu keiner Zeit zu erhalten war, da ihm stets der französische Anspruch auf Elsaß-Lothringen im Wege stand. Die Erörterung der innerdeutschen Entwicklung berücksichtigt auch die ersten Kriegsjahre mit ihrer fast allgemeinen Verbreitung offener oder verhüllter Annexionsneigungen bis in das sozialistische Lager eingehend. Als ernsteste Seite des ganzen Problems betrachtet er das Versagen der Reichsleitung, deren ohnmächtige, führungslose Haltung notwendig zu dem die Einheit der Nation erschütternden Kampfe um die Kriegsziele habe führen müssen.

Ursachen und Verlauf der Revolution hat Fr. Meinecke im Handbuch des Deutschen Staatsrechtes ( 1246) mit einer Fülle sorgfältig abgewogener Formulierungen behandelt, aus deren geschlossenen Bau Einzelnes herauszugreifen, hier nicht möglich ist. In größter Knappheit ist zu den wesentlichen historischen Problemen, den Fragen der Zwangsläufigkeit und individuellen historischen Bedingtheit, dem Zusammenwirken von Krieg und innerer Problematik des deutschen Staates, dem Ineinandergreifen von politischen und sozialen Antrieben Stellung genommen, stets mit maßvoller Ruhe und ernst zu beachtender Begründung des vertretenen Standpunktes. Die konservative Bedeutung der Revolution gegenüber der Gefahr eines bis auf die Wurzel gehenden sozialen Umsturzes ist, unter Betonung des sozialdemokratischen Anteils an diesem Ergebnis, sehr stark unterstrichen. -- Wertlos ist dagegen das französische Buch des Argentiners Labougle ( 1247) über die deutsche Revolution. Er hat zwar den Umsturz selbst auf deutschem Boden miterlebt, aber seine persönlichen Eindrücke sind recht oberflächlich. Die Niederschrift, bereits 1921 in Buenos Aires publiziert, stand den Ereignissen so nahe, daß eine klare Entscheidung zwischen Memoiren und historischer Darstellung nicht erfolgte. Die Sympathien des Verfassers gelten der gemäßigten demokratischen Revolution, während er gegen die radikalen Unterströmungen von leidenschaftlicher Ablehnung erfüllt ist.

Zur Geschichte der Revolution sind als Letztes noch eine Reihe biographischer


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Beiträge zu nennen. Das Buch über Hugo Haase von seinem Sohne Ernst ( 1302) ist vor allem zu beachten, weil es eine noch immer begrenzte, aber doch bei der Spärlichkeit intimen Materials zur Geschichte der Unabhängigen Sozialdemokratie unentbehrliche Anzahl persönlicher Briefe ihres Führers bringt. Sie zeigen, daß Haase im Grunde humanitärer Pazifist, keine revolutionäre Tatnatur war, und von den Ereignissen bis zum November 1918 persönlich fast immer überraschend getrieben wurde, obwohl andererseits auch der enge persönliche Zusammenhang mit den radikalsten Elementen des deutschen Sozialismus, damit der Doppelcharakter der USP. erneut bestätigt wird. Der Briefwechsel enthält auch die für die Anfänge der Partei klassische Formulierung, daß die USP. zwar nicht die Niederlage Deutschlands wünsche, aber von einem vollen Siege eine bedrohliche Verstärkung der inneren Reaktion fürchte. -- Die zehnjährige Wiederkehr von Eisners Todestag hat seinen Mitarbeiter Fechenbach ( 1301) zur Aufzeichnung von bedingungslos bewundernden Erinnerungen veranlaßt, die aber eine Fülle von Einzelmitteilungen über ihre Zusammenarbeit in Krieg und Revolution enthalten. -- Überaus geistreich und anziehend auch für den Vertreter eines anderen Standpunktes, ist die Charakteristik Eisners von Rob. Michels ( 1301), der den optimistischen Idealismus dieses »homo europaeus« mit innerster Sympathie behandelt, seine persönlichen literatenhaften Grenzen aber aus eigener Kenntnis doch ehrlich aufzeigt. Es ist von einem Standpunkt aus, der Eisners Persönlichkeit und Ideenwelt sehr positiv wertet, der heute lehrreichste Versuch, ihn verstehend zu begreifen. -- In den gleichen Kreis der bayrischen Revolution führen mit ihrem Abschluß auch die als Denkmal der geistigen Krise vor und im Weltkrieg inhaltreichen Briefe Gustav Landauers ( 1307), in dessen Korrespondenz mit Männern wie F. Mauthner, H. Bahr, M. Harden, M. Buber, H. von Hofmannsthal ein gut Stück deutschen Geisteslebens vor dem Kriege sich spiegelt. Innere Verwandtschaft hat ihn mit dem im Grunde ebenso idealistischen, wenn auch weniger tiefen Eisner zusammengeführt. Die nie verkennbare innere Grenzlinie, die beide Männer von jedem ökonomisch orientierten Sozialismus trennt, wird gerade durch die scharfe Kritik der Landauerschen Briefe an dem Parteileben der deutschen Sozialdemokratie sehr deutlich. Es war im Grunde eine von ihm selbst als fremd empfundene Welt, in die Landauer durch seinen hochfliegenden humanen Idealismus im November 1918 hineingerissen wurde. Er hat den Gegensatz zu den beherrschenden Kräften der Novemberrevolution bitter empfunden und die hieraus entstehende Hoffnungslosigkeit hat ihn auf immer radikalere Bahnen gedrängt, obwohl er ursprünglich ein sehr deutliches Empfinden besaß, daß der Machtdrang der bolschewistischen Bewegung seinen innersten Neigungen ebenso tief widersprach, wie der demokratische Parlamentarismus der Mehrheitssozialdemokratie.


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