§ 26. Rechts- und Verfassungsgeschichte bis 911

(M. Lintzel.)

In seinem Vortrag über germanische und slawische Staatsbildung (Bonn 1928) sucht H. Schreuer einen Einblick in das Wesen, sozusagen in die charakterologische Bedingtheit der Staatengründungen der Germanen zu vermitteln, wobei zum Schluß auch die der Slawen kurz gestreift werden. Schreuer vertritt dabei, indem er vor allem die germanischen Reichsgründungen mit denen der Romanen vergleicht, die These, daß eine langsame, wesentlich partikularistische Staatsbildung für die Germanen typisch sei. Wie die Zentralisierung nach innen, so fehle den germanischen Staaten die außenpolitische Stoß- und Expansionskraft. Im Grunde sei ihnen der Begriff der Staatsraison der Römer und Romanen fremd, er werde bei ihnen ersetzt durch das Vorwalten persönlicher Treuebindungen, die dem germanischen Individualismus Spielraum ließen. So interessant und lehrreich auch dieser Vortrag ist, man wird fast jeder seiner Thesen, und noch mehr ihren Begründungen widersprechen müssen. Es ist doch nicht möglich, wie es hier geschieht, etwa Großbritannien und die Vereinigten Staaten oder den Verfall der Kalmarer Union als Beispiele für einen germanischen Partikularismus in Anspruch zu nehmen. Und wie passen zu der These von der außen- und innenpolitischen Schwäche der germanischen Staaten etwa die Gründungen der Normannen oder die Geschichte des preußischen Staates? Schließlich kann doch auch die Entwicklung des englischen Weltreiches den Vergleich mit dem Imperium Romanum, dem die Germanen nichts zur Seite zu stellen haben sollen, aushalten. Von alledem aber abgesehen scheint Schreuer hier doch in den freilich häufig vorkommenden Fehler zu verfallen, von einigen historischen Daten auf die Naturanlage eines Volkes (hier gar einer »Rasse« mit all ihren Fragwürdigkeiten) schließen zu wollen, ohne genügend in Rechnung zu stellen, daß der Charakter eines Volkes mindestens so sehr durch seine Geschichte bedingt wird, wie diese durch ihn.

Eine ähnlich umfassende Synthese wie Schreuer, wenn auch in einer andern Richtung, versucht Wackernagel in seinem Vortrag über die geistigen Grundlagen des ma.lichen Rechts ( 1320). Während Schreuer die politischen Anlagen einer Rasse für ihre staatlichen Schöpfungen verantwortlich zu machen sucht, sucht Wackernagel in der geistigen Haltung einer Zeit das formende Element für die Gestaltung ihres Rechts. Die geistige Haltung des MA. charakterisiert er als konservativ, entwicklungsfeindlich, kollektivistisch und unintellektuell. Aus dieser Grundeinstellung werden verschiedene Eigenarten des ma.- lichen Rechts abgeleitet, sein Formalismus und seine Kasuistik, seine gedankliche und begriffliche Armut, auf der andern Seite aber die Plastik und farbige


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Prägnanz seiner Rechtssätze. Auf die unindividualistische Haltung des ma.lichen Geistes werden die überstaatliche Gemeinschaft der christlichen Völker, das Wesen der Kirche, die internationalen Standesbindungen, wie die des Adels, aber auch die strengen Bindungen in unterstaatlichen Gemeinschaften, wie im Zunftwesen und in der Familie, zurückgeführt. Daß man in diesen oft erörterten Dingen sehr vieles auch anders wird sehen können, versteht sich von selbst.

Geistesgeschichtliche, oder wie Stutz es genauer und besser nennt, historisch-psychologische Gesichtspunkte spielen auch die Hauptrolle bei der Erforschung eines einzelnen rechtshistorischen Problems in dem Vortrag, den U. Stutz auf dem Historikertag zu Oslo über die Beweisrolle im altdeutschen Rechtsgang gehalten ( 1347) und in dem Aufsatz, den R. Bechert demselben Gegenstand gewidmet hat ( 1348). In einem nachgelassenen Buche hatte E. Mayer-Homberg die herrschende Ansicht von dem Beweisvorzug des Beklagten im altdeutschen Recht bestritten und behauptet, die Tatsache, daß der Beklagte näher am Beweise gewesen sei, erkläre sich nicht aus seiner Bevorzugung; vielmehr sei er nur deshalb eher zum Beweis gekommen, weil man ihm ein genaueres Wissen über den Streitgegenstand zutraute, d. h. bei der Beweiszuteilung sei das ausschlaggebende Prinzip lediglich die Suche nach der Wahrheit gewesen. Demgegenüber hält Stutz an der bisher herrschenden Meinung fest, gibt für sie aber neue und tiefere Begründungen. Da der älteste Prozeß stets Strafprozeß gewesen sei, so müsse von diesem und seinen psychologischen Voraussetzungen ausgegangen werden. Aus dem Vorwurf des Verbrechens habe sich das sofortige Aktivwerden des Beschuldigten ergeben, dessen Waffe im Rechtsgang der Beweis, vor allem der Eid mit Helfern, später mit Zeugen war. Insbesondere, fordert Stutz, sei die Beschaffenheit der Gesellschaft, in der das Recht des Beklagten am Beweise erwuchs, zu berücksichtigen; in den kleinen, primitiven Verhältnissen dieser Gesellschaft trat alles zugunsten des Beklagten ein, dem man ein Verbrechen nicht zutraute, den man vielmehr, solange er unbescholten war, als unschuldig vorauszusetzen geneigt war. Der Sinn des Beweisvorzugs des Beklagten seien also nicht, wie Mayer-Homberg annahm, prozessualer Rationalismus und Wahrheitsermittlung, sondern Schutz des Beklagten gewesen. -- Gleichfalls zur Ablehnung der These Mayer-Hombergs kommt Bechert in seinen nicht gerade übersichtlich gehaltenen Darlegungen, in denen er übrigens auch das angelsächsische Recht eingehender berücksichtigt. Er vertritt dabei den Gesichtspunkt, daß jeder Prozeß ein Streit gewesen sei, und zwar ein Streit mit bestimmten Kampfregeln, bei dem es nicht darauf ankam, die reine Wahrheit ans Licht zu bringen, sondern die Ehre des beklagten Mannes zu retten. Wenn Bechert also auch zu demselben Ergebnis kommt wie Stutz, die Wege seiner Argumentation sind, wie man sieht, andere. Und wie sehr er gar in den historisch-psychologischen Voraussetzungen dieser Argumentation von Stutz abweicht, wird dadurch deutlich, daß Bechert im Gegensatz zu ihm behauptet, in den engen Gesellschaftsverhältnissen des altdeutschen Rechts habe eine Beschuldigung mehr Vertrauen verdient als ihre Bestreitung.

Das Verlangen nach geistesgeschichtlicher Fundierung der Rechtsgeschichte scheint sich mehr und mehr Bahn zu brechen. Nicht bloß in den eben genannten Arbeiten, auch in anderen, im folgenden zu besprechenden, finden sich dahin deutende Gesichtspunkte, ohne daß im einzelnen immer darauf hingewiesen


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werden könnte. Dabei ist häufig auffällig, daß die geistesgeschichtliche Betrachtung gern aufbaut auf dem Versuch einer Durchdringung verhältnismäßig weiter und großer historischer Komplexe; bei dieser, wenn man so sagen darf, Großzügigkeit wird man aber meist das Gefühl nicht los, als bewege man sich doch noch auf sehr schwankendem Boden; die Begriffe und Methoden erscheinen unsicher, die Ergebnisse unklar, und häufig scheinen genau entgegengesetzte Folgerungen aus gleichen Tatsachen dieselbe Berechtigung zu haben. So begründet der Ruf nach der Geistesgeschichte in der Rechtsgeschichte sein mag, die Zeit der Synthese für die Geistesgeschichte des MA. ist eben noch nicht gekommen; und ehe von einer geistesgeschichtlichen Erfassung des MA., und damit auch der Rechtsgeschichte des MA. die Rede sein kann, wird es einer Forschung bedürfen, die an Detailarbeit der historisch-philologischen Kritik des abgelaufenen Jhs. nichts nachgibt, einer Forschung, für die etwa die Art der Fragestellung in Stutz' Vortrag oder das im vorigen Bericht angezeigte Buch von A. Schultze über Augustin und den Seelteil im germanischen Erbrecht Beispiele bieten.

Zu dem eben erwähnten Buch hat Schultze noch einige Zusätze veröffentlicht ( 1346), die sich besonders auf die Stellung Augustins zum Kopfteilsfreiteil beziehen und den Gedanken von diesem Freiteil als geistiges Eigentum Augustins nachweisen, bei dem eine Abhängigkeit von den Gedankengängen der adoptianischen Christologie ganz unwahrscheinlich sei. -- Während Wohlhaupter (ebenda) in seiner Besprechung allen Ergebnissen des Schultzeschen Buches vorbehaltlos zustimmt, erhebt F. Beyerle (ebenda) bei aller Anerkennung, die er dem Werk zollt, einige Einwendungen. Er lehnt die Annahme von kirchlichen Einflüssen auf den Freiteil des burgundischen und westgotischen Rechts ab. Wenn der kirchliche Einfluß auf die übrigen germanischen Rechte auch zugegeben wird, das Einwirken gerade Augustinischer Gedankengänge auf sie wird gleichfalls bestritten. Wenn darin die Einwendungen Beyerles hinsichtlich des fränkischen Dritteilsrechts auch begründet sein dürften, so scheint er im übrigen doch nicht genügend zu berücksichtigen, daß Schultze ja gar nicht einen direkten Einfluß Augustins auf die germanischen Rechte annimmt, sondern nur meint, daß die kirchlichen Anschauungen, die in die germanische Gesetzgebung eindrangen, von der Kirche aus Augustins Gedankengängen übernommen worden seien. Und dieser indirekte Einfluß Augustins wenigstens auf die Gestaltung des Kopfteilsfreiteils bei den Germanen scheint mir von Schultze doch schlüssig nachgewiesen zu sein. -- Ein Thema, das sich, wenn auch nur äußerlich, in mancher Hinsicht mit dem des Schultzeschen Buches berührt, behandelt R. His ( 1354), indem er den Totenglauben in der Geschichte des germanischen Strafrechts untersucht. Er führt dabei aus verschiedenen Rechtsgebieten und verschiedenen Zeiten Rechtssätze und Rechtshandlungen an, nach denen noch der Tote für ein von ihm begangenes Verbrechen bestraft oder für ein an ihm begangenes Verbrechen gerächt oder entschädigt wird, wobei freilich nicht nur der Gedanke, daß dem Toten sein Recht werden sollte, sondern auch Abwehrmaßnahmen gegen die Wiederkehr des Toten eine Rolle spielten. -- In dem Büchelchen über die Gottesurteile durch Gifte gibt Lewin ( 1355) eine Zusammenstellung einiger Einzelheiten des Ordalwesens aus aller Welt ohne den Versuch einer geschichtlichen Durchdringung. Für den Rechtshistoriker ist daran die negative Feststellung von Belang,


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daß Gottesurteile durch Gifte in Europa dem Verfasser nicht bekannt geworden sind.

Das Buch von Schultze befaßte sich mit dem Eindringen christlich-augustinischer Anschauungen in das germanische Recht. Das Problem der Rezeption fremden Rechts überhaupt, und besonders das des römischen im deutschen Recht, behandelt Herbert Meyer in seiner Rektoratsrede über Recht und Volkstum ( 1321). Er stellt dabei fest, daß es sich sowohl bei der Rezeption zur Zeit der Volksrechte, wie bei der im Ausgang des MA. um eine organische Entwicklung gehandelt habe, insofern, als in die fremden Formen der Geist des deutschen Rechts geflossen sei. Von dieser organischen Entwicklung sei in den Bestrebungen und in den Erfolgen der Romanisten bei der Weiterentwicklung des deutschen Rechts im letzten Jahrhundert weniger zu bemerken. Die Aufgabe der Gesetzgebung aber sei, sich mit dem Geist der deutschen Rechtsgeschichte vertraut zu machen, um aus ihm das Recht der Gegenwart zu schöpfen. -- Einen Sonderfall der Rezeption behandelt Lear ( 1356), indem er das Crimen laesae majestatis in der Lex Romana Wisigothorum behandelt; er betont, daß das Recht der Römer im Westgotenreich das Durchgangsstadium für die Übernahme des römischen Begriffs des Majestätsverbrechens in das germanische Recht gewesen sei, wobei jener Begriff einen viel weiteren Umfang angenommen habe, als er ursprünglich besaß.

Die Frage, in welchem Verhältnis die staatlichen und rechtlichen Einrichtungen der fränkischen Zeit zum römischen Recht standen, bildete seinerzeit einen der wesentlichsten Punkte, in denen die Ansichten Brunners und Fustel de Coulanges differierten. Die von Cl. von Schwerin besorgte Neuauflage des zweiten Bandes von Brunners Rechtsgeschichte nimmt Blécourt zum Anlaß, Fustel de Coulanges und seine von Brunner nicht angenommenen Ansichten gegen Brunners Anschauungen über die Germanen und ihr Recht zu verteidigen ( 1324). Daß ähnliche Ansichten, wie sie Fustel vertrat, jetzt von Dopsch und seiner Schule verfochten werden, ist bekannt, freilich auch, daß deshalb noch längst nicht, wie Blécourt annehmen möchte, zugunsten der Ansichten Fustels entschieden ist. Neben anderen Sonderbarkeiten der Abhandlung Blécourts erscheint am sonderbarsten seine Behauptung, dafür, daß Brunner trotz Fustel an seinen Anschauungen über die germanische Demokratie, das germanische Gerichtswesen, den Agrarkommunismus und die fränkische Markgenossenschaft festgehalten habe, sei Brunners Chauvinismus verantwortlich zu machen, eine Verdächtigung, gegen die Brunner wohl nicht besonders in Schutz genommen zu werden braucht. -- Das auch bei Fustel hervortretende Bestreben, die Rechtsbildungen der Germanen als von fremdem Recht möglichst abhängig zu erweisen, hat eine eigenartige Blüte in den Untersuchungen von Meijers über das ligurische Erbrecht ( 1350) getrieben. Meijers geht davon aus, daß bestimmte Sätze des Erbrechts in gewissen Gegenden Europas mit den römischen und germanischen und also, wie er etwas voreilig schließt, indogermanischen Anschauungen unvereinbar seien. Sie finden sich nach Meijers in Teilen Norditaliens, der Schweiz, Österreichs, Frankreichs, Nordspaniens, der Niederlande, Polens und Preußens, und Meijers weiß ihre Entstehung und ihr Aufkommen in diesen weitauseinanderliegenden Gebieten nicht anders zu erklären, als mit Hilfe der praehistorischen Ligurer, die dieses Erbrecht geschaffen und sich oder doch dies Recht in jenen Gegenden gegen die indogermanischen Eroberer


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einigermaßen behauptet haben sollen. Eingehend untersucht und zu beweisen versucht ist diese These einstweilen nur für die Alpenländer und Westbrabant. Demgegenüber betont H. Meyer (ebenda), so sehr er den Wert des beträchtlichen Materials, das Meijers angesammelt hat, für die Förderung der germanischen und indogermanischen Rechtsgeschichte anerkennt, doch die völlige Haltlosigkeit seiner Hauptthese: Die Ligurer, von denen man nicht einmal weiß, wo sie wohnten und ob sie wirklich keine Indogermanen waren, von denen man aber sehr wohl weiß, daß sie auf einer äußerst niedrigen Kulturstufe standen, kommen als Schöpfer jener komplizierten Erbrechtssätze keinesfalls in Frage. Für ihre Entstehung, zumal da sie durchaus nicht so einheitlich und ausschließlich, wie Meijers annimmt, auftauchen, dürften ganz andere, vor allem wirtschaftliche Gründe maßgebend gewesen sein.

Einen klaren Überblick über die rechtsgeschichtliche Forschung der letzten Jahrzehnte an einem der wichtigsten Teile des frühmittelalterlichen Familienrechts, der Eheschließung, gibt K. Frölich ( 1349), wobei er vor allem beabsichtigt, die Fragestellungen und das Material der rechtshistorischen Forschung für die Bedürfnisse der Volkskunde und der Literaturgeschichte zugänglich zu machen, um so einem Zusammenarbeiten der verschiedenen Disziplinen entgegen zu kommen. Er hebt dabei mit Recht die grundlegenden Untersuchungen von H. Meyer über Friedelehe und Mutterrecht, die über das Verhältnis von Friedelehe und Muntehe und damit überhaupt über die Entwicklung des Eherechts ganz neue Aufschlüsse geben, besonders hervor.

Die Untersuchungen, die sich mit der Geschichte der Rechtsquellen speziell befassen, beschränken sich in diesem Berichtsjahr auf Caesar und Tacitus und auf die Volksrechte.

Seit E. Nordens bekanntem Buch über die Germania ist die Diskussion über die römischen Quellen zu den urgermanischen Verfassungsverhältnissen nicht abgerissen. Wenn Koehne ( 1326) Caesars Bericht als sozialpolitische Tendenzschrift und mit ihm den Agrarkommunismus der Germanen wieder einmal völlig abgelehnt hat, so macht demgegenüber Kötzschke (ebenda) mit Recht geltend, daß dieses Verdikt methodisch fehlerhaft gewonnen ist, daß sich eine alles fälschende Tendenz bei Caesar nicht nachweisen läßt, und daß die Untersuchung über den germanischen Agrarkommunismus auf breiterer Grundlage, als es bei Koehne geschieht, geführt werden muß. Dasselbe betont K. Haff (ebenda), indem er hervorhebt, daß die nordischen Quellen, die indirekt Caesars Bericht bestätigen, von Koehne überhaupt nicht berücksichtigt worden sind. In einem kurzen Widerspruch gegen die Lehren von Dopsch und seiner Schule hält Haff ( 1327) ausdrücklich an der germanischen Markgenossenschaft und der germanischen Feldgemeinschaft, wie sie sich aus Caesars und Tacitus Berichten ergibt, fest. -- Zu einer noch weitergehenden Rettung der Germania kommt O. Peterka ( 1325) gegenüber dem kritischen Radikalismus, der sich neuerdings so gern an Tacitus versucht. Er geht unter Beiseitelassung der Frage nach ihrer quellenmäßigen Herkunft die einzelnen rechts- und verfassungsgeschichtlichen Angaben des Tacitus durch und gelangt zu dem Resultat, daß die Germania, wenn sie auch Lücken hat und mit römischen Augen sieht, im wesentlichen doch der rechtsgeschichtlichen Forschung standgehalten hat.

Abgesehen von Besprechungen des Buches von Heck über die Lex Frisionum


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durch von Schwerin und F. Beyerle ( 1330), in denen die methodologischen Gesichtspunkte Hecks bis zu einem gewissen Grade anerkannt werden, in denen aber seine Ansicht von der einheitlichen Neuschöpfung der Lex auf dem Aachener Reichstag 802 abgelehnt wird, konzentriert sich das Interesse der Forschung über die Volksrechte auf die süddeutschen Leges.

Der Kampf um die Frage des Ursprungs der oberdeutschen Volksrechte hat neuerdings seinen Anfang bekanntlich vor allem mit der Kritik Kruschs an der von Schwindschen Ausgabe der Lex Baiuwariorum genommen. Dabei hatte Krusch die Abhängigkeit der Lex Baiuw. von der Lex Alemannorum und die Entstehung beider Volksrechte sowie der Lex Ribuaria in der Zeit Karl Martells behauptet. Während F. Beyerle und E. Mayer ihm sofort widersprachen, stimmte K. Beyerle ihm im wesentlichen zu, indem er die Lex Baiuw. in der von Krusch angenommenen Zeit entstanden sein ließ, freilich als die westgotisches Recht nach Bayern hineinschmuggelnde Privatarbeit des Pirminschülers Abt Eberswind von Niederaltaich (vgl. 1331). Diese Ansicht wurde von K. A. Eckhardt akzeptiert: Auch er läßt die Lex Baiuw. von dem Abt Eberswind, und zwar ums Jahr 741 verfaßt werden, allerdings im offiziellen Auftrag des Herzogs Odilo von Bayern (vgl. dazu auch 1329). Einer weniger im Mittelpunkt des Streits stehenden Frage hatte sich F. Beyerle im vorigen Berichtsjahre zugewandt, indem er die Lex Ribuaria in ihren wesentlichen Teilen gegen Krusch wieder in die Merowingerzeit, und zwar in die Jahre um 623 oder 634 zurückverlegte. Diesmal werden die Hauptobjekte des Kampfes, die Lex Baiuw. und die alemannischen Rechte von E. Mayer ( 1332) und von F. Beyerle ( 1328) in ziemlich umfangreichen Schriften behandelt, in denen sie ihre von Krusch abweichenden Ansichten eingehend begründen.

E. Mayer vergleicht die Verwandtschaftsbeziehungen der Texte der Lex und des Pactus Alem., der Lex Baiuw. und des Edikts Rotharis untereinander und kommt zu dem Resultat, daß allen vier Quellen eine Rechtsquelle zugrunde gelegen habe, die in Oberdeutschland vor 643, dem Jahr des Abschlusses von Rotharis Edikt, entstanden sei. In dieser Rechtsquelle, deren Inhalt nach den Parallelen der vier abgeleiteten Quellen erschlossen wird, werden eine jüngere und eine ältere Schicht unterschieden. Die jüngere Schicht, Novellenmasse I genannt, trage weltlichen Charakter und handle vor allem von der Stellung des Herzogs, setze dabei aber ein starkes Königtum voraus. Sie läge vor der mit ihr verwandten Lex Ribuaria, die Mayer mit F. Beyerle der Zeit des Unterkönigtums Sigiberts III. zuschreibt. Unter burgundischem und westgotischem Einfluß stehend, soll die Novellenmasse I auf dem Reichstag von Bonneuil 616 erlassen worden sein. Auf die ältere vor der Novellenmasse I liegende Schicht, den Grundtext x, werden die bekannten Angaben des Prologs »Moyses gentis Hebraeorum« angewandt, und danach wird ihre Entstehung bis in die Zeit Theudeberts I., der im Prolog mit Theuderich I. vertauscht worden sei, zurückverlegt. Nachdem aus der durch das Zusammenfließen des Grundtextes x und der Novellenmasse I entstandenen Quelle das Edikt Rotheris entlehnt hatte, sei zu jener Quelle die Novellenmasse II hinzugekommen, die besonders kirchenrechtliche Bestimmungen enthielt. Sie sei ein durch fränkische Synoden stark beeinflußtes Königsgesetz gewesen, das den Angaben des Prologs entsprechend wohl in den letzten Jahren Dagoberts I. zustande gekommen sei. Auf dieser Stufe habe die Rechtssammlung an den Pactus abgegeben, der ursprünglich ein


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viel umfassenderes Gesetz war, als die erhaltenen Fragmente darstellen. Später, um 730 ist auf seiner Grundlage unter Herzog Landfrid die Landfridana entstanden, die in Karolingischer Zeit dann noch die Umarbeitung zu dem Emendatatext der Carolina erfahren hat. In Bayern, wo eine dem Pactus entsprechende Stufe fehlt, sei aus den vor ihm liegenden Grundlagen unter Herzog Hugbert, 728--737, die Lex Baiuw. erwachsen; dabei trete noch einmal, wie schon in der Novellenmasse I, Abhängigkeit vom westgotischen Recht hervor, die sich jedoch vor allem auf kirchliche Phrasen beschränke; die Bearbeitung der Lex habe demnach offenbar in den Händen eines Geistlichen aus Spanien oder dem gallischen Westgotenland gelegen. Diese Hugbertsche Redaktion sei dann in einer karolingischen Emendata noch einmal bearbeitet worden.

Während Mayer vor allem durch Vergleich der Legestexte untereinander zum Ziele kommt und dabei einzelne Vorstufen der Volksrechte herausstellt und ihrem Inhalt nach genau zu bestimmen sucht, verfährt F. Beyerle mehr in der Weise, daß er einzelne Bestimmungen der Leges auf ihr historisches Kolorit untersucht, um so zu einer Datierung zu gelangen, wobei übrigens viel neue und interessante Gesichtspunkte und Aufschlüsse über die staatliche und kirchliche Geschichte der Merowingerzeit hervortreten. Er kommt zu etwa folgenden Ergebnissen: Die Landfridana ist zwischen 710 und 720, die Antiquafassung der Lex Baiuw. unter Herzog Odilo 741--743 entstanden. Die Frage, ob eine gemeinsame Grundlage beider Volksrechte anzunehmen sei, wird offengelassen, doch sei wahrscheinlich der Euricianus Vorlage für beide gewesen, aus dem sie auf getrennten Wegen geschöpft haben. In ihren wesentlichen Bestandteilen müssen aber beide Volksrechte schon in der früheren Merowingerzeit entstanden sein. Besonders nach den Bestimmungen über Kirche und Herzogtum sollen beide dem 6. und 7. Jh. angehören, und zwar liege die Lex Baiuw. vor 614, die Lex Alem. nach 614. Auch F. Beyerle legt den Angaben des Prologs »Moyses gentis Hebraeorum« großes Gewicht bei; er datiert ihn auf die zweite Hälfte des 7. Jhs., und seine Angaben über die Gesetzgebung der früheren Merowingerkönige werden als richtig angesehen. Nur für den Theuderich des Prologs möchte Beyerle ebenso wie Mayer Theudebert setzen, unter dessen Regierung also die ältesten Aufzeichnungen der oberdeutschen Volksrechte fallen sollen.

Die Ergebnisse von E. Mayer und F. Beyerle decken sich demnach im wesentlichen; und sie scheinen dadurch, daß beide Forscher auf getrennten Wegen zu ihnen kommen, an Festigkeit zu gewinnen. Aber dabei ist doch nicht zu verkennen, daß sie sich im einzelnen häufig gründlich widersprechen. Die Ansicht, daß die beiden süddeutschen Volksrechte auf Vorstufen aus der frühen Merowingerzeit zurückgehen, wird als gesichert gelten können. Welcher Zeit aber ihre einzelnen Bestimmungen zuzuweisen sind, wie der Einfluß der andern germanischen Volksrechte, besonders des westgotischen, auf sie eingewirkt hat, wie sich die Leges zu den fränkischen Kapitularien und wie sich ihre Umarbeitungen zu ihren eigenen angeblich veralteten Bestimmungen verhalten, all das wird man trotz des reichen Inhalts der beiden Schriften als noch ungelöste Fragen ansehen müssen.


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